# taz.de -- Überleben der Programmkinos: Jetzt schlafen die Geschichten
       
       > Vom Kinobesuch kann man jetzt nur träumen. Der Preis für Programmkinos in
       > Berlin und Brandenburg soll ihnen beim Überleben helfen.
       
 (IMG) Bild: Geschwungener Auftakt, jetzt verlassen: Eingang zum Delphi-Kino in Berlin
       
       Beim Durchforsten der unbenutzten Postkarten wegen des gestiegenen
       Schreibaufkommens stieß ich neulich auf eine Werbekarte, die ich einst aus
       dem Delphi mitgenommen hatte: das leere Kino, schön rot beleuchtet, der
       Blick geht vom ersten Rang hinunter auf den opulenten Vorhang, der die
       Leinwand verdeckt.
       
       Hach, diese leeren Säle. Als [1][Radio Eins am 14. Mai über die virtuelle
       Verleihung des Programmkinopreises] berichtete, ließ ich sie Revue
       passieren. Und musste daran denken, dass ich mich in Kinos, egal in welcher
       Stadt oder in welchem Land, stets zu Hause fühle, weil sie überall das
       gleiche Gefühl vermitteln: Jetzt wird es eskapistisch. Prima. Zwei Stunden
       raus. Vielleicht fahre ich darum so selten wirklich weg – es ist einfach
       nicht nötig. Die Heldenreise reicht mir.
       
       Jetzt schlafen die Geschichten, sie sind nicht weg, sie werden nur nicht
       erzählt. Kirsten Niehuus [2][vom Medienboard Berlin-Brandenburg], auf deren
       Kappe die 1,5 Millionen Euro Preisgelder für die Programmkinos in Berlin
       und Brandenburg gehen, sagte im Radio bei der virtuellen Preisverleihung,
       sie wünsche sich, dass die Mietzahlungen der Kinos bis Ende des Jahres vom
       Senat übernommen würden. Und dass alle zusammenstehen müssen,
       Verleiher*innen, Kinobetreiber*innen, Filmschaffende.
       
       Dass die Krise sich natürlich auch auf die Entstehung der Geschichten
       auswirkt, nicht nur inhaltlich, auch technisch. Liebesszenen mit Masken,
       das geht eben nur bei „Eyes Wide Shut“. Auch da ging es nicht wirklich gut
       – ich ärgere mich heute noch, dass Stanley Kubricks Einsatz von György
       Ligetis „Musica ricercata II“ einem das Musikstück so richtig vergällt hat.
       Zum Glück spielte immerhin Sky Du Mont mit und verlieh der Maskensituation
       den unterschwelligen Witz, den sie benötigte.
       
       ## Die Krise der Kusstechnik
       
       Immerhin kommt man sich bei einer so groß angelegten Venezia-Orgie wie in
       „Eyes Wide Shut“ körperlich näher. Das gibt es eben momentan nur im Film:
       [3][Die Betreiberin des Kinos Krokodil,] das einen der Programmpreise
       bekommen hat, sagte im Radio, sie habe etwas Muffe vor den etwaigen neuen,
       noch zu bestätigenden Kino-Abstandsregeln – ein*e Besucher*in pro 10
       Quadratmeter, das bedeute für die kleinen Kinos ungefähr 7 Gäste pro Saal.
       Damit kann man weder Orgien feiern noch Kinos erhalten, und das Preisgeld,
       so wunderbar es ist, dass es in diesem Jahr zu einem Quasihilfsfonds
       verdoppelt wurde, reicht nicht ewig.
       
       Dazu kommt das Problem mit dem Rückstau – es sei laut Niehuus schwer zu
       sagen, wann der Kinonachschub wieder geregelt werden könne. Leider sind die
       wunderschönen großen und kleinen Säle mit ihren verheißungsvollen
       Leinwänden, egal ob Delphi, International [4][oder Moviemento], auch kaum
       umzuwidmen. Das Delphi war zwar einst, in den 30ern, ein Tanzpalast, in dem
       dienstags und donnerstags „Hansi der Seelentröster“ beim Tanz Seelen
       tröstete. Aber Seelentrost durch Engtanz geht momentan überhaupt nicht.
       
       Andererseits hat zumindest meine Generation eh am liebsten zu New Wave
       getanzt, dabei die Abstandsregeln von selbst eingehalten, weil man ja Platz
       brauchte, um die Arme theatralisch nach oben zu schleudern, während Andrew
       Eldritch düster „My heartland / heartland / heartland“ orakelte, 40-mal
       hintereinander. Darüber hinaus bewahrte einen die New-Wave-Stachel-Frise
       verlässlich vor dem Näherkommen anderer Gesichter.
       
       Die Heartland-Theorie stammt übrigens von dem englischen Geografen Halford
       Mackinder; darin geht es, grob gesagt, um die Kontrolle des „Herzlands“ der
       Kontinente, die einem angeblich auch die Macht über die „Seemächte“
       verlieh. Ich steige nicht ganz durch, aber ich glaube, Andrew Eldritch tut
       das erst recht nicht. Vielleicht sollte ich mal einen Film darüber
       anschauen. Nur wo?
       
       17 May 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.radioeins.de/themen/kunst_kultur/meinkinoimkiez/
 (DIR) [2] https://www.medienboard.de/foerderung-film
 (DIR) [3] /Die-Situation-der-Berliner-Kinos/!5678103
 (DIR) [4] /Berliner-Kino-in-Gefahr/!5635103
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jenni Zylka
       
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