# taz.de -- Ausstellung „Fluidity“ in Syke: Zurück in der Defensive
       
       > Die Ausstellung „Fluidity“ hinterfragt die Kategorien Mann und Frau.
       > Offenbar wird dabei der Rollback, den der Lockdown mit sich gebracht hat.
       
 (IMG) Bild: Der Körper ist das Kunstwerk: Arbeit von Cassils, Courtesy of the artist and Ronald Feldman
       
       BREMEN taz | Es gibt Wichtigeres als Kunst und Schlimmeres als die
       Schließung von Museen. Im Syker Vorwerk, einem Haus für zeitgenössische
       Kunst in der Nähe von Bremen, geht es nicht mal um Geldsorgen. Man hat hier
       eine Stiftung im Rücken und braucht kein zahlendes Publikum, um den Kopf
       über Wasser zu halten. Und trotzdem stand mit der Corona-geschlossenen
       Gruppenausstellung „Fluidity“ mehr auf dem Spiel als ein bisschen
       Kulturprogramm in der Provinz.
       
       Die Kategorien Mann und Frau sollte die Ausstellung hinterfragen, draußen
       auf dem Land Zweifel aussähen, dass mit der Unterscheidung von
       heterosexuell hier und homosexuell dort schon alles gesagt sei: ein
       Abarbeiten an also genau jenen vermeintlichen Gewissheiten, die im
       Lockdown-Alltag so unerwartbar laut [1][zurückgeschlagen haben].
       
       Die Kultur war kaum abgeschaltet und die Frauen waren noch gar nicht wieder
       richtig angekommen am Herd, da gibt die „Werteunion“ als populistischer
       Rechtsausleger der CDU den Ton vor: „Diese schlimme Zeit macht jetzt
       hoffentlich auch dem Letzten klar, dass Professoren für Medizin, Chemie und
       Biologie unendlich viel wichtiger sind als solche für Gender Studies.“ Eine
       kleine Blödheit auf Twitter, klar, aber eben auch ein Beispiel für sehr
       viele weitere.
       
       Die Krise lehrt jedenfalls große Vorsicht vor Sätzen, die damit anfangen,
       „worauf es jetzt wirklich ankommt“. Welche Prioritäten Staat und
       Gesellschaft im Ausnahmezustand setzen, bestimmt die Debatten seit dem
       ersten Lockdowntag und bis zur letzten Lockerungsstufe wird sich auch
       nichts daran ändern.
       
       Die verwalteten Ungerechtigkeiten sind dabei im Kern gar nicht neu: Wer
       heute alleinerziehend auf Honorarbasis im Homeoffice schuftet, der (oder in
       der Regel die) hatte auch vor Corona wenig zu lachen. Und trotzdem
       beunruhigt die Leichtfertigkeit, mit der die kleinen Erfolge etwa in Sachen
       Inklusion, Gleichberechtigung oder auch Menschenwürde Geflüchteter
       aufgegeben werden, weil sie offenbar doch nur ein Luxus waren in Zeiten des
       Überschusses.
       
       Mehr als erfreulich ist jedenfalls, dass Nicole Giese-Kroner und Alejandro
       Perdomo Daniels, die Macher:innen der Syker Ausstellung, unter widrigen
       Umständen noch einen ausgesprochen sehenswerten Katalog produziert haben
       und „Fluidity“ auch soweit verlängern konnten, dass die Ausstellung nun
       immerhin noch ein paar Tage zu sehen sein wird.
       
       Über zwei Stockwerke zieht sich die Schau aus inhaltlich herausfordernden
       Positionen und großen Namen der queeren Kunstszene. Cassils aus Los Angeles
       etwa hat sich seit Jahren als Multimedia-Künstler:in verdient gemacht und
       dafür zahlreiche angesehene Preise und Stipendien erhalten.
       
       Das Werk in Syke ist Cassils’ eigener Körper, der sechs Monate lange mit
       Bodybuilding und Aufbaupräparaten in ein Muskelpaket verwandelt wurde.
       Videoaufnahmen dokumentieren diese Veränderungen im Zeitraffer, ästhetisch
       überzeichnet ist das Pillenfressen zu sehen. Am Ende sind Cassils’
       weibliche Brüste so gut wie verschwunden – gehen jedenfalls unter zwischen
       allerlei Muskelbergen und -tälern dieser hypermaskulinen Actionfigur.
       
       Bei den markant gesetzten Brüchen wie Cassils’ knallrotem Lippenstift und
       einem betont lässig geschwungenen Seitenscheitel geht es allerdings nicht
       um weibliche Attribute, sondern eher grundsätzlich ums Inszenieren: um
       Zweifel am Bild und dem Selbstbewusstsein, dass die Körperhaltung lediglich
       behauptet.
       
       Noch ausdrücklicher suchend ist nebenan die Fotoserie „Relationship“ von
       Zackary Drucker. In 46 Bildern dokumentiert Drucker tagebuchartig ihre
       Entwicklung von männlich zu trans-weiblich, während sich ihr Partner Rhys
       Ernst gleichzeitig auf den Weg von weiblich zu trans-männlich begibt. Die
       in den USA als pornographisch zensierte Arbeit – auch das eine
       Backlash-Anekdote – handelt von Zärtlichkeit und Nähe, auch wenn die beiden
       nur selten als Paar zu sehen sind. Vor allem aber offenbart sie die
       Verletzlichkeit nicht abschließend kategorisierbarer Menschen.
       
       Auch hier geht es um Inszenierungen. Die intimen Bilder sind keine
       Schnappschüsse, folgen aber auch keiner naiven Dramaturgie. Es ist eine
       freischwingende Bewegung zwischen unklaren Zuständen. Interessant und
       vielleicht erstaunlich ist, dass sich nicht der Mann und die Frau
       entgegenkommen, wenn sie äußere Merkmale wie Muskelaufbau und Brüste
       austauschen, sondern dass sich zwei Menschen vielmehr auf einen gemeinsamen
       Weg ins Undefinierte machen.
       
       Unter den insgesamt neun Positionen der Gruppenausstellung zeigt
       „Relationship“ vielleicht am deutlichsten, wie zwei Monate Lockdown den
       Blick verschieben können. Wirkte die in der Kleinstadt mutig ausgestellte
       Unentschlossenheit damals noch als Ausdruck einer verhalten optimistischen
       Aufbruchstimmung, geht sie heute nahtlos auf im Verteidigungsdiskurs hinter
       verschlossenen Türen: als einer dieser Luxuserfolge, die dem Krisenmob so
       egal sind wie die Kunst im Ganzen. Bleibt zu hoffen, dass auch dieser
       Zustand eine Momentaufnahme bleibt.
       
       26 May 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Sexismus-in-der-Coronapandemie/!5685388
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jan-Paul Koopmann
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Transpersonen
 (DIR) Transgender
 (DIR) Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
 (DIR) Körper in der Kunst
 (DIR) zeitgenössische Kunst
 (DIR) Mütter
 (DIR) Transpersonen
 (DIR) Senat Bremen
 (DIR) Care-Arbeit
 (DIR) Dritte Option
 (DIR) sexistisch
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Ausstellung zu Mutterschaft in der Kunst: Kunst mit Kind
       
       Originelle Perspektivwechsel: Die Ausstellung „Motherhood“ in Syke zeigt
       beeindruckend gegenwärtige Arbeiten zum uralten Thema der Mutterschaft.
       
 (DIR) Deadnaming von Transpersonen: Keine Beleidigung?
       
       Boris Palmer hat die Transfrau Maike Pfuderer mit ihrem früheren Namen
       angesprochen. Kein Vergehen, sagt die Justiz. Ein Fall für eine Debatte.
       
 (DIR) Bremer Kulturszene organisiert Festival: Die wollen nur spielen
       
       Ein Festival im Kleinstformat: Die Bremer Kulturszene hat sich mal schnell
       zusammen den Kultursommer „Summarum“ ausgedacht – er beginnt am 18. Juni.
       
 (DIR) Unbezahlte Arbeit für Frauen: Mitgefühl nicht verschenken
       
       In Coronazeiten wird drastisch sichtbar, wie ungleich die Geschlechter von
       Krisen betroffen sind – vor allem, wenn es um unbezahlte Care-Arbeit geht.
       
 (DIR) Namensgebung in Island: Nicht mehr nur Sohn und Tochter
       
       Namen definieren das Geschlecht. Deshalb sind Wechsel und nichtbinäre
       Optionen bisweilen lebenswichtig. In Island wird der Sache nachgegangen.
       
 (DIR) Queeres Plakat aus dem Verkehr gezogen: Angeblich „sexistisch“
       
       In Münster eröffnet bald die Ausstellung „Homosexualität_en“, die 2015 in
       Berlin zu sehen war. Nur das Werbeplakat fehlt diesmal.