# taz.de -- Berliner „Kopftuch-Streit“ vor Gericht: Die Krux mit der Neutralität
       
       > Ist das Berliner Neutralitätsgesetz, das Lehrerinnen das Tragen eines
       > islamischen Kopftuchs untersagt, verfassungswidrig?
       
 (IMG) Bild: Bildungsaufstieg mit Kopftuch? In Berlin darf die Frau (noch) keine Lehrerin werden
       
       BERLIN taz | Kaum ein Gesetz birgt so viel politischen Sprengstoff wie das
       Berliner Neutralitätsgesetz. Dürfen Frauen, die das islamische Kopftuch
       tragen, als Lehrerinnen Kinder unterrichten? Um das zu verhindern, wurde
       das Gesetz 2005 im Gefolge der bundesweiten „Kopftuch-Debatte“ beschlossen
       – damals von Rot-Rot. Denn auch wenn BefürworterInnen seither sagen, das
       Gesetz fordere weltanschauliche und religiöse Neutralität von allen: de
       facto ging und geht es um Muslime. Entsprechend emotional – wie alles, was
       mit Islam zu tun hat – wird das Gesetz bis heute in der Hauptstadt
       diskutiert. Jedes Mal, wenn eine Lehrerin das Land deswegen verklagt, geht
       es letztlich um die Frage: Verstößt das Neutralitätsgesetz gegen das
       Grundgesetz?
       
       An diesem Donnerstag könnte „die Bombe“ platzen. Das Bundesarbeitsgericht
       in Erfurt entscheidet in dritter Instanz über einen Berliner
       „Kopfttuchstreit“. E[1][ine Lehrerin hat das Land verklagt, weil sie wegen
       ihres Kopftuchs nicht eingestellt wurde]. In erster Instanz verlor sie, in
       zweiter bekam sie Schmerzensgeld zugesprochen. Die Bildungsverwaltung ging
       in Berufung, nun soll das Urteil fallen. Und so viel ist klar: Verliert
       Berlin erneut, ist das Neutralitätsgesetz in seiner jetzigen Form nicht zu
       halten. Aber was dann?
       
       Der rot-rot-grüne Senat ist in der Frage gespalten. Die SPD will – unter
       der Wortführerschaft des Noch-Regierenden Bürgermeisters Michael Müller und
       von Noch-Bildungssenatorin Sandra Scheeres – das Gesetz unverändert lassen.
       Ihr Hauptargument: Bei den sich häufenden Religionskonflikten an Berliner
       Schulen könnten Kopftuch tragende Lehrerinnen nicht die gebotene
       überparteiliche Rolle einnehmen; insbesondere Mädchen, die von der Familie
       und/oder muslimischen MitschülerInnen zum „Tuch“ gedrängt würden, könnten
       von einer Kopftuch-Lehrerin kaum Hilfe erwarten.
       
       So sieht es auch die Juristin Seyran Ates, die die Bildungsverwaltung seit
       2017 in der Causa berät und die den aktuellen Fall ausgewählt hat, um an
       ihm die Frage der Verfassungsmäßigkeit endlich „höchstrichterlich“ zu
       klären. Für die bekannte [2][Frauenrechtlerin und Gründerin einer liberalen
       Moschee in Berlin ist das Kopftuch Symbol eines konservativen bis
       reaktionären Islam], der weltweit auf dem Vormarsch sei und auch
       hierzulande Konflikte schon im Kindergarten verursache.
       
       ## Gutachten: Kopftuch schafft Konflikte
       
       Das ist auch der [3][Kern eines Gutachtens, das die Bildungsverwaltung
       voriges Jahr veröffentlichte], um die Notwendigkeit und
       Verfassungsmäßigkeit des Neutralitätsgesetzes zu untermauern.
       Rechtswissenschaftler Wolfgang Bock von der Uni Gießen stellt darin fest,
       dass aus einer an Berliner Schulen „verbreiteten islamischen
       Religionskultur“ Konflikte entstünden, etwa um Bekleidungsgebote, die das
       ungehinderte Lernen bedrohten oder einschränkten. „Das Tragen eines
       islamischen Kopftuchs (durch Lehrerinnen) ist aber ein vorhersehbarer
       Faktor für die Entstehung und Beförderung solcher Konflikte“, so Bock bei
       der Vorstellung.
       
       Die Grünen, allen voran Justizsenator Dirk Behrendt, vertreten mehrheitlich
       die Gegenposition. Die besagt im Kern: Das Gesetz bedeutet de facto eine
       Verletzung der Religionsfreiheit und eine Diskriminierung von Muslima und
       gehört daher abgeschafft. So argumentieren auch muslimische Vereine und
       Beratungsstellen wie Inssan oder das Bündnis #GegenBerufsVerbot, die die
       Klägerin bei ihrem Weg durch die Instanzen begleitet haben. „Ein Sieg für
       sie wäre ein spürbarer Fortschritt für die Rechte von Frauen* und
       Minderheiten und für die intersektionale Gerechtigkeit in Deutschland“,
       erklärte das Bündnis vor dem Urteil.
       
       Die Integrationspolitische Sprecherin der Fraktion im Abgeordnetenhaus,
       Bettina Jarasch, brachte gegenüber der taz aber auch ein ganz pragmatisches
       Argument an: „Berliner Schulen müssen endlich lernen, mit der religiösen
       und weltanschaulichen Vielfalt in diesem Land umzugehen. Dazu kann ein
       Kollegium, zu dem auch eine Lehrerin mit Kopftuch gehört, beitragen.“
       Natürlich gelte für alle LehrerInnen „das Missionierungs- und
       Überwältigungsverbot“, und sie erwarte auch von allen, „dass sie die
       Selbstbestimmung ihrer Schüler*innen aktiv verteidigen – auch der
       Schülerinnen, die kein Kopftuch tragen wollen“.
       
       ## Andere Bundesländer haben kein Problem
       
       Die Linksfraktion, die das Gesetz 2005 mit der SPD beschlossen hatte, ist
       in der Frage gespalten. Man habe noch keine einheitliche Position, sagte
       ein Sprecher, für beide Seiten gebe es gute Argumente. Nach dem Urteil von
       Erfurt werde man weiter sehen.
       
       Auch der rot-rot-grüne Senat kann der Frage, wie es mit dem
       Neutralitätsgesetz weiter gehen soll, nun kaum weiter ausweichen. Hilfreich
       wäre womöglich ein Blick auf die anderen Bundesländer. In keinem gibt es
       ein so weit reichendes Verbot von „weltanschaulichen oder religiösen“
       Symbolen und Kleidungsstücken für LehrerInnen wie in Berlin.
       „Baden-Württemberg, Bayern, Bremen und Nordrhein-Westfalen thematisieren
       die Frage mehr oder weniger in der vom Bundesverfassungsgericht
       vorgegebenen Richtung, etwas vager auch Hessen, Niedersachsen und das
       Saarland“, erklärte der emeritierte Rechtswissenschaftler Christian
       Pestalozza von der Freien Universität Berlin der taz. „Die anderen Länder
       schweigen.“
       
       Auch eine taz-Umfrage bei allen Bundesländern, auf die bis Donnerstagmorgen
       neun Kultus- oder Bildungsministerien geantwortet haben, zeigt: Überall
       kommt es darauf an, dass LehrerInnen weltanschaulich-religiös neutral
       agieren und „den Schulfrieden wahren“ – und überall wird dies im Einzelfall
       geprüft. In einigen Ländern gibt es (sogar) Lehrerinnen mit Kopftuch.
       Konflikte deswegen sind nicht bekannt.
       
       27 Aug 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Susanne Memarnia
       
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