# taz.de -- Camp für geflüchtete Menschen in Afrika: Dem Leid ins Gesicht sehen
       
       > Europa verschließt sich dem „Flüchtlingsproblem“, wenn es sich nicht vor
       > der Haustür abspielt. Eine Bekämpfung der Fluchtursachen sieht anders
       > aus.
       
 (IMG) Bild: Migranten auf einem Pickup bei Agadez im Niger 2018
       
       Während die [1][Zerstörung des Flüchtlingslagers Moria] und die türkische
       Grenzöffnung vor einigen Monaten aller Welt vor Augen führte, wie brüchig
       Griechenland als äußerer Wall der Festung Europas tatsächlich ist und wie
       brutal das Schicksal derer, die zum Spielball politischer Hahnenkämpfe
       werden, deutet das Ausmaß der öffentlichen Empörung zugleich darauf hin,
       wie erschreckend gut die europäische Externalisierung der Außengrenzen auf
       den afrikanischen Kontinent funktioniert.
       
       Das soll nicht heißen, dass die [2][europäische Migrationspolitik in
       Afrika] erfolgreich Fluchtursachen bekämpft oder die forcierte Schließung
       von Grenzen und Kriminalisierung der Migration durch afrikanische
       Regierungen nicht zu unerwartetem Widerstand und großem Leid führen würde.
       Es soll heißen, dass die vermeintliche Externalisierung des
       „Flüchtlingsproblems“ durch Europa einen Zweck erfolgreich erfüllt: aus den
       Augen, aus dem Sinn.
       
       Als Anfang Januar dieses Jahres unweit der [3][nigrischen Stadt Agadez] ein
       UNHCR-Flüchtlingslager in Flammen aufging, hörte hier kaum jemand davon.
       Die Berichterstattung in Deutschland darüber war praktisch nicht existent.
       Die hiesige Öffentlichkeit interessiert sich nicht für das Schicksal von
       Geflüchteten, die sich abseits des Mittelmeers in endlosen unerträglichen
       Warteschleifen gefangen sehen.
       
       Wie auf [4][Lesbos] wurde den Menschen in Niger vorgeworfen, das Lager aus
       Protest angezündet zu haben, um den UNHCR und die nigrische Regierung dazu
       zu zwingen, den Flüchtlingen die Weiterreise in andere Länder zu
       ermöglichen. Entsprechend waren die Reaktionen der verantwortlichen
       Stellen: Von einem unverantwortlichen Akt, von Vandalismus und dem Versuch
       der Erpressung war die Rede.
       
       ## Nur ein Bruchteil der Lagerinsassen wurden ausgeflogen
       
       Dem Brand in Agadez vorausgegangen waren anhaltende Proteste gegen die
       schlechten Lebensbedingungen für Geflüchtete in Nigerund die
       Vernachlässigung ihrer Asylanträge. Entgegen der Lesart des UNHCR, wonach
       die Proteste nur das Ziel hatten, eine schnelle Umsiedlung in andere Länder
       einzufordern, widersprach ein ehemaliger Mitarbeiter gegenüber dem New
       Humanitarian:
       
       „Sie führen die Umsiedlung immer wieder als eine Art Strohmann an, um von
       der Tatsache abzulenken, dass diese Menschen vernachlässigt wurden.“ Die im
       Lager lebenden Menschen waren durch den Emergency Transit Mechanism (ETM),
       den der UNHCR 2017 einrichtete, aus Libyen evakuiert worden. Von den
       insgesamt 57.000 registrierten Flüchtlingen in Libyen wurden bis März
       dieses Jahres ganze 3.080 Flüchtlinge nach Niger ausgeflogen.
       
       Kaum ein afrikanisches Land erklärte sich bereit, für die EU zum
       Aufnahmelager zu werden. Die Regierung Nigers, die zu diesem Zeitpunkt
       schon 1 Milliarde Euro von europäischen Regierungen für die Kooperation in
       Migrationsfragen bekommen hatte, bot sich lediglich als temporäres
       Aufnahmeland an. Sie bestand auch darauf, selbst die Schutzbedürftigkeit
       aller Menschen zu kontrollieren, die aus dem Lager umgesiedelt werden
       sollten – unabhängig vom UNHCR.
       
       Die Flüchtlingshilfe der Vereinten Nationen stößt in Europa an Wände, wenn
       es um die Umsetzung der ETM geht, die den Menschen in den libyschen
       Flüchtlingslagern eine Perspektive verschaffen sollte. Viele warteten zum
       Zeitpunkt des Feuerausbruchs schon zwei Jahre und länger auf verlässliche
       Informationen zu ihrem Asylverfahren.
       
       ## Niger lässt sich teuer bezahlen
       
       Ihre Forderung für ein Leben in Sicherheit und Würde, für die sie auf die
       Straßen von Agadez zogen, kommt deshalb wenig überraschend. Am 4. Januar
       2020 lösten nigrische Sicherheitskräfte das Sit-in mit brutaler Gewalt auf.
       Ein Video zeigt, wie eine Person von Sicherheitskräften von einem Gebäude
       geworfen wurde. Hunderte Demonstranten wurden verhaftet, alle anderen
       zurück ins Lager gebracht. Damit brach der Protest nicht ab.
       
       Augenzeugen berichten von erneuter Eskalation der Gewalt und dem Einsatz
       von Tränengasgranaten. Ein Feuer brach aus und zerstörte den Großteil der
       Unterkünfte. Für die nigrische Regierung sowie UNHCR-Offizielle war schnell
       ausgemacht, dass es sich um vorsätzliche Brandstiftung handelte. Anders
       interpretiert handelte es sich um einen Akt der Verzweiflung gegenüber der
       repressiven Politik der nigrischen Behörden.
       
       Geflüchtete aus dem Sudan machten die Tränengasgranaten der
       Sicherheitskräfte für das Feuer verantwortlich. Nach einer Logik der
       kollektiven Bestrafung nahm die nigrische Regierung mindestens 335 Menschen
       in Haft, während die Leiterin des Lagers, Alexandra Morelli, betont
       emotional erklärte, dass sie sich verraten fühle, „als eine Mutter, die an
       ihre Kinder geglaubt hatte“. In Solidarität mit den nigrischen Behörden
       arbeitet sie an der Aufklärung dieser unsäglichen Tat.
       
       In Agadez blieben die Menschen außerhalb des abgebrannten Lagers wochenlang
       in Notunterkünften [5][dem harschen Klima der Wüste ausgeliefert], während
       der UNHCR auf Genehmigung für die Errichtung vorübergehender Unterkünfte
       wartete. Laut der Irish Times dauerten die Proteste bis zum August an. Über
       einhundert Menschen wurden strafrechtlich verurteilt. Die Schuldfrage
       scheint in Moria ebenso schnell geklärt worden zu sein wie die in Agadez.
       
       ## Wochenlanges Ausharren in Notunterkünften
       
       Die griechische Regierung ist in guter Gesellschaft mit ihrer Haltung, dass
       nicht die unhaltbaren Zustände in den Lagern und die Hoffnungslosigkeit
       Grund für die Verzweiflung der Menschen ist, sondern die undankbare Haltung
       und kriminelle Aktionen der Schutzsuchenden. Hier wird nicht nach Ursachen
       gesucht, sondern nach Sündenböcken.
       
       So beherrscht eine Logik der Abschottung ungebrochen die europäische
       Migrationspolitik, selbst jene Maßnahmen, die zur vermeintlichen Bekämpfung
       von Fluchtursachen verfolgt werden. Eines scheint sicher: Moria kann nicht
       mehr so schnell unter den Teppich gekehrt werden. Agadez hingegen schon.
       
       19 Oct 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Wasil Schauseil
       
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