# taz.de -- Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien: Tödliches Pokern
       
       > In Bergkarabach mischen neben der Türkei und Russland zwei Regionalkräfte
       > kräftig mit. Iran und Israel verteidigen diskret ihre Interessen.
       
 (IMG) Bild: Im Luftschutzbunker: Armenier schauen sich die Ansprache von Aserbaidschans Präsidenten Alijev an
       
       ISTANBUL/JERUSALEM taz | Als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan
       kürzlich bei einer Veranstaltung seiner Partei auftrat, ließ er es sich
       nicht nehmen, auch den Krieg im Südkaukasus zu streifen. Er wies dabei den
       Vorwurf zurück, die Türkei heize den Konflikt an, weil sie Waffen an
       Aserbaidschan liefern würde. Nein, sagte Erdoğan, alle drei
       Verhandlungsführer der Minsker Gruppe, die USA, Frankreich und Russland,
       [1][die angeblich Frieden zwischen Armenien und Aserbaidschan stiften
       sollen,] hätten seit Jahren Armenien mit Waffen beliefert. Deshalb habe es
       30 Jahre keine Fortschritte bei den Verhandlungen gegeben.
       
       30 Jahre – so lange schwelt der Territorialkonflikt um das von Armeniern
       bewohnte Gebiet Bergkarabach, das von Joseph Stalin zu Sowjetzeiten der
       Teilrepublik Aserbaidschan zugeschlagen worden war. Anfang der 1990er Jahre
       brach ein Krieg aus, in dem unterschiedlichen Schätzungen zufolge zwischen
       25.000 und 50.000 Menschen getötet und über 1,1 Millionen vertrieben
       wurden. Im Verlauf des Krieges konnten die Truppen der Republik
       Bergkarabach mit der armenischen Armee große Teile des beanspruchten
       Gebiets unter ihre Kontrolle bringen.
       
       Wenn Erdoğan nun nach Jahrzehnten des Konflikts Vorwürfe macht, gehen die
       allerdings vor allem an Moskau, denn Frankreich und die USA haben sich
       schon seit Längerem aus dem Konflikt im Südkaukasus weitgehend
       zurückgezogen. Nicht genannt dagegen hat Erdoğan zwei weitere
       Regionalmächte, die hinter den Kulissen eifrig mitmischen: Iran und Israel.
       
       Tatsächlich ist der Vorwurf gegenüber Russland nicht unberechtigt. Russland
       stellte die Friedenstruppen an der Demarkationslinie und hat eine große
       Garnison in Armenien. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist diese
       Garnison mit 5.000 Soldaten nun Russlands einziger Stützpunkt im südlichen
       Kaukasus. Solange der Konflikt schwelt, hat Russland deshalb einen Zugriff
       auf die Region, käme es zum Frieden, müssten die Truppen früher oder später
       abziehen.
       
       ## Präsident Aliyev ist für die Türkei unverzichtbar geworden
       
       Verlierer dieser russischen Politik war bislang Aserbaidschan und sein
       autokratischer Führer Ilham Aliyev. Solange Russland den Status quo
       stützte, hatte Aliyev nur geringe Chancen, die im Krieg 1994/95 von den
       Armeniern eroberten aserbaidschanischen Gebiete zurückzugewinnen. Das
       setzte ihn innenpolitisch unter Druck, doch allein war das Land zu schwach,
       um militärisch erfolgreich zu sein.
       
       An diesem Punkt kommt Erdoğan ins Spiel. Die Türkei hat handfeste
       Interessen in der Region, nämlich die Öl- und Gaslieferungen aus dem
       Kaspischen Meer. Das Land deckt seinen Energiebedarf zunehmend mit
       Aserbaidschan statt mit Importen aus Russland, dem eigentlichen
       Großlieferanten des Landes. Bis Ende dieses Jahres soll eine Gaspipeline
       vom Kaspischen Meer in die Türkei fertiggestellt werden, über die Erdoğan
       dann alternativ zu Russland Gas beziehen kann.
       
       Ilham Aliyev ist in den letzten Jahren ein unverzichtbarer Partner für
       Erdoğan geworden. Nicht nur im Energiesektor, Aserbaidschan ist
       mittlerweile insgesamt einer der größten ausländischen Investoren in der
       Türkei. Ein großer Teil des Geldes aus Öl und Gas wird in der Türkei
       angelegt. Das ist umso wichtiger, je mehr westliche Investoren sich aus der
       Türkei zurückziehen.
       
       Der Zeitpunkt, zu dem Aliyev seine Truppen gegen Bergkarabach hat
       losschlagen lassen, ist nicht zufällig. Im Juli dieses Jahres hatte es
       nördlich von Karabach einen Zwischenfall gegeben, den der türkische
       Geheimdienst als möglichen Angriff auf die Ölpipeline BTC interpretiert
       hat, die von Baku über Georgien in die Türkei führt. Ein Albtraumszenario
       für Erdoğan und Aliyev.
       
       ## Erdoğan will Zugeständnisse von Putin
       
       Es folgten türkisch-aserbaidschanische Manöver und massive
       Waffenlieferungen an die aserbaidschanische Armee. Außerdem scheint Erdoğan
       der Moment günstig, um Putin unter Druck zu setzen. Der türkische Präsident
       will von seinem russischen Kollegen Zugeständnisse in Syrien und Libyen.
       
       Mit türkischer Unterstützung sind die aserbaidschanischen Truppen nun seit
       fast vier Wochen auf dem Vormarsch. Ein Waffenstillstand, den Putin
       durchsetzen wollte, kam bislang nicht zustande. Will Russland verhindern,
       dass die aserbaidschanischen Truppen die Armenier in und um Karabach
       ernsthaft in Bedrängnis bringen, muss Putin seinen Einsatz erhöhen. Das
       bedeutet mehr Waffenlieferungen, womöglich aber auch den Einsatz eigener
       Truppen, was der Kreml möglichst vermeiden will. Russland drängt die Türkei
       deshalb zu Gesprächen.
       
       Da es für Bergkarabach aber langsam kritisch wird, schaltet sich hinter den
       Kulissen nun auch noch Iran mit ein. Die turksprachigen Aserbaidschaner
       sind die größte ethnische Minderheit im Iran. Im Nordwesten des Landes,
       rund um die Metropole Täbris, leben mehr Aserbaidschaner als in
       Aserbaidschan selbst. Deshalb schaut Teheran misstrauisch darauf, ob unter
       ihnen Abspaltungsgelüste laut werden. Da ein siegreiches Aserbaidschan
       diese Fantasien beflügeln würde, gibt die islamische Republik Iran bereits
       jetzt der christlichen Republik Armenien diskrete Unterstützung.
       
       So wie Iran nach dem Motto „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“
       Armenien unterstützt, steht umgekehrt Israel an der Seite Aserbaidschans.
       Auf den ersten Blick sollte man vermuten, dass Israel an der Seite
       Armeniens steht. Der israelische Staat, der von zahlreichen
       Holocaustüberlebenden mitgegründet wurde, teilt mit den Armeniern die
       Erfahrung eines Genozids.
       
       Die systematische Ermordung der Armenier im Ersten Weltkrieg durch das
       Osmanische Reich kam einem Massenmord gleich. „Israel sollte es als seine
       moralische Pflicht sehen, den Genozid an den Armeniern anzuerkennen“, sagt
       Yossi Melman, Journalist der israelischen Tageszeitung Haaretz und Experte
       in Militär- und Geheimdienstangelegenheiten, der taz. „Bis heute ist dies
       nicht der Fall.“
       
       Über Jahrzehnte hinweg wollte Israel vor allem den strategischen
       Bündnispartner Türkei, der aus dem Osmanischen Reich hervorging, nicht
       verärgern. Mittlerweile aber ist der historische blinde Fleck vor allem
       darin begründet, dass Israel in Aserbaidschan einen Partner im Kampf gegen
       dessen Nachbarstaat Iran hat. „Der aserbaidschanische Geheimdienst hilft
       dem Mossad mit der Überwachung Irans, mitunter auch auf iranisches Gebiet
       vorzudringen“, so Melman: „Dafür verkauft Israel Waffen an Aserbaidschan.“
       
       Während israelische Stellen die Waffenlieferungen nicht offiziell
       bestätigen, bekundete Ende September der Assistent des aserbaidschanischen
       Präsidenten, dass das aserbaidschanische Militär in seiner Militärkampagne
       gegen Armenien israelische Drohnen einsetze. Bereits vor vier Jahren,
       während eines Staatsbesuches des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin
       Netanjahu in Baku, hat Präsident Aliyev erklärt, dass sein Land von Israel
       bis zu diesem Zeitpunkt Waffenlieferungen im Wert von rund 5 Milliarden
       Dollar erhalten habe. Armenien verurteilt den Verkauf von Waffen an
       Aserbaidschan scharf.
       
       Noch denkt Aliyev nicht daran, seine Truppen zurückzupfeifen oder einem
       echten Waffenstillstand zuzustimmen. Erdoğan bestärkt ihn darin. Erst
       einmal müssen aus Aliyevs Sicht relevante Geländegewinne abgesichert werden
       – und Erdoğan pokert um Zusagen von Putin im syrischen Idlib und in Libyen.
       [2][Die Verlierer dieses Pokers sind bislang vor allem die Armenier in
       Bergkarabach], die zumindest einen Teil der von ihnen besetzten Gebiete
       verlieren werden – und deren Heimat jeden Tag mehr zerbombt wird.
       
       27 Oct 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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