# taz.de -- Statt Ausstellungen: Gib mir Raum
       
       > Wie improvisieren im Corona-Sommer? Der Projektraum Very stellt seine
       > Räumlichkeiten für Micro-Residencies Künstler*innen zur Verfügung.
       
 (IMG) Bild: Emma Waltraud Howes nutzt den „Luxus des Raums“ während der Probe mit Justin Kennedy
       
       Die Badstraße ist nicht die Schlossallee. Bei „Monopoly“ bringt sie ihren
       Besitzer*innen wenig ein, ist dafür aber zum Schnäppchenpreis zu haben.
       Eher günstig ist auch all das, was es auf der echten Badstraße im Wedding –
       von der das Brettspiel den Namen tatsächlich hat – so zu erwerben gibt: in
       den Dönerläden, den arabischen Supermärkten, den Frühstückslokalen, den
       Klamottengeschäften, in den Spätis und Callshops, vor denen sich zu allen
       Tageszeiten Menschen – umbraust vom Verkehr – aneinander vorbeischieben.
       Leicht könnte es passieren, dass man an der Hausnummer 66 achtlos
       vorbeigeht, abgelenkt durch all das, was auf den Gehsteigen und drum herum
       so die Sinne ablenkt.
       
       Dabei ist das, was sich dort im Hinterhof verbirgt, auf andere Art und
       Weise genauso speziell wie die Badstraße an sich. [1][Bemerkenswert ist der
       Projektraum Very schon rein äußerlich]: Fast wie eine Bühne mutet er von
       weitem an, mit seiner offenen Front und dem schwarzen Boden. Früher war
       dort einmal eine Kutscherwerkstatt untergebracht, die Arbeitsgrube, von der
       aus an den Fuhrwerken geschraubt wurde, gibt es noch, wird jetzt freilich
       anders, quasi als unterirdische Vitrine genutzt. Lange Jahre dienten die
       Räumlichkeiten dem Künstler Dirk Bell als Studio.
       
       Ganz aufgeben wollte er sie auch nicht, als er aus der Stadt zog, und tat
       sich stattdessen mit fünf anderen Künstler*innen und Kurator*innen
       zusammen, mit Silva Agostini, Mariechen Danz, Sarah Schönfeld, Nils
       Petersen und Anna Zett. Die sechs betreiben den Raum seitdem gemeinsam als
       Versuchsfeld für Ausstellungen, Performances, Lesungen, Workshops und
       andere Veranstaltungen, die Menschen zusammenbringt – oder wie jetzt im
       Covid-Sommer für sogenannte Micro-Residencies, temporäre Arbeitsräume für
       befreundete Künstler*innen.
       
       „Im April, während des Lockdown, haben wir uns gefragt, was wir mit dem
       Raum tun sollten“, erzählt Petersen. „Ausstellungen kamen nicht mehr
       infrage, stattdessen wollten wir uns auf kleinere, persönliche Projekte
       konzentrieren.“ Schon länger hätten sie die Idee für die Micro-Residencies
       gehabt, auf einmal schien der richtige Zeitpunkt gekommen, was auch
       politisch zu verstehen ist: Wichtiger denn je erscheint es, sich in der
       Krise gegenseitig zu unterstützen, zum Beispiel mit [2][Räumen, die
       bekanntlich schon seit Längerem für Künstler*innen kaum zu bekommen oder zu
       bezahlen sind.]
       
       Übersetzerin von Bewegung und Form 
       
       Nach Lilly Pfalzer und Magdalena Mitterhofer ist Anfang August Emma
       Waltraud Howes für drei Wochen eingezogen, nutzt den Raum, „den Luxus des
       Raums“, wie sie es nennt, dabei auch gemeinsam mit anderen, mit denen sie
       zusammenarbeitet. Künstlerisch ist Howes in verschiedenen Medien unterwegs,
       setzt sich dabei aber stets mit körperlichen Zuständen, mit Gesten,
       bezeichnet sich selbst als Übersetzerin von Bewegung und Form. Sie fertigt
       Skulpturen an, arbeitet aber auch performativ. Mit Justin Kennedy feilt sie
       momentan an der Choreografie für eine Sci-Fi-Langzeit-Oper, die die beiden
       gemeinsam mit Balz Isler [3][bei der kommenden Berlin Biennale] im Oktober
       aufführen werden.
       
       Die Website von Very ist verwaist, Veranstaltungen werden auf
       Social-Media-Kanälen angekündigt, vor allem durch Mundpropaganda. Sie
       wollten immer natürlich wachsen, nicht unbedingt ein Riesenpublikum
       anlocken, heißt es, was ja aktuell sowieso eine gute Idee ist. Einerseits
       ist Very genau der richtige Raum für diese merkwürdige Zeit, auch allein
       wegen seiner Architektur – wie eine Garage, ist man dort bei offenem Tor
       gleichzeitig im Freien und doch vor Regen geschützt –, andererseits aber
       auch gerade nicht: Wie in vielen Projekträumen gibt es keine regulären
       Öffnungszeiten, ging es eigentlich immer um Begegnungen, direkt und analog.
       
       Gewissermaßen sind die Micro-Residencies davon eine logische Fortführung,
       bei der die Begegnungen eben in kleinerem Kreis stattfinden. Für Howes
       jedenfalls kam das Angebot zur richtigen Zeit. Kurz zuvor erst hatte sie
       ihr Studio verloren und musste es in ihr Wohnzimmer verlegen. Gleichzeitig
       stehen ihr arbeitsintensive Wochen bevor. Morgens arbeitet sie im Rahmen
       einer weiteren Residency in einer Glaswerkstatt in der Nähe, an Requisiten
       für die Oper.
       
       Nachmittags experimentiert sie mit Kennedy – unter den neugierigen Blicken
       der Weddinger Nachbarschaft. Bald werden, ebenfalls im Rahmen der Berlin
       Biennale, auch Workshops mit Jugendlichen aus Jugendzentren im Wedding
       dazukommen. Und ganz aktuell konzipiert sie noch eine weitere Arbeit, die
       offiziell auch für Publikum gedacht ist: Bei der [4][Finissage der
       Ausstellung „Blinde Winkel“ im Kunstverein am Rosa-Luxemburg-Platz] am
       Samstagabend ab 20 Uhr, wird Howes in Kooperation mit dem Duo CargoCult vom
       Fenster in Richtung Torstraße performen – für die Nachbarschaft, aber auch
       alle, die gezielt kommen wollen.
       
       7 Aug 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.facebook.com/very.badstr66
 (DIR) [2] /Ateliernotstand-in-Berlin/!5587746
 (DIR) [3] /Neue-Kuratorinnen-des-Kunstfestivals/!5600874
 (DIR) [4] http://www.rosa-luxemburg-platz.net/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Beate Scheder
       
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