# taz.de -- Die Wahrheit: Dem Dativ zum Gruße
       
       > Neues von der Sprachkritik: Nach dem Genitive muss auch dem Wemfall
       > gehuldigt werden, bevor er endgültig dem Tode verfällt.
       
 (IMG) Bild: Manche Zungen malen gern antiquierte Schnörkel
       
       Lob und Preis dem Dativ-e: Obwohl seit über hundert Jahren auf dem
       absterbenden Aste, lebt das e-Morphem noch immer! Von einem Provinzjournale
       wie dem Göttinger Tageblatte bis zum im ganzen Lande gelesenen Spiegel hält
       man ihm im Hause der deutschen Sprache bis zum heutigen Tage ein Plätzchen
       frei. Manchen Worten klebt es schier am Arsche: „Sie rang mit dem Tode“,
       schreibt die taz im Zuge eines Nachrufs auf die Anfang Oktober verstorbene
       Ruth Klüger und erinnert an einen schweren Unfall, den die Schriftstellerin
       und Literaturwissenschaftlerin im Jahre 1988 in Göttingens Altstadt
       erlitten hatte, weil sie an einer Straßenecke einem Radfahrer im Wege
       stand.
       
       Dem Tode sitzt das ehrfurchtgebietende e wie angegossen. Ähnlich
       tiefsitzender Respekt vor dem Unabänderlichen war es wohl, der den
       Sprachkritiker Gustav Wustmann in der 1908 erschienenen vierten Auflage
       seines Buches bewog, als Beispiel für das erhaltenswerte e-Schwänzchen den
       Satz zu formulieren, „daß die berechtigen Interessen des Volks ihre beste
       Stütze im Throne finden“.
       
       Heutzutage stehen einem darob die Haare zu Berge; in diesem Geiste zu
       sprechen und vor der Obrigkeit zu Kreuze zu kriechen, tut nicht mehr not.
       Im Punkte der Notwendigkeit einer Infragestellung von Autorität und
       Herrschaft haben sich die Zeiten in diesem unseren Lande mit seinem „dem
       deutschen Volke“ gewidmeten Reichstage denn doch geändert. Ablesen lässt
       sich das auch an August Heinrich Hoffmann von Fallerslebens miserablem
       „Lied der Deutschen“, das ihnen gleich in der ersten Strophe auftrug, dass
       es „stets zum Schutz und Trutze / brüderlich zusammenhält“ – und andere
       Länder überfällt, was der Einheit bekanntermaßen auf dem Fuße folgte.
       
       ## Vermeider des Schnörkels
       
       Noch Wustmann war in seinem Kampfe gegen das, was er „Allerhand
       Sprachdummheiten“ nannte, gegen die Vermeider des Dativ-Schnörkels zu Felde
       gezogen und tadelte, „daß immer mehr die Neigung um sich greift, das
       Dativ-e ganz wegzuwerfen und zu sagen: vor dem König, in dem Buch, aus dem
       Haus, nach dem Krieg, nach dem Tod, im Jahr, im Recht, im Reich, im Wald,
       auf dem Berg, am Meer“. Dem sei, wie ihm wolle, fest steht, dem Manne
       konnte geholfen werden:
       
       Der Historiker Sönke Neitzel salbadert in seinem jüngst erschienenen Buche
       über deutsche Militärgeschichte über das richtige „Verständnis vom Kriege“,
       und in einem weniger gefährlichen, auf WDR 5 besprochenen Kriminalroman
       zeigt die beim Ehebruch fotografierte Gattin ungerührt „die Fotos ihrem
       Ehemanne“; wie ihm „bei diesem Befunde“ (Wikipedia im Lexikonbeitrage über
       den Dativ) zumute war, steht dahin.
       
       Ob es nun fehl am Platze ist oder nicht: Im Grunde genommen klebt im Falle
       eines Falles das -Anhängsel einfach alles. Es ist sogar im Internette zu
       Hause und tritt selbst in der Duden-„Grammatik“ von 2016 zutage, der, statt
       dem e zu Leibe zu rücken, anders zu Werke geht und solche im Netz
       gefangenen Sätze billigt: „Was ist, wenn der Wolf aus dem Walde kommt?“ –
       „Wir hatten am Eingange des Tales einen Posten aufgestellt.“ – „Der Diener
       konnte nun leicht vor dem Könige seine Unschuld beweisen.“ War es
       vielleicht doch die Ausgabe aus dem Jahre 1916?
       
       Allen Unkenrufen zum Trotze ist also der Dativ-Arabeske als einem
       ehrwürdigen Merkmale noch nicht das letzte Amen gesprochen worden, gereicht
       es doch offenkundig einem gepflegten oder auch nur gewollt gehobenen
       sprachlichen Ausdrucke zum Wohle. Nicht zuletzt gereicht es zur Lyrik,
       bekanntlich „am Brunnen vor dem Tore“.
       
       ## Unbegründete Sorgen
       
       Man muss sich deshalb des Datives wegen keine Sorgen machen, wegen dem
       Dativ aber womöglich schon. „Entgegen des Eindrucks“ (so zum Beispiel
       jüngst in dem Buch „Made in Germany“ über deutsche Technikgeschichte), dass
       nur der Dativ dem Genitiv sein Tod ist, ist nämlich auch der Genitiv des
       Dativs Tod.
       
       Wer ein Liebhaber von dem Wemfall ist und gern dem Dativ gedenkt, vernimmt
       die Botschaft sicherlich gern, dass beispielsweise die „wegen“-Präposition
       „gemäß des Befundes“, nein: gemäß dem Befund des Linguisten Daniel Scholten
       („Denksport Deutsch“) sprachgeschichtlich richtig den Dativ erfordert;
       dito, wie zu ergänzen ist, die Verhältniswörter „nahe“ („dem Fluss“) oder
       trotz („heftigen Regem“, hoppla: „heftigem Regen“).
       
       Also Obacht und trau, schau, wem oder wessen! Sie, liebe Wahrheit-Leser,
       sind nun im Bilde über den Kampf, der zwischen Genitiv und Dativ in vollem
       Gange ist, und ebenso über den um den e-Kringel im Dative. Um zu Rande zu
       kommen: Gut dem Dinge! Denn solche Kämpfe und Konflikte fördern das
       Sprachbewusstsein und fordern den Geist; ja sogar, wenn Sie jetzt
       genitivisch fragen: wessen Geist? So lautet die dativische Antwort: Sie
       schärfen uns den Geist!
       
       Alles klar? In diesem Sinne!
       
       17 Nov 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Peter Köhler
       
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