# taz.de -- Online-Akademie in der Coronakrise: Andere Krise, gleiche Lösung
       
       > Die Off-University wurde als Antwort auf die Repressionen der türkischen
       > Regierung gegen Akademiker gegründet. Auf die digitale Lehre in
       > Coronazeiten ist sie gut vorbereitet.
       
 (IMG) Bild: Viele Unis traf es unvorbereitet, alle Kurse aufgrund von Corona online zu organisieren
       
       Aufgrund des Coronavirus sind zahlreiche Hochschulen überall auf der Welt
       plötzlich dazu gezwungen, ihre Kurse online zu gestalten. Die gesamte Lehre
       zu digitalisieren, traf viele Unis unvorbereitet, auch wenn viele
       Wissenschaftler*innen seit Jahren Video- und Unterrichtsplattformen im
       Internet nutzen. Die Berliner Hochschulen starten am 20. April in das
       digitale Sommersemester – ein Schritt, der die Universitäten vor eine große
       Herausforderung stellte.
       
       Knapp zwei Millionen Euro hat etwa die Humboldt-Universität investiert, um
       ihre Lehre zu digitalisieren. Der Vizepräsident für Forschung der HU
       Berlin, Peter Frensch, äußerte die Hoffnung, dass dieser „sehr unerwartete
       Schub in der Digitalisierung“ zu einer „systematischen Einführung von
       Digitalisierung in Forschung, Lehre und Administration der Universität“
       führe.
       
       Wie der Lehrbetrieb komplett digital funktionieren kann, zeigt die
       Off-University im Kleinen. Die Online-Akademie wurde vor drei Jahren als
       Antwort auf ein anderes gesellschaftliches Problem gegründet: die
       Repressionen der türkischen Regierung gegen die Akademiker*innen für den
       Frieden.
       
       Julia Strutz, eine der Gründerinnen der Plattform, erklärt, dass die
       Digitalisierung für gefährdete Akademiker*innen die Möglichkeit biete,
       staatliche Kontrolle und Zensur zu umgehen. In Zeiten globaler Krisen sei
       digitale Bildung ein Modell mit Chancen und Gefahren. “Auch wenn unsere
       Probleme vielleicht nicht die gleichen sind, die Lösungen bringen uns
       zusammen,“ sagt die Historikerin.
       
       ## Für die Studierenden ist der Unterricht kostenlos
       
       Die Off-University wurde 2017 von einer Gruppe von Wissenschaftler*innen
       gegründet, die aufgrund des politischen Drucks die Türkei verlassen mussten
       und nach Deutschland gekommen sind. Während des Ausnahmezustands, der nach
       dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 ausgerufen wurde, waren hunderte von
       Wissenschaftler*innen, die einen Friedensaufruf unterzeichnet hatten, mit
       Dekreten aus ihren Positionen entlassen worden. Dadurch verloren sie nicht
       nur das Recht, ihren Beruf auszuüben, sondern auch ihre soziale Sicherheit
       und ihre Pässe.
       
       Manche von ihnen gingen nach Deutschland. Andere konnten oder wollten das
       nicht. Um ihren Kolleg*innen zu helfen, ihre Arbeit fortzuführen und auch
       finanzielle Unterstützung anbieten zu können, entschieden sich die
       Akademiker*innen im deutschen Exil, eine Online-Plattform zu gründen. Hier
       sollten die entlassenen Wissenschaftler*innen unterrichten können, die
       aufgrund der politischen Repressionen keine Arbeit mehr an einer
       Universität bekamen. So entstand die “Organisation für den Frieden“, kurz
       Off-University.
       
       Eines der Hauptziele sei es gewesen, den Akademiker*innen, die unter
       politischem Druck stehen, ein monatliches Gehalt zu zahlen, das ihnen ein
       Überleben ermöglicht, sagt Tuba İnal Çekiç, die zum Gründerteam gehört.
       Rechtlich gesehen ist die Off-University ein gemeinnütziger Verein mit Sitz
       in Berlin, finanziert wird sie durch Projektanträge und Fonds. Für die
       Studierenden ist der Unterricht kostenlos.
       
       Um sich für Kurse anzumelden, spielt es keine Rolle, welchen Abschluss man
       hat, alle sind berechtigt teilzunehmen. Nach erfolgreichem Abschluss des
       Kurses kann das ausgestellte Teilnahmezertifikat durch eine deutsche oder
       amerikanische Universität im eigenen Studienprogramm angerechnet werden.
       
       ## Ein sicherer Hafen
       
       Der politische Druck, auf den hin die Plattform gegründet wurde, ist
       gleichzeitig inhaltliche Agenda. Im Vordergrund stehen vor allem
       Geisteswissenschaften. Bereiche wie Gender Studies und kritische Friedens-
       und Konfliktforschung bilden den Schwerpunkt. Die meisten Kurse finden auf
       Englisch statt. Bis heute haben mehr als 1.400 Menschen an den Kursen der
       Off-University teilgenommen; seit 2019 versucht das Projekt zudem, auch
       Wissenschaftler*innen außerhalb der Türkei zu erreichen, die unter
       politischen Druck stehen.
       
       Um die Studierenden zu schützen, bietet die Off-University die Möglichkeit,
       auf der Lernplattform Coworking Squares unter Pseudonym untereinander und
       mit den Lehrenden zu kommunizieren, ohne die Identität preiszugeben.
       Während Akademiker*innen in der Türkei, die in der Corona-Epidemie
       angefangen haben, ihre Kurse online zu geben, über geringes Interesse
       klagen, bleiben laut Tuba İnal Çekiç aus dem Vorstand der Off-University
       beachtlich viele Teilnehmer*innen nach dem ersten Kurs dabei.
       
       İnal Çekiç führt das darauf zurück, dass die Off-University viel Wert auf
       Austausch und gemeinsame Projektarbeiten lege, die eine Gemeinschaft der
       Studierenden entstehen lassen. Zudem würden die Studierenden in ihrem
       Lernen auch außerhalb des Unterrichts durch die Mitarbeiter*innen
       unterstützt. Auch die Idee der Off-University führe zu einem großen
       Solidaritätsgefühl bei allen Beteiligten. Die Professorin für Stadt- und
       Regionalplanung war selbst dazu gezwungen, ihre wissenschaftliche Tätigkeit
       in der Türkei auf Grund des politischen Drucks aufzugeben. Für sie ist die
       Möglichkeit der Online-Kurse wie “ein sicherer Hafen, in den wir uns vor
       den autoritären Staaten und den Visumszwängen retten können.“
       
       Eigentlich gibt es das Fernstudium in der Türkei bereits seit rund 40
       Jahren. Nach dem Militärputsch 1980 wurde eine an die Anadolu Universität
       angebundene Fernstudium-Fakultät gegründet, um die Zahl der
       Hochschulabsolvent*innen zu erhöhen, ohne das Universitätsnetz auszubauen.
       Auch dass der Campus in den Augen des Staats eine Keimzelle der
       Politisierung von Studierenden war, spielte eine Rolle für die Gründung.
       
       Diese Institution, die lange über die Fernsehkanäle Wissen im Einklang mit
       der offiziellen Ideologie vermittelte, entwickelte sich mit der Zeit zu
       einer Plattform mit qualifizierten visuellen und schriftlichen Materialien.
       Doch auch diese Fakultät fiel der Umgestaltung der Universitäten in der
       AKP-Ära zum Opfer. Veröffentlichungen und Artikel von Akademiker*innen, die
       per Dekret entlassen worden waren, wurden aus den Datenbanken entfernt.
       
       ## Wissenschaft unabhängig von autoritären Staaten
       
       Die neu gefundenen Lösungen bringen jedoch auch auch Probleme mit sich,
       allen voran die digitale Kontrolle und Datensicherheit. Die politische
       Situation, aus der die Off-University entstanden ist – staatlicher Druck
       und Verfolgung – hat dazu geführt, dass die Akademiker*innen an der
       Onlineakademie besonders auf Datenschutz und dessen technische Grundlagen
       achten. Mitbegründerin Strutz sieht die gewöhnlichen E-Learning-Plattformen
       als riesige Datenkraken, die unter dem Vorwand der Nutzerfreundlichkeit
       unglaubliche Datenmengen sammeln.
       
       Aus diesem Grund erstellten sie Coworking Squares, ihre eigene
       Lernplattform. “Wir sammeln keine Daten, ohne dass die Studierenden davon
       wissen. Es ist auch möglich, anonym an unseren Kursen teilzunehmen. Wir
       wollen die Studierenden nicht kontrollieren“, erzählt Strutz. „Die meisten
       Plattformen zeichnen genau auf, mit welcher Aktivität die Studierenden
       wieviel Zeit verbracht haben. Wir müssen das nicht wissen. Wir sehen die
       Teilnehmer*innen als Erwachsene auf Augenhöhe, die etwas lernen wollen und
       mit denen wir gemeinsam diskutieren und nachdenken möchten.“
       
       Berichte über Kurse auf kommerziellen E-Learning-Plattformen, die gehackt
       wurden und rassistischen Angriffen ausgesetzt waren, zeigen, dass sich die
       Plattformen nicht nur gegen autoritäre Regime wappnen müssen, sondern auch
       gegen die Angriffe von Einzelnen. Da die Daten der Off-University auf den
       eigenen Servern bleiben, sind sie sicher vor Missbrauch.
       
       Hier unterscheide sich die Off-University von Plattformen wie Zoom oder
       Hangout, sagt Strutz. Studierende und Lehrende müssten sich darüber bewusst
       werden, wie viele Daten die kommerziellen Plattformen sammeln und wie diese
       weiterverwendet werden können, betont sie.
       
       In welchem Ausmaß das Coronavirus das gesellschaftliche Leben verändern
       wird, ist momentan noch schwer abzuschätzen. Im Bereich der Bildung ist
       jedoch klar, dass die Veränderungen nicht nur Einschränkungen mit sich
       bringen, sondern auch zahlreiche Möglichkeiten. Für Dozent*innen und die
       Universitäten ist es eine Gelegenheit, Erfahrungen mit den digitalen
       Werkzeugen zu sammeln und ihre Vor- und Nachteile besser zu verstehen.
       
       Die Off-University ist ein Beispiel dafür, wie gemeinsam mit Institutionen
       und Wissenschaftler*innen aus der ganzen Welt zusammengearbeitet werden
       kann, wie Wissenschaft auch unabhängig von Marktzwängen und staatlicher
       Kontrolle funktionieren und das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden
       neu definiert werden kann.
       
       Aus dem Türkischen von Julia Lauenstein
       
       20 Apr 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Aysuda Kölemen
       
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