# taz.de -- Parteitag der Berliner Linken: Unter radikalen Bedingungen
       
       > Ein Jahr vor der Wahl schärft die Linke ihr antikapitalistisches Profil.
       > Das Treffen ist auch ein Test, ob Parteitage in Coronazeiten
       > funktionieren.
       
 (IMG) Bild: „Bitte nicht anfassen“: Parteitag mit Abstand der Berliner Linken am Samstag
       
       BERLIN taz | Corona war kein Thema, jedenfalls kein offizielles, als sich
       die Fraktion der Linkspartei im Berliner Abgeordnetenhaus Anfang März
       [1][zur Klausur] traf. Man saß eng zusammen wie immer, in diesem Fall in
       einem Tagungshotel in Potsdam, am Rande wurde ein bisschen über das Virus
       gesprochen. Vier Tage zuvor war in Berlin der erste Infizierte offiziell
       bestätigt worden. Wohl keiner der rund 70 Teilnehmer- und BesucherInnen der
       Klausur ahnte, mit welcher Wucht die Pandemie wenige Tage später das
       öffentliche und damit auch das politische Leben in Berlin lahmlegen würde.
       
       Mehr als fünf Monate sind seitdem vergangen, und die Welt ist eine andere,
       als sich die Berliner Linkspartei am Samstag, 22. August, zum Parteitag
       trifft. Es ist die erste politische Veranstaltung dieser Art in Berlin
       unter Coronabedingungen. Man wolle deswegen ein „gutes Vorbild“ sein, sagt
       die Abgeordnete Franziska Brychcy gleich zu Beginn.
       
       Gebucht wurde das größte Hotel der Stadt, der zweitgrößte Saal ist luftig
       besetzt, insgesamt 150 Delegierte und Gäste sind anwesend. Und neben dem
       Hinweis, Mund-Nase-Schutz zu tragen, wer nicht am Platz sitze, und diesen
       nicht zu wechseln, mahnt Brychcy, die Mikros nicht anzufassen. Denn: Sie
       müssten danach desinifiziert werden und „das verlängert den Parteitag.“
       
       Der Parteitag wird bestimmt durch radikale Forderungen. Für die Berliner
       Landeschefin Katina Schubert ist die wichtigste Schlussfolgerung aus der
       Coronakrise die Abschaffung des Kapitalismus. „Wir müssen als nichts
       weniger tun als den Kapitalismus erst an die Kette zu legen und dann
       überwinden“, sagt sie in ihrer halbstündigen Rede, die das Treffen
       einleitet.
       
       Es gehe jetzt darum, die Schuldbremse und das „neoliberale Dogma vom
       zurückhaltenden Staat endgültig zu brechen“. Das gleiche gelte für die
       Marktmacht großer Unternehmen, Unternehmen wie die Deutsche Wohnen müssten
       vergesellschaftet werden. Das entsprechende Volksbegehren in Berlin,
       angeschoben von einer Initiative, müsse deswegen „jetzt endlich weiter
       gehen“.
       
       Sozialpolitisch brauche es in der Pandemie mehr Hilfen für Frauen,
       Jugendliche und Geflüchtete, die von den Folgen der Pandemie am stärksten
       betroffen sind, weil sie überwiegend die Betreuung der Kinder übernommen
       hätten, weil sie keinen Ausbildungsplatz finden oder weil sie zuerst den
       Job verlieren würden. Die vielfältige Kulturlandschaft der Stadt müsse auf
       [2][jeden Fall erhalten werden]: Viele BerlinerInnen hätten „erst durch den
       Lockdown gemerkt, wie wichtig ihnen die Kultur in ihren Kiezen und ihrer
       Stadt“ überhaupt ist. Sie warb damit für den Leitantrag des
       Landesvorstands, der am Ende ohne Gegenstimmen angenommen wurde.
       
       Er sieht Investitionen in eine „krisenfeste Daseinsvorsorge“ vor, etwa in
       Pflege, Schulen und Kitas und sozialen Wohnungsbau. Denn die großen
       Verlierer der Coronakrise seien jene Menschen, die auf Hartz IV angewiesen
       sind sowie die Solo-Selbstständige, betont Kultursenator Klaus Lederer in
       seiner halbstündige Rede. Dass die Krise auch eine Chance sei, davon halte
       er längst nichts mehr: „[3][Wer klatscht schon noch für Pfleger?“] Deswegen
       müsse das Öffentliche weiter gestärkt werden.
       
       Lederer, zugleich einer der Stellvertreter des Regierenden Bürgermeisters
       Michael Müller (SPD), gilt als quasi gesetzter Spitzenkandidat der Linken
       für die nächste Abgeordnetenhauswahl im Herbst 2021. Angesichts des
       radikalen Leitantrags steht er an diesem Morgen vor der Herausforderung,
       die Arbeit der rot-rot-grünen Regierung gleichzeitig zu loben und zu
       kritisieren. Erfolge seien der Mietendeckel, den es in Karlsruhe zu
       verteidigen gelte; das klare Nein zu weiteren Privatisierung, der An- und
       Rückkauf von Wohnungen und auch Kultureinrichtungen wie dem Radialsystem.
       „Wir werden uns weiter einsetzen für Selbstermächtigung und
       Eigeninitiativen“, betont Lederer.
       
       Um dann zuzugeben: „Wir haben viel zu viele Freiräume in der Stadt
       verloren.“ Lederer erwähnt dabei unter anderem die Räumung der
       [4][Neuköllner Kiezkneipe Syndikat]. Klar ist für ihn auch, dass die
       Koalition noch nicht „an allen Stellen das richtige Mittel“ gefunden habe.
       
       Etwa beim [5][umstrittenen Deal mit dem Karstadt-Eigentümer Signa]. Der
       „Letter of Intent“ des Senats sichert bei einer Arbeitsplatzgarantie und
       dem Erhalt einiger Häuser Signa die Unterstützung bei mehreren
       Hochhausprojekten zu, unter anderem am Kreuzberger Hermannplatz. Das treibt
       Initiativen und auch Teile von Linken und Grünen auf die Barrikaden.
       
       Lederer verteidigt den Deal: „Wir haben uns entschieden, vor allem Frauen
       über 50 vor der Arbeitslosigkeit zu bewahren. Manchmal sind die Zwickmühlen
       real und trotzdem muss gehandelt werden.“ Der Skandal sei nicht die
       Entscheidung von Rot-Rot-Grün, sondern dass ein solches Unternehmen die
       Politik zu einer solchen Entscheidung zwingen kann. Lederer wie auch
       Parteichefin Schubert und weitere RednerInnen fordern darüber nachzudenken,
       auch Kaufhäuser kommunal zu betreiben, um die Nahversorgung der
       AnwohnerInnen sicher zu stellen, wenn die Eigentümer dies künftig nicht
       mehr wollten.
       
       ## Abgrenzung von den Grünen
       
       Mit Blick auf die anstehende Wahl in einem Jahr mahnt Lederer, den aktuell
       mitregierenden Grünen das Thema Ökologie nicht allein zu überlassen.
       „Klimawandel ist kein grünes Elitenthema, sondern Teil der sozialen Frage
       des 21. Jahrhunderts.“ Der Spitzenkandidat oder die Spitzenkandidatin der
       Linken soll im Dezember gewählt werden.
       
       Mit Spannung erwartet wird der Auftritt des neuen Stadtentwicklungssenators
       Sebastian Scheel. [6][Dessen Kür Anfang der Woche] ließ viele fragen, ob er
       den mieterInnenfreundlichen Kurs seiner Vorgängerin Katrin Lompscher
       fortsetzen würde. Scheel, der keinen eigenen Slot für eine Rede bekommt,
       sondern sich in der Generalaussprache kurz äußern kann, will daran keinen
       Zweifel aufkommen lassen.
       
       Er lobt den Einsatz Lompschers, sich mit dem Wohnungskonzern Deutsche
       Wohnen und der Ferienwohnungsbörse Airbnb angelegt zu haben. „Wir haben die
       bedingunglose Kumpanei mit der Immobilienwirtschaft beendet“, sagt der
       44-Jährige und spielt damit auf die langjährigen intensiven Verflechtungen
       zwischen SPD und Bauwirtschaft an.
       
       Scheel kritisiert letztere, die Wohnungen nur für Besserverdienende bauen
       wolle und nicht für jene, die zuletzt in der Coronakrise das Land am Laufen
       gehalten hätten: Krankenschwestern, VerkäuferInnen, etc. Die Zusammenarbeit
       mit privaten Bauunternehmen sei „keine Partnerschaft, sondern eine toxische
       Beziehung“. Denn es komme nicht darauf an, wie viel gebaut wird, sondern
       welche Art – ein Seitenhieb auf die SPD, die stets die angebliche
       Verweigerung von Lompscher für den Neubau kritisiert hatte. Er wolle sich
       für höhere Quoten für preisgünstige Mieten einsetzen, so Scheel, sowohl bei
       privat finanzierten Projekten als auch bei den landeseigenen
       Wohnungsbaugesellschaften.
       
       Je länger der Parteitag dauert, desto weniger spielen die praktischen
       Auswirkungen von Corona jenseits der Reden vor Ort eine Rolle. Zwar sieht
       man selten Gruppen, die sich am Rande besprechen – neben Abstimmungen sind
       solche Gespräche ja ein wichtiges Element von Parteitagen. Und viele
       Abläufe dauern etwas länger – etwa die Registrierung am Morgen oder die
       Desinfektion des RednerInnenpults -, was den Zeitplan immer wieder in
       Verzug bringt. Aber insgesamt zeigt der Parteitag: Solche Treffen sind
       möglich.
       
       Noch. Ob angesichts der [7][steigenden Infektionszahlen] die von Berlins
       SPD und Grünen im Oktober und November geplanten Parteitage stattfinden
       können, ist offen.
       
       22 Aug 2020
       
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