# taz.de -- Verfassungsreferendum in Chile: Ein Erdrutschsieg reicht nicht
       
       > Mit großem Abstand stimmt die Bevölkerung in Chile für die Ausarbeitung
       > einer neuer Verfassung. Doch es braucht weiter viel Druck von der Straße.
       
 (IMG) Bild: Demonstrierende freuen sich über den Ausgang der Abstimmung zur Ausarbeitung einer neuer Verfassung
       
       Es ist ein historischer Etappensieg der [1][sozialen Rebellion in Chile].
       Mit überwältigender Mehrheit hat sich die Bevölkerung in einem Referendum
       für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung entschieden. [2][“Apruebo – Ich
       stimme zu“] war der Slogan der Befürworter*innen, und knapp 80 Prozent der
       Stimmberechtigten taten es. Sie stimmten dafür, dass die neue Verfassung
       von einem neu gewählten Verfassungskonvent verfasst werden soll und nicht
       von einem Mix aus Kongressabgeordneten und hinzugewählten Delegierten.
       
       Ein Grund zum Feiern ist auch die Differenz von fast 60 Prozentpunkten zu
       den Gegnern. Sie zeigen, wie heftig die Niederlage für die der Ablehnenden
       ausgefallen ist. Denn dass am Sonntag lediglich darüber abgestimmt wurde,
       ob eine neue Verfassung überhaupt ausgearbeitet werden soll – und nicht
       gleich die Mitglieder für einen Verfassungskonvent gewählt wurden –, war
       dem Druck der extremen und Pinochet-treuen Rechte in der
       Regierungskoalition von Präsident Sebastián Piñera geschuldet.
       
       Als neoliberaler Musterknabe hatte Chile die Vorgaben der sogenannten
       Chicago-Boys um den US-Ökonomen Milton Friedman konsequent umgesetzt und
       dabei auf brutale Repressionen wie in der Diktatur von Augusto Pinochet
       (1973–1990) zurückgegriffen. Es ging sogar so weit, dass die Herrschaft des
       Marktes 1980 in der Verfassung festgeschrieben wurde. Auch 30 Jahre nach
       der Pinochet-Diktatur ist noch immer nahezu alles in privater Hand.
       
       Chile Armenstatistik ist derart irreführend gestrickt, dass selbst
       Minimalverdienende über der Armutsgrenze liegen. Das Bildungssystem ist ein
       derart übles Geschäftsmodell, dass die Lernenden am Ende ihrer Ausbildung
       hochverschuldet auf den Arbeitsmarkt entlassen werden. Sie sind dann
       gezwungen, Jobs jeglicher Art anzunehmen – egal unter welchen Bedingungen.
       Und am Ende des Arbeitslebens führt das private Rentensystem direkt in die
       Altersarmut. Die Oase des Friedens, als die Piñera Anfang Oktober letzten
       Jahre das Land lobte, entpuppte sich als Fata Morgana.
       
       Schon vor Jahren hatte es in der Gesellschaft immer stärker zu brodeln
       begonnen. Am Ende war es eine selbst für chilenische Verhältnisse geringe
       Preiserhöhung der [3][U-Bahn-Tickets um 30 Peso], die vor einem Jahr die
       Eruption auslöste.
       
       Überrascht vom dem gewaltigen und gewalttätigen Ausmaß waren denn auch nur
       die, die eine Oase zu sehen glaubten. Die ökonomisch-politische Elite
       begriff aber schnell, dass es ans Eingemachte geht. Entsprechend brutal und
       menschenrechtsverletzend ließ sie die Ordnungskräfte agieren, allen voran
       die militärisch auftretenden Carabineros. Deshalb war die Heftigkeit der
       sozialen Eruption auch notwendig, um diese Elite zu grundlegenden
       Zugeständnissen zu zwingen wie die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Die
       kann mit der Wahl eines Verfassungskonvents jetzt in Angriff genommen
       werden. Damit dies geschieht, braucht es auch weiter den Druck von der
       Straße.
       
       26 Oct 2020
       
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 (DIR) Jürgen Vogt
       
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