# taz.de -- Beraterin über sexualisierte Gewalt: „Strafe allein reicht nicht“
       
       > Sexualisierte Gewalt soll härter bestraft werden. Karima Stadlinger von
       > der Bremer Beratungsstelle Schattenriss kritisiert den Gesetzentwurf.
       
 (IMG) Bild: Mit einem Klick zur Straftat: Sexualisierte Gewalt bleibt ein leicht zu begehendes Verbrechen
       
       taz: Frau Stadlinger, was ist falsch daran, [1][Gesetze gegen sexualisierte
       Gewalt] zu verschärfen? 
       
       Karima Stadlinger: Daran ist erst einmal nichts grundsätzlich falsch,
       vieles von dem, [2][was jetzt im Gesetzentwurf steht], fordern wir seit
       Langem. Aber genau wie viele andere Beratungsstellen, die seit Langem in
       diesem Bereich arbeiten, kritisieren wir den Fokus auf härtere Strafen und
       befürchten, dass es dabei bleibt. In diesem Fall würde die
       Strafverschärfung die Situation der Opfer sexualisierter Gewalt noch
       verschlimmern.
       
       Das müssen Sie erklären. 
       
       Wenn höhere Strafen drohen, erhöht sich auch der Druck auf die Täter, sie
       haben noch mehr zu verlieren, etwa im Bereich des Besitzes und der
       Verbreitung von Darstellungen sexualisierter Gewalt an Kindern. Das heißt,
       dass sie sich einerseits noch mehr anstrengen werden, dass ihre Taten
       unentdeckt bleiben. Dazu werden sie unter anderem den Geheimhaltungsdruck
       auf ihre Opfer erhöhen, dass sie sich auf keinen Fall anderen mitteilen
       dürfen.
       
       Aber die höheren Strafen sollen doch auch abschrecken. 
       
       Ja, so ist die Argumentation. Aber wir wissen, dass Strafandrohung allein
       diese Verbrechen nicht verhindert. Sexualisierte Gewalt an Kindern ist eins
       der am leichtesten zu begehenden Verbrechen, weil es zum einen in der Regel
       keine Zeugen und Zeuginnen gibt. In den allermeisten Fällen sind es nahe
       Bezugspersonen, denen die Kinder vertrauen. Die Täter*innen gehen dabei in
       aller Regel sehr strategisch vor und reden ihnen beispielsweise ein, dass
       sie das auch wollen, und es völlig normal ist, alle Väter das mit ihren
       Töchtern machen oder dass niemand ihnen glauben wird.
       
       Also lieber keine Strafen verschärfen? 
       
       Doch, aber allen muss klar sein, dass Taten so weder verhindert noch in
       höherem Umfang aufgedeckt werden.
       
       Ich habe in einer [3][Stellungnahme des Dachverbands der Beratungsstellen
       gegen sexualisierte Gewalt] an Kindern und Jugendlichen gelesen, dass „nur
       ein Drittel der sexualisierten Gewalterfahrungen überhaupt anderen
       mitgeteilt wird und nur ein Prozent Ermittlungsbehörden oder Jugendamt
       bekannt wird“. 
       
       Das Dunkelfeld in diesem Bereich ist riesig. Man kann davon ausgehen, dass
       jeder ein Kind kennt, dem sexualisierte Gewalt angetan wurde oder noch
       wird. In jeder Klasse sitzen nach Schätzungen ein oder zwei dieser Kinder.
       Dazu kommt noch, dass nur ein Bruchteil der Taten vor Gericht landen und
       noch weniger verurteilt werden.
       
       Woran liegt das? 
       
       Grundsätzlich müssen Ermittlungsbehörden technisch und personell sehr viel
       besser ausgestattet werden. Die [4][Ermittlungen in Bergisch-Gladbach]
       haben gezeigt, dass besser verfolgt und aufgeklärt werden kann.
       
       Dort haben zeitweise 400 Polizist*innen in einer Ermittlungsgruppe
       gearbeitet, die nach letztem Stand 200 Tatverdächtige ermittelt hat und
       über 30.000 IP-Adressen von Personen kennt, die Dateien mit
       kinderpornografischem Inhalt ausgetauscht haben. 
       
       Den Begriff „Kinderpornografie“ verwenden wir übrigens nicht, weil er die
       Taten beschönigt. Das hat mit Pornografie nichts zu tun, es wäre
       wünschenswert, dass es im Gesetzestext als „Abbildungen von sexualisierter
       Gewalt an Kindern“ benannt wird. Es gibt aber noch einen weiteren Grund,
       warum so wenige Täter verurteilt werden, und das liegt daran, dass die
       Aussagepsychologie in Deutschland in den 50er-Jahren stecken geblieben ist.
       
       Was meinen Sie damit? 
       
       Es gilt der juristische Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“ und das
       bedeutet, dass die Betroffenen diesen Zweifel ausräumen müssen. Sie müssen
       erst einmal ihre Glaubhaftigkeit beweisen, der Aufbau der Verfahren
       unterstellt ihnen, dass sie als Zeug*innen nicht die Wahrheit sagen.
       
       Aber dieses Problem lässt sich doch nicht auflösen. 
       
       Jedenfalls nicht so einfach. Umso wichtiger ist es, dass Gutachter,
       Gerichte und Ermittlungsbehörden immer auf dem neuesten Stand zu
       Traumafolgestörungen sind und entsprechend traumasensibel vernehmen.
       Betroffene von sexualisierter Gewalt sind traumatisiert und das führt auch
       dazu, dass ihre Aussagen widersprüchlich sein können oder schwer in Worte
       zu fassen. Genau das müssen sie aber. Um über Taten urteilen zu können,
       gibt es, wenn es kein Bildmaterial gibt, meistens nur ihre Aussagen, das
       heißt, sie müssen Orte und Zeiten nennen und genau schildern, was jemand
       mit ihnen gemacht hat. Und dann liegt das Geschehen möglicherweise Jahre
       zurück, weil sich die Verfahren so lange hinziehen oder jemand sich erst
       spät anvertraut hat.
       
       Können Sie noch etwas zu Traumafolgestörungen sagen? 
       
       Traumafolgestörungen, also die Folgen von erlittenen Traumata sind
       mittlerweile sehr gut erforscht, auch durch die relativ guten
       Bildgebungsverfahren. Wir wissen, dass sich im Gehirn physisch etwas
       verändert, zum Beispiel wird das Sprachzentrum gestört, es verschlägt ihnen
       sprichwörtlich die Sprache. Je früher und je langanhaltender die Gewalt,
       desto größer sind diese Veränderungen. Auch das Gedächtnis ist gestört,
       manche Betroffene dissoziieren, also spalten Erinnerungen oder Gefühle ab,
       die ihnen nicht oder nur bruchstückhaft zugänglich sind. Erlebnisse werden
       unter extremem Stress anders in unserem Gedächtnis gespeichert, das ist
       eine Überlebensstrategie des Organismus, anders lässt sich das Erlebte
       nicht aushalten. Möglicherweise zweifeln sie selbst immer wieder an ihrer
       Wahrnehmung, eben weil ihnen so oft gesagt wurde, dass ihre Wahrnehmung
       nicht richtig ist. Deshalb ist es verheerend, wenn bei der Vernehmung
       gesagt wird: „Stimmt das denn, was du da sagst?“
       
       Nun steht auch im Gesetzentwurf, dass Richter*innen und Staatsanwält*innen
       besonders qualifiziert werden sollen. 
       
       Ja, aber leider fehlt eine genaue Ausgestaltung, es ist nicht verbindlich
       festgelegt, welche Qualitätsanforderungen erfüllt sein müssen. Aber ich
       möchte nicht falsch verstanden werden, es gibt viele gute Ansätze in dem
       Gesetzentwurf, unsere Hauptkritik richtet sich darauf, dass
       Strafverschärfung nur ein Baustein sein kann und sehr viel mehr für den
       Kinderschutz getan werden muss, auch mit sehr niedrigschwelligen Angeboten,
       in Schule und Kindergarten zum Beispiel und mit einer angemessenen
       Ausstattung der Jugendämter.
       
       Der unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs der
       Bundesregierung [5][teilt diese Kritik]. Er leitet daraus die Forderung
       nach Landesbeauftragten und Landesaktionsplänen ab. Braucht Bremen das? 
       
       In Bremen gibt es gute Ansätze, aber vieles steht und fällt mit engagierten
       Personen, die sich etwa in den Schulen des Themas annehmen. Ein
       Landesaktionsplan, der umgesetzt wird, und eine Landesbeauftragte sind
       wichtige Schritte. Da wünschen wir uns sehr, dass diese gut ausgestattet
       wird und nicht als Deckmäntelchen mit halber Stelle und ohne Budget.
       
       30 Oct 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Gesetz-gegen-sexuelle-Gewalt-an-Kindern/!5720401
 (DIR) [2] https://www.bmjv.de/SharedDocs/Artikel/DE/2020/102120_GE_Bekaemmpfung_Sex_Missbrauch.html
 (DIR) [3] https://www.bundeskoordinierung.de/de/article/291.stellungnahme-zum-referentenentwurf-des-bundeministerium-der-justiz-und-f%C3%BCr-verbraucherschutz-entwurf-eines-gesetzes-zur-bek%C3%A4mpfung-sexualisierter-gewalt-gegen-kinder.html
 (DIR) [4] /Urteil-im-Komplex-Bergisch-Gladbach/!5718799
 (DIR) [5] https://beauftragter-missbrauch.de/presse/pressemitteilungen/detail/roerig-ruft-mit-positionspapier-2020-die-bundes-und-landespolitik-zum-resoluten-handeln-auf
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Eiken Bruhn
       
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