# taz.de -- Begehren und Handeln: Was wir wollen und was wir sind
       
       > Dem eigenen Begehren nachzugehen, ist nur dann gestattet, wenn eine
       > konsensfähige Person in einem konsensfähigen Moment dazu auffordert.
       
 (IMG) Bild: „Es wäre absurd einen Moralkodex über etwas zu stülpen, über das wir keine Macht haben“
       
       Mein erstes regelmäßiges SM-Verhältnis hatte ich mit einem Mann mit
       eisblauen Augen, einem langweiligen Beruf und einem feinen, leisen Sinn
       für Humor. In meiner Erinnerung sitzen wir immer draußen und trinken Bier.
       Außer natürlich, wenn wir bei ihm waren, er hatte eine saubere,
       geschmackvolle Wohnung, weiße Vorhänge, die er zuzog, auch sonst viel Weiß,
       wenig Bemerkenswertes. Ich erinnere mich überhaupt, dass ich eine Zeit lang
       vergeblich nach etwas Bemerkenswertem an ihm suchte.
       
       Es war mir unbegreiflich, dass er gewöhnlich sein sollte. Da er es genoss,
       zu beherrschen und zu schlagen, musste es mehr an ihm geben, das nicht ganz
       normal war, schloss ich. Und war mir nicht im Klaren, dass ich mich damit
       selber für nicht ganz normal hielt.
       
       Es fällt uns schwer, zu unterscheiden zwischen dem, was Menschen begehren,
       dem was sie tun und dem, wer sie sind. Das fällt etwa auf, wenn Medien
       Pädophilie mit sexueller Gewalt an Kindern gleichsetzen. Begehrensebene und
       Handlungsebene vermischen.
       
       Wenn erstmals über einen Fall von sexueller Gewalt an Kindern berichtet
       wird, liegt meist noch kein psychologisches Gutachten über den oder die
       mutmaßliche Täter*in vor. Man weiß nicht, ob er oder sie auch pädophile
       Neigungen hat. Und dennoch gehen die Begriffe wie Synonyme auf Sendung.
       „Ein Pädophiler …“ – Begehren und Handeln. Untrennbar verwoben im Sein.
       
       ## Begehren ist nicht falsch
       
       Pädophilie ist eine Neigung. Unser Gesetz und unser Moralverständnis
       verbieten, ihr auf eine Art und Weise nachzugehen, die Kinder involviert,
       weil Kinder nicht konsensfähig sind. Eine Neigung ist es auch, jemand
       schlagen, treten oder würgen zu wollen. Es ist nur dann gestattet, dem
       nachzugehen, wenn eine konsensfähige Person in einem konsensfähigen Moment
       dazu auffordert. Begehren an sich hingegen ist nicht verboten und auch
       nicht falsch.
       
       Es kann gar nicht falsch sein, ebenso wenig wie es richtig sein kann. Es
       wäre absurd einen Moralkodex über etwas zu stülpen, über das wir keine
       Macht haben. Schwerkraft, die Härte von Fels, den Siedepunkt von Wasser.
       Aber genau das prägt den Diskurs über sexuelles Begehren seit
       Jahrhunderten.
       
       Sage mir, was du begehrst, und ich sage dir, wer du bist, [1][singt der
       Chor aus Kirche, Psychoanalyse und Neurowissenschaft,] sobald wir lernen
       horny zu sein. Die populärwissenschaftliche Obsession mit der „Ursache“ von
       sexueller Orientierung ist nur eine Stimmlage davon, Lady Gagas „Born this
       way“ eine weitere. Das Thema ist immer dasselbe: Sein und Anderssein.
       Anstatt anzuerkennen, dass Begehren a) im Moment entsteht; b) weder richtig
       noch falsch sein kann und c) niemanden etwas angeht.
       
       Der Mann mit den blauen Augen ist mir übrigens irgendwann abhandengekommen.
       Ihn verschlang eine monogame Blümchenbeziehung. Nach allem, was ich weiß,
       [2][hat er nie zurückgeschaut.] Auch das ist Begehren – und auch das muss
       man akzeptieren.
       
       9 Jul 2020
       
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