# taz.de -- Nachruf auf David Graeber: Die Welt ganz neu sehen
       
       > Der Anthropologe David Graeber wollte Kapitalismus nicht nur verstehen,
       > sondern überwinden. Sein ungewöhnlicher Blick wird fehlen.
       
 (IMG) Bild: Urheber von dicken Büchern und großen Bewegungen: David Graeber im April 2016
       
       [1][David Graeber] war ein besonderer Wissenschaftler: Der Anthropologe war
       Anarchist und wollte Theorie und Praxis verbinden. Er wollte den
       Kapitalismus nicht nur verstehen, sondern auch überwinden. Graeber hatte
       eine Mission.
       
       Der New Yorker besaß ein untrügliches Gespür für relevante Themen. Er hat
       [2][mehrere Mega-Bestseller] geschrieben und war gleichzeitig der wohl
       wichtigste Vordenker der Occupy-Bewegung. Der Spruch „Wir sind die 99
       Prozent“ stammte von ihm.
       
       Graeber wurde schlagartig weltberühmt, als 2011 sein Wälzer „Schulden. 5000
       Jahre“ erschien. Denn Graebers radikale These war, dass Schulden stets mit
       Gewalt einhergehen – ja, Gewalt sind. Sie seien eine Waffe, ein Instrument
       der Macht, der Unterdrückung.
       
       Für Graeber war daher der Kapitalismus die höchste und die subtilste Form
       der Gewalt. Denn der Kapitalismus kann ohne Schulden gar nicht existieren,
       er wird durch Kredite angetrieben. Mit Darlehen werden Investitionen
       finanziert, die einen Gewinn abwerfen sollen. Aus Geld wird mehr Geld.
       
       Graeber wollte stets „die großen Fragen“ stellen, und sein radikaler Blick
       war immer anregend. Trotzdem hatte sein Werk auch Lücken, eben weil er
       Anthropologe war. Er teilte die inhärente Annahme seines Faches, dass alle
       historischen Kulturäußerungen miteinander vergleichbar seien, da es ja
       stets Menschen sind, die handeln. Ob in Mesopotamien, im alten Rom oder im
       modernen London – Graeber machte überall die gleichen Gesetze aus.
       
       Für ihn spielte es keine Rolle, ob ein antiker Tempelstaat vor 5.000 Jahren
       Zinsen eintrieb – oder eine heutige Bank. Damit aber verkannte er den Kern
       des Kapitalismus. Graeber hatte zwar Recht, dass der Zins in der antiken
       Welt ein Herrschaftsinstrument war. Denn in Mesopotamien oder in Rom gab es
       kein Wachstum.
       
       Zinsen bedeuteten daher immer, dass Vermögen umverteilt wurde. Wer Zinsen
       zahlte wurde ärmer; wer sie bekam wurde reicher. Doch dieses Gesetz gilt im
       Kapitalismus eben nicht mehr, der den Charakter der Schulden völlig
       verändert hat. Indem Kredite Wachstum finanzieren, können die Zinsen
       mühelos aus diesen Zusatzerträgen aufgebracht werden.
       
       ## Unermüdlicher Geschichtensammler
       
       Wie viele Anthropologen war Graeber Strukturalist: Er war überzeugt, dass
       jedes Einzelbeispiel bereits das Ganze beschreibt. Begeistert und
       unermüdlich sammelte er Geschichten und Anekdoten. Dies war Stärke und
       Schwäche zugleich.
       
       Die theoretischen Erkenntnisse waren eher mager, dafür ist es Graeber
       gelungen, das pralle Leben einzufangen und auf neue Themen zu stoßen. Diese
       Begabung zeigte sich erneut bei seinem letzten Bestseller über
       [3][„Bullshit-Jobs“]. Das Buch beruhte auf Selbstzeugnissen von
       Angestellten, die gut bezahlte Stellen haben, aber darunter leiden, dass
       ihre Tätigkeiten völlig sinnlos sind.
       
       Graeber hatte die Fähigkeit, die bekannte Welt ganz neu zu sehen. Sein
       ungewöhnlicher Blick wird fehlen. Am Donnerstag ist Graeber mit 59 Jahren
       in Venedig gestorben.
       
       4 Sep 2020
       
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 (DIR) Ulrike Herrmann
       
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