# taz.de -- Zerstörte Schutzgebiete in Kolumbien: Wenn die Quelle versiegt
       
       > Das Wasser für die Bewohner*innen in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá kommt
       > aus umliegenden Wäldern. Doch die fallen Landraub zum Opfer.
       
       Der Parque Entrenubes im Süden von Bogotá gleicht einer offenen, staubigen
       Wunde. Wie gelbe Narben ziehen sich die provisorischen Wege über den
       braunschwarzen Kessel, aus dem vereinzelt noch verkohlte Bäume ragen. Auf
       der ausgebrannten Erde häufen sich abgehackte, ausgebleichte Äste und
       Gestrüpp. Was verloren ging, als die Eindringlinge kamen, sieht man, wenn
       man an den Rand dieser Mondlandschaft blickt. Dort zieht sich dunkelgrün
       und üppig der Wald den Berg bis zum Páramo Sumapaz hoch. Der Páramo ist die
       alpine Hochlandsteppe, in der ein Teil des Trinkwassers der kolumbianischen
       Hauptstadt entspringt.
       
       Doch die Wasserquelle ist in Gefahr. Schuld ist die Landmafia.
       
       „Diese Verbrecher haben die Leute mit Bussen hierhergebracht“, sagt John
       Castiblanco von der Umweltschutz-Stiftung Red del Agua (Wasser-Netzwerk).
       „Dann fällten sie die Bäume. Und was sie nicht fällen konnten, brannten sie
       nieder. Wie die Fackelträger bei den Olympische Spielen sind sie hier
       herumgelaufen.“
       
       Die Knochenarbeit erledigten die Ärmsten der Armen, mit Hacken, Macheten
       und Schaufeln: mindestens 400 kolumbianische Binnenflüchtlinge und
       Migrant*innen aus Venezuela.
       
       Die Landräuber hatten ihnen ein Dach über dem Kopf versprochen. Denn wegen
       der [1][monatelangen Coronaquarantäne] konnten sie ihre Miete nicht mehr
       bezahlen und waren aus ihren Wohnungen geworfen worden. Männer mit
       Schusswaffen wiesen ihnen nun die Parzellen zu und sammelten das Geld ein.
       Umgerechnet 11 Euro für ein Grundstück, das in Deutschland für ein
       Gartenhaus reichen würde.
       
       ## 80.000 gefällte Bäume in wenigen Tagen
       
       Als die Umweltbehörde nach ein paar Tagen mit Polizei und Armee kam, waren
       auf gut 18 Hektar schon 80.000 Bäume des hoch gefährdeten Anden-Hochwalds
       gefällt. Die Umweltbehörde ließ neun Menschen festnehmen und riss etwa 300
       Hütten aus gefällten Stämmen, Plastikplanen und Blech wieder ab. Das war im
       Juni. Die Plastikbänder zum Abgrenzen, die Plateaus und der Müll sind immer
       noch dort.
       
       „Sie haben die Arbeit von 20 Jahren Wiederaufforstung zerstört und Quellen
       verschüttet“, sagt Umweltschützer John Castiblanco. Der Mann mit langen
       schwarzen Haaren und Tätowierungen ist Künstler und einer der Anführer der
       Umweltbewegung in seinem Stadtteil. Es liegt in der Familie: Schon in
       dritter Generation setzen sich die Castiblancos für die Umwelt in ihrer
       Nachbarschaft ein. „Ich will das hier für meine Tochter bewahren“, sagt
       Castiblanco und deutet auf den Wald.
       
       Ein Ortstermin für diese Recherche mit der Umweltbehörde des Distrikts
       Bogotá hat nicht geklappt: Man könne die Sicherheit nicht gewährleisten,
       antwortete der Pressesprecher nach Tagen. Doch John Castiblanco und sein
       Mitstreiter Camilo Montes vom Red del Agua führen regelmäßig Gruppen durch
       den Park, um ihnen die Natur vor ihrer Haustür zu zeigen, die sie oft noch
       nie betreten haben – und zuletzt, um Helfer*innen für Pflanzaktionen
       anzuwerben.
       
       Oben an der Bergkante sind zwei winzige gelbe Punkte zu sehen. Das sind
       Polizisten, deren Schutz die beiden vor dem Besuch angefordert haben.
       Sollte den beiden Umweltschützern hier unten etwas passieren, kämen sie
       wohl kaum rechtzeitig. Kolumbien ist laut der Nichtregierungsorganisation
       Global Witness für Umweltschützer*innen das gefährlichste Land der Welt.
       
       „Was im Parque Entrenubes passiert, ist ein Spiegelbild dessen, was in
       Kolumbiens Nationalparks passiert“, sagt Carolina Urretia. Sie leitet die
       Umweltbehörde des Distrikts Bogotá. „Wir hatten schon immer das Problem,
       dass sich Menschen illegal in den Schutzgebieten niedergelassen haben. Die
       Corona-Pandemie hat dieses Problem in ganz Bogotá verschärft.“ Was im Juni
       im Parque Entrenubes passierte, war der Höhepunkt.
       
       Ihre Behörde habe das von Anfang an mitbekommen, versichert Urrutia. Doch
       handeln konnte sie erst mal nicht. Erstens war es ohne Polizeischutz zu
       gefährlich, weil dahinter „sehr reiche und mächtige Leute“ stecken.
       Zweitens hatte die Landmafia, die laut Urrutia eng mit dem Drogenhandel
       zusammenhängt, besonders verwundbare Gruppen unter falschen Versprechungen
       ins Schutzgebiet gekarrt, darunter Familien mit Kindern. „Wir können diese
       Menschen nicht einfach vertreiben, sondern müssen ihnen eine Lösung
       anbieten“, sagt Urrutia. Dafür mussten Wohn- und Sozialbehörde
       eingeschaltet werden. Das dauerte.
       
       ## Río Bogotá, einer der dreckigsten Flüsse weltweit
       
       Umso gravierender wurden die Schäden. Zwei der fünf Quellen, die im Park
       entspringen, befinden sich in diesem Teil des Schutzgebiets, sagt Reinaldo
       Gelvez, Sachgebietsleiter für Wasser- und Bodenressourcen in der
       Umweltbehörde. Sie speisen Bäche, die in den Río Tunjuelo fließen – den
       wasserreichsten Zufluss des Río Bogotá. Die Menschen in den illegalen
       Siedlungen verschmutzen mit Müll und mit Abwasser die Quellen im Parque
       Entrenubes.
       
       Zwar beziehen die Stadtwerke das Wasser für Bogotá nicht aus dem Parque
       Entrenubes, sondern viel weiter oben aus den Páramos. Aber die
       Zerstörungen, sagt Reinaldo Gelvez, gefährden das Mammutprojekt der Stadt,
       den Río Bogotá sauber zu bekommen, einen der dreckigsten Flüsse der Welt.
       
       Wenn Quellen überbaut oder verschüttet werden, sucht sich das Wasser einen
       anderen Weg, nämlich in den Untergrund. Dadurch verändert sich die
       Verbindung zu Flora und Fauna, sagt Gelvez. Es entsteht Erosion, die
       Sedimente in die Quellen einbringt und diese weiter schädigt. Dadurch wird
       ein Teil des natürlichen Sauerstoffs im Wasser verbraucht. Ist die
       Vegetation weg, kommt es bei hohen Niederschlägen zu Sturzfluten.
       
       Vor allem zerstören die illegalen Siedlungen das fragile, unersetzliche
       Ökosystem des Hochandenwalds, ergänzt Natalia Ramírez, Abteilungsleiterin
       Ökosysteme und ländlicher Raum. Die Tier- und Pflanzenwelt dieser
       Übergangszone ist hoch sensibel. Die Veränderungen können Erdrutsche
       auslösen. Nicht zuletzt verschlechtern Eingriffe in das Ökosystem der
       Bergkette Cerros Orientales östlich von Bogotá die Luftqualität und erhöhen
       die Temperatur in der Stadt.
       
       Nach Schätzungen der Stadtviertelregierung Usme war der Parque Entrenubes
       1989 noch 1.400 Hektar groß. Heute sind es nur noch 623 Hektar, von denen
       ein kleiner Teil der Naherholung und Umweltbildung dient. Wenn es in diesem
       Tempo weitergeht, ist das größte Schutzgebiet im Süden der Stadt in etwa
       zehn Jahren verschwunden, warnt die Regierung.
       
       Bogotá ist Wildwuchs. Aus den unsicheren Regionen ziehen weiter Menschen in
       die Hauptstadt. „Aber in Bogotá ist kein Boden mehr verfügbar“, sagt Oscar
       López, der bis vor kurzem Abteilungsleiter in der Umweltbehörde war.
       
       Von Bogotás 6.033 Vierteln waren 1.638, gut ein Viertel, ursprünglich
       illegal. Unter Enrique Peñalosa, Vorgänger der aktuellen Bürgermeisterin
       Claudía Lopez, wurde der Wohnraum von 16.000 Menschen nachträglich
       legalisiert und sie bekamen Wasser-, Kanal-, Strom-, Gas- und
       Telefonanschlüsse. Peñalosa ließ sich dafür feiern. Doch diese
       Vorgeschichte macht es schwer zu vermitteln, dass Verbote für immer gelten.
       
       ## Mafia im Schutzgebiet
       
       Am Rand des verkohlten Schutzgebiets haben sich schon vor zwölf Jahren
       indigene Huitoto aus der Amazonas-Region illegal niedergelassen. Sie waren
       vor der Guerilla geflohen. Ihre Siedlung aus Hütten mit Blechdächern und
       Plastikwänden krallt sich mit Hilfe von Sandsack-Plateaus in den steilen
       Berghang. Musik schallt übers Tal, auf manchen Hütten sitzen
       Satellitenschüsseln. Kinder spielen im Dreck. Müll türmt sich. Von oben
       gurgelt ein steter Fluss an Abwasser ins Schutzgebiet.
       
       Das Wasser hat sich längst Kanäle ins Erdreich gebahnt. Wo keine Bäume mehr
       da sind, um sie festzuhalten, brechen immer mehr Schollen ab. Die Sonne
       brennt auf 2.600 Meter auf die nun nackte Erde und dörrt sie aus. Wenn es
       regnet, dringt das Wasser nicht mehr richtig in die verdichtete Erde ein.
       Dazu kommt der Wind, der ungebremst fegt.
       
       Umweltschützer John Castiblanco kniet über einem handhohen Pflänzchen, das
       einmal ein Baum werden soll. Er freut sich über jeden Sprössling, der sich
       durch die ausgedörrte Erde kämpft. „Die Natur ist unglaublich
       widerstandsfähig“, sagt Castiblanco. Zusammen mit ehrenamtlichen
       Helfer*innen aus der Nachbarschaft haben er und seine Mitstreiter*innen
       bereits 700 Bäume gepflanzt. „Etwa 44.000 sind nötig, um den zerstörten
       Wald wieder aufzuforsten“, sagt er. Dann deutet er auf eine Stelle, wo sich
       Eindringlinge seit seinem letzten Besuch zu schaffen gemacht haben. Das
       geknickte Pflänzchen richtet er behutsam auf.
       
       Immer wieder werfen die beiden Männer vom Wasser-Netzwerk einen Blick
       zurück und nach oben. An der Kante des Bergs ziehen sich immer mehr bunte
       Punkte zusammen. „Sie beobachten uns genau“, sagt Castiblanco und rät dem
       Fotografen, die Kamera nicht nach oben zu richten. Sie – das sind wohl
       Menschen, die in dem illegalen Slum am Hang schon leben, wohl auch Spitzel
       der Mafia und womöglich Mitglieder bewaffneter Banden.
       
       Pssst, sagt er auf einmal. Unterhalb, wo sich taz-Fotograf Andrés BO und
       Camilo Montes mit dem Hund befinden, nähern sich drei Männer, die Hand
       bedrohlich an ihren Macheten. John Castiblanco geht schnell auf sie zu und
       erklärt, dass er und der Kollege von einer Stiftung seien, nicht von der
       Stadt, und die beiden anderen von der ausländischen Presse. Die
       Körperhaltung der Männer entspannt sich. Sie wohnen oben in der
       Huitoto-Siedlung, sagen sie. Einer von ihnen stammt vom Amazonas, einer aus
       der Region Tolima und der dritte aus Venezuela. „Ihr könnt hier nicht
       weitergehen“, sagt der eine. Hinter der Kurve seien Männer mit
       Schusswaffen.
       
       Genau von hinter der Kurve waren sie selbst gekommen. Zwei von ihnen tragen
       einen entasteten Stamm. 20.000 Pesos, weniger als fünf Euro bringe der
       ihnen im Verkauf ein. Der Baum sei schon gefällt gewesen, als sie ihn
       fanden. Schlimm sei, was hier passiert sei, sagen sie. Von den Bränden
       hätten sie nichts mitbekommen. Sie selbst hätten in der Nähe ihrer Siedlung
       300 Bäume gepflanzt, um die Natur zu schützen.
       
       „Oh Gott, mein Herz flattert immer noch wie ein Vögelchen“, sagt
       Castiblanco, als die Männer verschwunden sind. Er muss sich erst einmal
       beruhigen. Alles gelogen, sagt er. „Sie wollten einfach nicht, dass wir
       weitergehen.“ Hinter dem Hügel zieht eine dunkle Rauchsäule hoch, es riecht
       nach Eukalyptus. Der Raubbau geht weiter, auch ohne Landmafia von
       außerhalb.
       
       „Ein hochandines Waldgebiet mit diesen besonderen Charakteristika
       aufzuforsten, dauert Jahrzehnte – und das Ergebnis wird nie wieder sein,
       wie es einmal war“, sagt Natalia Ramírez von der Umweltbehörde. „Allein ein
       Schopfrosettenbäumchen braucht 35 bis 50 Jahre – es wächst nur einen
       Zentimeter pro Jahr.“
       
       Die Instandsetzung koste in drei Jahren pro Hektar 60 bis 70 Millionen
       Pesos (13.300 bis 15.600 Euro) – und die Restauration dauere 15 bis 20
       Jahre. „Derzeit haben wir das Ziel, 5 Hektar zu renaturieren“, sagt Ramírez
       – von 18 Hektar. Für diese Fläche sei Geld da, um den Bereich zu
       überwachen. Die Sicherheitsbehörde, die Wohnbehörde sowie die Sozialbehörde
       seien zur Überwachung permanent vor Ort. Seit zwei Wochen habe es keine
       weiteren Invasionen gegeben. Beides Aussagen, die John Castiblanco vom
       Wasser-Netzwerk verneint.
       
       Das Schutzgebiet Tag und Nacht durch Polizei oder Armee bewachen zu lassen,
       kommt für Carolina Urrutia, die Leiterin der Umweltbehörde, nicht infrage:
       „Eine Militarisierung bringt nur noch mehr Probleme und Gewalt. Wir
       brauchen einen Kulturwandel.“ Die Menschen in der Nachbarschaft müssten
       sich das Schutzgebiet aneignen. „Sie dürfen nicht denken, dass das
       Niemandsland ist, sondern ihres. Dann verteidigen sie es und informieren
       uns auch, wenn es bedroht ist.“
       
       Ähnlich sieht es auch John Castiblanco: „Der Staat muss den Menschen
       endlich ein Dach über dem Kopf garantieren und sichere Arbeit. Und man muss
       ihnen von klein auf Liebe und Respekt der Natur einpflanzen.“
       
       28 Oct 2020
       
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