# taz.de -- Bundestag zu 30 Jahren deutsche Einheit: Ein geglücktes Land
       
       > Zum 30. Jubiläum debattiert der Bundestag über die deutsche Einheit. Das
       > Fazit fällt positiv aus – und der Unionsfraktionschef entschuldigt sich.
       
 (IMG) Bild: Scholz übernahm die Rolle der Kanzlerin und würdigte die historische Bedeutung des 3. Oktober
       
       BERLIN taz | Der Stuhl, der eine Erfolgsgeschichte der Wiedervereinigung
       erzählt, blieb am Freitag, 2. Oktober, im Bundestag leer. Die Kanzlerin
       fehlte, [1][EU-Gipfel in Brüssel]. Dabei offenbart Angela Merkels Platz auf
       der Regierungsbank, dass zum 30. Jahrestag zumindest dort die deutsche
       Einheit gelungen ist.
       
       So herrscht 2020 Ost/West-Gleichheit: Seit 15 Jahren sitzt mit Merkel eine
       Ostdeutsche auf dem Kanzlerinnensessel, genauso lange wie die 15 Jahre
       davor, als dort mit Helmut Kohl und Gerhard Schröder je Westdeutsche saßen.
       
       Die Wiedervereinigung also eine reine Erfolgsgeschichte? So weit wollte
       keiner der Rednerinnen und Redner in der Bundestagsdebatte [2][zum 30.
       Jubiläum] gehen. Zwar zogen die meisten Abgeordneten ein positives Fazit –
       doch waren auch die unverändert bestehenden Ungleichheiten und Differenzen,
       vor allem in Bezug auf die Lebensverhältnisse, Thema.
       
       Vizekanzler und Bundesfinanzminister Olaf Scholz übernahm dabei die Rolle,
       die sonst eher der Kanzlerin zukommt: in staatstragender Manier die
       historische Bedeutung dieses 3. Oktober zu würdigen. 30 Jahre
       wiedervereinigt, das sei „doppelt so lange wie die Weimarer Republik“,
       sagte der SPD-Kanzlerkandidat.
       
       ## Lindner spannt Bogen zu Belarus und Hongkong
       
       Die Einheit sei ein demokratischer Akt in Deutschland gewesen, „einer der
       seltenen in unserer Geschichte“, so Scholz. Krisen wie die gegenwärtige
       würden dabei zusammenschweißen. Auch wenn es noch immer
       Ost/West-Unterscheide gebe, resümierte Scholz: „Wir sind ein Land, das ist
       geglückt.“
       
       [3][Linken-Fraktionschef] Dietmar Bartsch betonte hingegen das, was auch
       nach drei Jahrzehnten noch im Argen liegt. Zwar nannte er die friedliche
       Revolution 1989 ein „großes Glück“. Dennoch: „Wir sind von gleichwertigen
       Lebensverhältnissen weit entfernt.“ In seinem Heimatbundesland
       Mecklenburg-Vorpommern etwa, wo Arbeitszeit und Lohn noch immer deutlich
       schlechter gestellt seien als im benachbarten Niedersachsen.
       
       Die mangelnde Repräsentation Ostdeutscher nannte Bartsch einen „Skandal“.
       So gebe es keinen General bei der Bundeswehr und keinen deutschen
       Botschafter, der aus dem Osten stamme, sagte der Linken-Politiker. Es
       brauche eine „gesamtdeutsche Strukturpolitik“, denn: „Ein geeintes Land
       sollte auch ein sozial gerechtes Land sein“, sagte Bartsch.
       
       Das wirtschaftliche Gefälle zwischen Ost und West griff auch FDP-Chef
       Christian Lindner auf, wenn auch mit anderer Betonung: „Schaffen wir die
       Voraussetzungen für mehr Unternehmertum“, sagte er und forderte weniger
       Steuern für bestimmte Regionen. Der Liberale lobte zudem den „Mut der
       Ostdeutschen“, damals das SED-Regime gestürzt zu haben – und spannte dabei
       einen Bogen zu den aktuellen Protesten in Belarus und Hongkong. In Gedenken
       an die mindestens 140 Mauertoten sagte Lindner: „Jeder war ein
       Freiheitskämpfer.“
       
       ## „Ein paar Brücken noch vor uns“, sagt Göring-Eckardt
       
       Einen für einen Unionsfraktionschef bemerkenswerten Auftritt legte Ralph
       Brinkhaus hin. Er erinnerte an die vielen Rädchen, die alle ihren Beitrag
       zur Wiedervereinigung geleistet hätten: die Menschen, die 1953 beim
       DDR-Volksaufstand auf die Straße gingen, Solidarność in Polen, die
       Staatenlenker von einst – Gorbatschow etwa: „Bei aller Kritik, die wir
       heute an Russland haben, sollten wir das nicht vergessen“, sagte Brinkhaus.
       Gleiches gelte für die USA.
       
       Auch die Rückschläge, die infolge der Einheit viele Ostdeutsche erlebt
       hätten, benannte der CDU-Politiker. „Ich möchte mich ausdrücklich dafür
       entschuldigen, dass wir das im Westen vielleicht zu lange nicht gesehen
       haben“, gestand Brinkhaus. Er bekommt längeren Beifall dafür.
       
       Auch Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt äußerte Verständnis, dass
       sich viele Menschen im Osten als Bürger zweiter Klasse betrachten, nicht
       nur in Sachen Repräsentation sei daher viel zu tun. Überhaupt plädierte die
       gebürtige Thüringerin dafür, mehr über die „Leistung der Ostdeutschen beim
       Wiederaufbau“ zu sprechen.
       
       Göring-Eckardt ging dabei auch auf die kulturelle Bedeutung des
       ostdeutschen Einflusses sein, nennt etwa den Song „Über sieben Brücken“ der
       DDR-Band Karat, die in der Version von Peter Maffay der „erste
       Kassenschlager Ost“ im Westen gewesen sei. Ihr persönliches Fazit von drei
       Jahrzehnten Einheit: Deutschland sei 2020 so frei, offen und vielfältig wie
       nie. Dennoch sei nicht alles perfekt. „Ein paar der sieben Brücken liegen
       noch vor uns“, resümierte die Grüne.
       
       ## Nur eine ostdeutsche Ministerin auf der Regierungsbank
       
       In Kontrast dazu drückte die AfD einmal mehr die Krawall-Taste. Zwar
       äußerte sich AfD-Co-Parteichef Tino Chrupalla noch gemäßigter, forderte
       etwa „eine Sonderwirtschaftszone Ost“. Sein Kollege Marc Jongen, selbst in
       Südtirol geboren, ging dagegen in die Vollen: Er sprach von einer
       neuerlichen „Staatsideologie“, die anstelle des Kommunismus aus
       „Klimareligion und Multikultidogma“ bestünde. Zudem fabulierte er von einem
       „antifaschistischen Schutzwall“ in den Köpfen.
       
       Dies wollte Außen-Staatsminister Michael Roth so nicht stehen lassen.
       „Diejenigen, die auf Abschottung und Rassismus setzen, sind keine deutschen
       Patrioten“, rief der SPD-Politiker der Rechtsaußen-Fraktion entgegen. Der
       AfD-Abgeordnete Bernd Baumann beschimpfte Roth daraufhin als „Hetzer“ – was
       Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble mit einem Ordnungsruf quittierte.
       
       Obwohl die Kanzlerin nicht vor Ort war, leistete sie via Zeitungsinterview
       einen Beitrag zur Debatte. [4][Dem Redaktionsnetzwerk Deutschland sagte
       sie]: „Ich bin die Bundeskanzlerin aller Deutschen, und ich finde es schön,
       dass eine Ostdeutsche Kanzlerin werden konnte – dazu aus einer Partei, der
       man das nicht unbedingt zugetraut hatte.“
       
       Auf der übrigen Regierungsbank dominiert dagegen auch 30 Jahre nach der
       Einheit noch der Westen: Neun Ministerinnen und Minister waren am Freitag
       anwesend – davon lediglich eine gebürtige Ostdeutsche: Familienministerin
       Franziska Giffey.
       
       2 Oct 2020
       
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 (DIR) Daniel Godeck
       
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