# taz.de -- Herausforderung für die Kunst: Kreativität in der Isolation
       
       > Ist es nicht ein Gewinn, wenn sich neue Formate für Theater und Kunst im
       > Netz entwickeln werden? Auch wenn sie dabei noch am Anfang stehen.
       
 (IMG) Bild: Noch kein neues Format: „Schwanensee“ im Online-Angebot des Bolschoi Theaters in Moskau
       
       Auf den Rausch der Zusammenkunft im Theater und das gemeinsame sinnliche
       Erleben wird man womöglich noch bis zum Herbst warten müssen. Das
       Aufstöhnen des Sitznachbarn und das gemeinsame Luftanhalten im Moment der
       Spannung – es gibt sie nur im Analogen, die Momente der Unmittelbarkeit,
       die uns als Zuschauer so sehr berühren. Ins Netz gestellte Inhalte können
       das analoge Erlebnis nicht ersetzen. Die Institutionen, wie die Theater und
       Museen, glauben selbst nicht daran.
       
       Es kann also von Ersatz nicht gesprochen werden, wenn es um Kunst und
       Kultur im digitalen Raum geht. Es wird kein Platz eingenommen, der besetzt
       ist. Es wird ein neuer Platz freigegeben. Es ist ein Platz, der keine
       physische Anwesenheit einfordert, und darin liegt sein Potenzial.
       
       Im Umstand, dass künstlerische Inhalte plötzlich frei für jeden im Netz zur
       Verfügung stehen, steckt auch die Perspektive auf eine Gesellschaft, in
       der Kunst und Kultur nicht den Marktmechanismen ausgeliefert sein müssen.
       Das allein hebelt den Markt nicht aus und das macht die digitalen
       Plattformen weder egalitär noch wertneutral, wie [1][Uwe Mattheis in seinem
       Text „Hört auf zu streamen“] richtig feststellte. Aber reicht das aus, um
       das Internet als neu zu entdeckenden Raum zu verdammen? Bedeutet das
       Internet per se eine neue Stufe der Ausbeutung im Kunstbetrieb?
       
       Egal ob digital oder analog, um leben zu können, müssen Kunstschaffende
       ihre Kunst „verwerten“ und sind abhängig von ihrem Einkommen. Wie viel Wert
       dabei abgeworfen wird, ist, wie in der Marktwirtschaft üblich, relativ
       unabhängig von der investierten Arbeit. Daraus abzuleiten, dass sie deshalb
       ihr Werk nicht jenen zur Verfügung stellen sollten, die sonst keinen Zugang
       zu ihrem Werk haben, um sich selbst vor Ausbeutung zu schützen, geht am
       eigentlichen Problem vorbei. Die Kritik müsste stattdessen die
       Produktionsbedingungen zum Ziel haben, in denen Kunst zur Ware wird.
       
       ## Teilhabe vergrößern
       
       Dass Menschen, die es sich nicht leisten können, zu Theaterinszenierungen
       zu reisen, in Zeiten der Coronakrise digitalen Zugriff auf Kulturgüter
       erhalten können, die ihnen bislang verwehrt waren, ist absolut
       wünschenswert – unabhängig davon, dass die Bedingungen dafür die Falschen
       sind. Nur um ein Beispiel zu nennen: Das Bolschoi-Theater Moskau ist
       weltberühmt. In der Coronakrise haben nun erstmals Menschen aus der ganzen
       Welt die Möglichkeit, [2][online einen Eindruck davon zu bekommen], wofür
       privilegierte Menschen bis zu 250 Euro ausgeben. Es geht nicht um Ersatz,
       es geht um die Erweiterung des Möglichen.
       
       Der freie Zugriff auf Kunst- und Kultur muss ebenso ein Ziel sein, wie es
       der freie Zugriff auf Wissen ist. Online-Bibliotheken ersparen weite und
       teure Reisen und in Videoportalen finden sich Tutorials, wie ein Instrument
       oder eine Sprache zu erlernen ist. Mit seiner riesigen OpenSource Community
       hat das Internet eine Entwicklung in Gang gebracht, welche die
       Verwertungsindustrie auch weiterhin vor größte Herausforderungen stellt,
       aller gegenläufigen Tendenzen, wie der [3][Reform des Urheberrechts im
       letzten Jahr], zum Trotz. Dass für die Schaffenden keine monetäre
       Entlohnung stattfindet, sollte Ziel der Kritik sein, nicht aber die
       emanzipatorische Produktivkraft des Internets.
       
       Anwendungsmöglichkeiten tun sich auch für die Kunst- und Kulturszene auf.
       Neue Formate werden sich entwickeln; auch für die Schaffenden. Warum sich
       nicht durch die isolatorischen Umstände in neue Formen treiben lassen? Wie
       wäre es mit einer digitalen Produktion, in der die Schauspieler*innen live
       aus verschiedenen Orten zugeschaltet sind? Aus Zuschauenden könnten
       Akteur*innen werden.
       
       ## Auf die Probe kommt es an
       
       Allein die Suche nach dem, was dann einem Bühnenbild entspräche, vermag die
       Fantasie in neue Bahnen zu lenken. Doch so was lässt sich nicht planen,
       sondern nur erproben. Voraussetzung dafür ist aber die Offenheit für ein
       Medium, das so diametral zu dem scheint, was der Zauberwürfel des Analogen
       sonst so hergibt.
       
       Von der Krise als Chance zu sprechen, wäre zynisch angesichts des
       verursachten Leids. Es könnte aber ein Moment sein, um darüber
       nachzudenken, wie der digitale Raum als Raum der Kunst und Kultur aussehen
       soll. Wenn wir uns Zerstreuung suchend durch den virtuellen Raum klicken,
       ist Kunst und Kultur das Funkeln, auf das sich der Blick verirrt. Das wäre
       doch tröstend.
       
       21 Apr 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Was-der-Kultur-im-Netz-verloren-geht/!5677513
 (DIR) [2] https://www.bolshoi.ru/en/
 (DIR) [3] /Urheberrecht-in-der-EU/!5596618
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) David Lau
       
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