# taz.de -- Klimaziele und EU-Ratspräsidentschaft: Doch noch Klimakanzlerin?
       
       > Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft steht vor einem Kraftakt: Mit den
       > Coronamilliarden muss Angela Merkel Europa endlich zukunftsfähig machen.
       
 (IMG) Bild: Die „Klimakanzlerin“ Angela Merkel bekommt eine letzte Chance
       
       Noch im Frühjahr war der Lack von der „Klimakanzlerin“ Angela Merkel ab:
       Der Kohleausstieg bis 2038 kam zu spät, das „Klimapaket“ der Großen
       Koalition war halbherzig, die Vorreiterrolle Deutschlands vorbei und der
       Green Deal der EU-Kommission war zwar ambitioniert, aber die Finanzierung
       völlig ungewiss.
       
       Aber unverhofft kommt oft. Vier Monate und eine Coronakatastrophe später
       hat sich Deutschland mit [1][Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft]
       plötzlich zum Hoffnungsträger gemausert: Vielleicht, hoffen jetzt viele,
       macht die EU mit ihren eigenen Ansprüchen bei Klima- und
       Nachhaltigkeitszielen doch noch ernst. Auf der Ratspräsidentin Angela
       Merkel ruhen große Erwartungen: Sie soll nicht nur die EU durch die
       Pandemie führen, den Brexit heil über die Bühne bekommen und einen
       EU-Haushalt für die nächsten sieben Jahre durchboxen. Nein, die Deutschen
       sollen auch ein verschärftes EU-Klimaziel und den [2][sozial-ökologischen
       Umbau der EU] in die Wege leiten. „Ob sie es wollen oder nicht, deutsche
       Hände führen jetzt die Machthebel der EU“, schreibt der Economist.
       
       Tatsächlich könnte die Covid-19-Pandemie die Ökowende auf EU-Ebene
       vorantreiben. Weniger, weil in der Wirtschaftskrise die CO2-Emissionen
       massiv zurückgehen oder vielen klar wird, wie abhängig wir von der Natur
       sind. Nein, die Chance liegt vor allem beim Geld: Zeigten sich die
       EU-Staaten bisher als „geizige 27“, wenn es um Umweltprogramme ging,
       sprudeln plötzlich die Milliarden. Jetzt oder nie muss das Geld in den
       grünen Umbau fließen. Wenn aber die alte fossile Wirtschaftsordnung
       verlängert wird, gehen die EU-Ziele für Klima und Nachhaltigkeit in Rauch
       auf.
       
       Entscheidend dabei wird die „Bazooka“ von 750 Milliarden Euro, die Merkel,
       SPD-Finanzminister Olaf Scholz, der französische Präsident Emmanuel Macron
       und EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen schwingen. Ob und wie diese
       Geldmenge eingesetzt wird, entscheidet über den Zusammenhalt und die
       Zukunftsfähigkeit der EU. Merkel sagt, Klimaschutz stehe bei ihrer
       Ratspräsidentschaft „ganz oben auf der Agenda“.
       
       Wenn das nicht nur Gerede ist, muss die Kanzlerin mit ihrem Team nun einen
       Kraftakt vollbringen: den ohnehin umstrittenen EU-Haushalt mit dem nicht
       weniger umstrittenen [3][Green Deal] zu verschrauben. Die Ausgabe von
       Steuergeld der EuropäerInnen muss unter Ökovorbehalt gestellt werden: die
       Leitlinien der EU für eine öko-soziale Finanzpolitik müssen jetzt
       sicherstellen, dass kein EU-Geld mehr in Kohle und Gas fließt.
       
       Europa muss außerdem sein CO2-Reduktionsziel auf minus 55 Prozent bis 2030
       festschreiben, um die Versprechen aus dem Pariser Abkommen halbwegs zu
       erfüllen. Dafür braucht es mutige Einschnitte beim EU-Emissionshandel, bei
       den nationalen Klimazielen und bei reformierten EU-Richtlinien etwa zu
       Effizienz, Erneuerbaren oder weiter sinkenden CO2-Grenzwerten bei Autos.
       
       Bei diesen Kämpfen zwischen den EU-27 soll das 750-Milliarden-Paket viele
       Wunden heilen. Diese Balance auszutarieren wird Merkels Aufgabe sein: Kann
       sie die reicheren „geizigen vier“ überzeugen, dass sie mehr Geld geben
       müssen, wenn sie mehr Klimaschutz wollen? Kann sie die ärmeren Süd- und
       Ostländer dazu bewegen, im Gegenzug ihre Kohleindustrie abzuspecken und
       ihre Gebäude zu dämmen?
       
       ## Wenn es eine kann, dann Merkel
       
       Kann Angela Merkel das erreichen? Sagen wir es so: Wenn es eine kann, dann
       sie. Merkel durchdringt das Thema Klima und Nachhaltigkeit in all seinen
       Facetten; sie ist länger im Amt als ihre Amtskollegen aus Frankreich,
       Italien, Spanien und Polen zusammen; sie hat in der Krise ihr
       Sparsamkeitsdogma über Bord geworfen, als sie zusammen mit Macron das
       Hilfspaket vorstellte; sie ist eine Meisterin darin, in zähen Verhandlungen
       ihre Punkte zu setzen: 2015 schmuggelte sie den Begriff „Dekarbonisierung“
       in die G7-Erklärung von Elmau, der zentral für das Pariser Abkommen wurde.
       Im letzten Jahr winkte sie in der EU und in Deutschland die Verpflichtung
       zur „Klimaneutralität“ durch – der einen Rattenschwanz an Veränderungen
       etwa beim Emissionshandel nach sich zieht. Und im Mai legte sie sich (und
       damit Deutschland) darauf fest, das EU-Ziel von minus 50 bis 55 Prozent
       anzustreben.
       
       Allerdings hat sie sich in 15 Amtsjahren oft nicht getraut, das Thema gegen
       Widerstände im eigenen Lager zu bewerben oder offensiv zu vertreten. Merkel
       hat der deutschen Exportindustrie in Brüssel den Rücken freigehalten und
       dem Gegrummel ihrer Fraktion im Bundestag nachgegeben, wenn es darum ging,
       die Energiewende zu bremsen. Für einen Konflikt mit der eigenen Klientel
       war ihr das Klimathema – anders als die Flüchtlingsfrage 2015 – nie
       drängend genug.
       
       Ein Jahr vor ihrem Rückzug sollte die Kanzlerin nach normalen Maßstäben
       eine „lahme Ente“ ohne viel Gestaltungsmacht sein. Das Gegenteil ist der
       Fall: In Umfragen ist Angela Merkel populär, ihre Union steht in der Krise
       stark da. Merkel muss weniger Rücksicht auf ihre bockige Fraktion nehmen
       und kann auch Umfragen verweisen, die zeigen: Beim Wahlvolk ist Klimaschutz
       deutlich populärer als bei den CDU/CSU-Abgeordneten. Für eine schwarz-grüne
       Ausrichtung der nächsten Regierung könnte Merkel nichts Besseres tun, als
       die EU auf einen klimafreundlichen Kurs mit massiven Investitionen in neue
       Jobs, grüne Infrastruktur und Digitalisierung zu bringen. Und mit Glück
       gibt es bald auch noch Unterstützung aus Übersee: Wird am 3. November Joe
       Biden zum US-Präsidenten gewählt, drängt Klimaschutz mit Macht zurück auf
       die internationale Tagesordnung.
       
       Angela Merkel ist nicht eitel, sondern pflichtbewusst. Offenbar geht es ihr
       weniger um ihren „Platz in der Geschichte“ als darum, das wackelnde Projekt
       der EU zu sichern und voranzutreiben. Mit der richtigen Antwort auf die
       multiplen akuten Krisen von Corona, Wirtschaft und Klima kann Angela Merkel
       wichtige Weichen für die Zukunftsfähigkeit unseres Kontinents stellen. Man
       kann ihr dabei nur viel Erfolg wünschen.
       
       7 Jul 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Bernhard Pötter
       
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