# taz.de -- Konflikt um Bergkarabach: Krieg aus der Ferne
       
       > Einst ist die armenische Familie Esajan nach Hannover geflohen. Der
       > wieder entfachte Krieg um Bergkarabach schweißt sie neu zusammen.
       
 (IMG) Bild: Die armenische Familie Esajan in der Wohnung der Mutter in Hannover
       
       Geflüchtet sein ist ein Geisteszustand, etwas, das für immer bei einem
       bleibt. Menschen, die vor Jahrzehnten wegen eines Krieges ihr Land
       verlassen haben, fühlen sich immer wieder neu vertrieben, wenn ihre Heimat
       unter Trommelfeuer liegt. Ivan Esajan, der vor 32 Jahren mit seiner Familie
       von Aserbaidschan nach Deutschland floh, würde das bestätigen, aber er ist
       in Eile. Unnötigerweise. Denn er hat vergessen, die Uhr auf Winterzeit
       umzustellen.
       
       Es ist ein Sonntagmorgen Ende Oktober, Ivan Esajan will keine Sekunde mehr
       verlieren. Heute trifft sich seine Familie. Der 62-jährige Armenier hat
       sich vor etwa zehn Jahren von seiner Frau getrennt, seitdem wohnt er in
       Hamburg. Dort hat er eine andere Frau kennengelernt, er ist glücklich mit
       ihr. Doch seit einigen Wochen sind seine Gedanken immer häufiger bei seiner
       Familie in Hannover, wo seine Ex-Frau, seine drei Töchter und Enkelkinder
       leben. Der Krieg, wegen dem sie einst ihre Heimat verlassen haben, tobt
       erneut.
       
       Am 27. September begannen zwischen Armenien und Aserbaidschan erneut
       heftige Kämpfe um die Region Bergkarabach. Immer wieder wird diese zum Ziel
       schwerer Luftangriffe durch das aserbaidschanische Militär. Viele Städte
       und Dörfer werden dem Erdboden gleichgemacht. Am 10. November handeln die
       Kriegsparteien und Russland dann einen Waffenstillstand aus, der einen
       Gefangenenaustauch vorsieht. Davon aber weiß Ivan an diesem Oktobermorgen
       noch nichts. Und für jemanden wie ihn ist ein Waffenstillstand in einem
       immer wieder aufflammenden und weiterhin ungelösten Konflikt keine
       dauerhafte Lösung.
       
       Tatsächlich schwelt der Territorialkonflikt um das heute von Armenier*innen
       bewohnte Gebiet seit mehr als 30 Jahren. Kurz vor dem Zerfall der
       Sowjetunion attackierten aserbaidschanische Milizen 1988 die armenischen
       Minderheiten in Aserbaidschan. Der Krieg begann 1992, zwischen 25.000 und
       50.000 Menschen starben, über eine Million wurden vertrieben. Wie die
       Familie Esajan.
       
       Ivan Esajan machte sich mit seiner Frau und zwei Kleinkindern aus dem
       aserbaidschanischen Ganja auf die Flucht in die DDR. Er rettete so seine
       Familie vor der ethnischen Säuberung, die die aserbaidschanische Regierung
       durchführte, weil sich Armenier*innen in der Autonomieregion Bergkarabach
       von dem sowjetischen Aserbaidschan trennen wollten. 1991 hatte Bergkarabach
       – wie auch Aserbaidschan und Armenien – seine Unabhängigkeit als Republik
       erklärt, die allerdings bis heute von keinem Staat der Welt anerkannt wird.
       
       Mit Hilfe der Minsk-Gruppe der OSZE, der auch die USA, Frankreich und
       Russland angehören, wurde 1994 ein Waffenstillstand ausgehandelt, der immer
       wieder gebrochen wird.
       
       „Erst wenn die internationale Gemeinschaft die Unabhängigkeit von
       Bergkarabach anerkennt, wird es einen dauerhaften Frieden in der Region
       geben“, sagt Ivan Esajan. Dann will er los und steckt den Schlüssel in das
       Zündschloss. Bevor er aufs Gaspedal seines Fiat Tipo drückt, noch das:
       „Auch für uns gilt das Selbstbestimmungsrecht.“ Dabei betont er jedes
       einzelne Wort.
       
       Er versucht, den kürzesten Weg von der Stadtmitte zur Autobahn zu finden,
       und ärgert sich über das Navigationsgerät, das ihm falsche Routen anzeigt.
       Dabei merkt er nicht, dass er sich selbst immer wieder vertippt.
       
       Wenn es doch nur so einfach wäre, wie Ivan Esajan denkt. Sein Argument
       parieren Aserbaidschaner*innen mit dem Hinweis auf eine weitere
       Vorschrift des Völkerrechts: Die territoriale Integrität ihres Landes.
       Genau dafür kämpfen sie – mit allen Mitteln. Aserbaidschan setzte zuletzt
       Phosphorbomben und Streumunition in Bergkarabach ein. Internationale
       Organisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch haben
       entsprechende Berichte vorgelegt. Die Behörden in Bergkarabach sprachen von
       1.172 getöteten Soldaten.
       
       Esajan kommt weder aus Bergkarabach, noch hat er in Armenien gewohnt. Seine
       Heimatstadt ist Ganja, die zweitgrößte Stadt Aserbaidschans, die heute
       armenische Truppen unter Beschuss nehmen. „Mein Herz tut weh, weil Ganja
       bombardiert wird. Aber die Armenier müssen sich verteidigen“, sagt er.
       
       Ivan Esajan hat einen russischen Namen wie viele seiner armenischen
       Vorfahren in Ganja. Bis 1918 war Ganja, damals Elisawetpol, eine
       Verwaltungseinheit des zaristischen Russlands im Südkaukasus, benannt nach
       Zar Alexanders Frau Elisaweta. Zu Sowjetzeiten hieß die Stadt Kirowabad –
       zu Ehren des bolschewistischen Parteifunktionärs Kirow.
       
       Traditionell wohnten dort Armenier*innen und Aserbaidschaner*innen zusammen
       – nur getrennt durch den Fluss Ganja. „Am rechten Ufer lebten wir, am
       linken Aserbaidschaner“, sagt er, „und die Russen waren überall.“
       
       Esajan ist klein, dünn, glatt rasiert. Durch seine Brille blickt er
       konzentriert auf die Straße. Er fährt hinter einem Bootstransporter her,
       den er nicht überholen will. Bald verengt eine Baustelle die Fahrbahn auf
       zwei Fahrstreifen. Am Innenspiegel hängt eine große Kreuzkette. „Sogar mein
       kommunistischer Vater hat das Kreuz angebetet“, sagt er und greift mit
       seinen Fingern nach dem schwankenden Anhänger. „Die Menschen waren damals
       gezwungen, an die kommunistische Ideologie zu glauben“, sagt er. Sein Vater
       aber wehrte sich gegen die sowjetische Propaganda, um als Angehöriger der
       armenischen Minderheit in Aserbaidschan seine christliche Identität zu
       bewahren.
       
       Nach der Sowjetisierung des Südkaukasus gliederten die Kommunisten am 4.
       Juli 1921 Bergkarabach in die armenische Sowjetrepublik ein. Als Antwort
       darauf protestierten die aserbaidschanischen Vertreter in Moskau und
       meldeten ihren Anspruch auf Bergkarabach an. Am nächsten Tag schlug Josef
       Stalin Bergkarabach als armenisches Autonomiegebiet der Sowjetrepublik
       Aserbaidschan zu.
       
       In der Sowjetunion galt 70 Jahre lang „Brüderlichkeit zwischen Völkern“.
       Doch ihren alten Streit vergaßen Aserbaidschaner*innen und Armenier*innen
       nicht. Schon vor Kriegsbeginn brachen Hass und Feindseligkeit zwischen
       Armenier*innen und Aserbaidschaner*innen aus, 1988 wurden Pogrome an
       Armenier*innen verübt, vor allem dort, wo sie größere Communitys bilden: in
       Sumgait, in Baku und in Ivans Stadt Ganja – damals Kirowabad.
       
       Dezember 1988. Ivan Esajan, der als sowjetischer Offizier im
       brandenburgischen Jüterbog stationiert ist, fliegt nach Hause, um seine
       Familie in die DDR zu holen. „Als ich nach Ganja kam, sah ich die
       zerstörten Häuser. Aserbaidschaner hatten sie angegriffen“, erzählt er.
       „Mir brach das Herz, als ich sah, dass an der Stelle unserer Weinberge nun
       Karotten wuchsen.“ Die Reben waren über Jahrzehnte von Generation zu
       Generation weitergegeben worden. Als er sah, was daraus geworden war, hatte
       er das Gefühl, seine Geschichte sei zu Staub geworden.
       
       Aber, sagt er: „Das war keine Absicht.“ Die neuen Feldbesitzer hätten ihm
       erklärt, dass es einfacher sei, Karotten anzubauen, die Ernte sei reicher.
       „Nicht böse gemeint“, wurde ihm gesagt.
       
       Als Ivan Esajan im Stau steht, laufen ihm Tränen übers Gesicht, dann
       verliert er sich in Details. Er redet ohne Unterbrechung, erzählt
       minutenlang, wie die silbernen Tassen im Weinkeller aussahen, und
       beschreibt jede einzelne Weintraubensorte.
       
       Als er den Stadtbezirk Herrenhausen-Stöcken in Hannover erreicht, sucht er
       einen Parkplatz. Doch er zögert auszusteigen. Die Autos seiner Töchter sind
       noch nicht da. Er raucht noch schnell eine Zigarette und klingelt dann bei
       Esajan. Melanija, seine Ex-Frau, öffnet die Tür. Sie begrüßen sich
       herzlich. Sie nimmt seine Jacke. Er geht ins Wohnzimmer.
       
       Melanija Esajan sieht zu Hause armenisches Fernsehen. „Es ist heutzutage
       unmöglich, etwas anderes zu tun“, sagt sie. Die Nachrichten aus Armenien
       seien leider nicht sehr ermutigend. Gerade ist der Sender „Armenia“
       eingeschaltet. Es sieht so aus, als sei gerade ein Film zu Ende, der
       Nachspann läuft noch.
       
       Bei näherem Hinsehen laufen Hunderte männliche Namen über den Bildschirm.
       Das sind die armenischen Soldaten, die bislang an der Front gefallen sind.
       Melanija Esajan kann kein Armenisch lesen, da sie eine russische Schule in
       Ganja besucht hat. Sie liest nur die Geburtsdaten, die hinter den Namen
       notiert sind. „Mein Gott, es sind so viele 18- bis 20-jährige Jungen
       gestorben. Ich kann es nicht fassen“, sagt sie und schaltet den Fernseher
       aus.
       
       Melanija Esajan ist 59 Jahre alt. Damals, als sie sich mit Ivan auf die
       Flucht machte, war sie 27, Mutter von zwei kleinen Kindern. Das Jahr 1988
       sei ein einziger Horror gewesen. Sie erzählt, wie sie den Zaun vor dem Haus
       unter Strom setzten und Autoreifen anzündeten, damit sich die
       Aserbaidschaner nicht näherten. Immer die Bilder der Stadt Sumgait im Kopf,
       wo Armenier*innen totgeschlagen und vertrieben worden waren.
       
       „An einem Abend kam meine Schwester weinend zu uns und berichtete, dass
       eine Gruppe aserbaidschanischer Männer in ihr Haus eingebrochen sei und die
       Möbel zerhackt habe“, erzählt Melanija. Ärzte durften Armenier*innen nicht
       mehr in den Klinken behandeln. Schwangere entbanden in Kirchen. Melanija
       mischte Molotowcocktails und füllte die Badewanne mit Steinen, um die
       Angreifer damit bewerfen zu können.
       
       Sie erinnert sich aber auch an gute aserbaidschanische Nachbarn, die mit
       den Armeniern gemeinsam nachts draußen Wache hielten und ihnen bei der
       Flucht halfen.
       
       Am Silvesterabend 1988 verlässt die Familie Esajan Ganja. Tochter Angelika
       ist vier, Mery anderthalb Jahre alt. Melanija wickelt beide in Schals und
       hält ihnen den Mund zu. Sie dürfen kein Armenisch sprechen. Angelika ruft
       nach ihrer Großmutter, um sich zu verabschieden. Die aserbaidschanischen
       Nachbarn begleiten Melanija bis zum Flughafen von Ganja, „damit auf dem Weg
       nichts Schlimmeres passiert“. Als sie einander verabschieden, weinen sie.
       
       Im Zug von Kiew nach Dresden fragt ihre vierjährige Tochter: „Mama, haben
       wir es geschafft? Brauche ich keine Angst mehr zu haben?“, erinnern sich
       Melanija und Ivan. „Jetzt nicht mehr“, haben sie damals geantwortet.
       
       Nach der deutschen Wiedervereinigung sollen die in der DDR stationierten
       Soldaten der Roten Armee nach Hause zurückkehren. Doch die Familie Esajan
       kann nicht mehr zurück nach Aserbaidschan. Sie bekommen Asyl in Hannover
       und bauen sich dort ein neues Leben auf.
       
       Als Maler streicht Ivan Gebäude und Räumlichkeiten. Ab Ende der 90er Jahre
       geht er als Staubsaugervertreter von Tür zu Tür. „Es war ein schwieriger
       Job für einen Ausländer, der vor allem ältere Deutsche überzeugen musste“,
       sagt Ivan. Doch dann kommen bessere Zeiten, als Ivan in den Autohandel
       einsteigt und Melanija in einem Imbiss Arbeit findet.
       
       Auch, als ihre Ehe kaputt war, hätten sie Wert darauf gelegt, für die
       Kinder da zu sein, egal was passierte. Seit einiger Zeit kommen sie sich
       aber noch einmal näher. Der neu entfachte Konflikt in ihrer Heimat bringt
       sie zusammen.
       
       ## Die Töchter und Enkel:innen kommen
       
       Es klingelt an der Tür. Melanija springt auf, Ivan öffnet. Vier Enkel
       stürmen herein. Dann folgen die Töchter – Angelika, Mery und Luisa.
       
       Mery gibt ihrer Mutter eine Tüte in die Hand. Melanija schaut hinein und
       strahlt. Schnell holt sie die braunen Früchte mit Kelchblättern an der
       Spitze heraus und beißt hinein. „Noch eine Woche, und sie sind richtig
       reif, aber auch jetzt schon lecker“, sagt sie. Mispeln. Mery hat die
       Früchte von einem Mispelbaum vor ihrem Wohnhaus gepflückt. Sie erinnern
       ihre Mutter an Ganja.
       
       Melanija ist mit ihren Früchten in der Küche beschäftigt, Ivan geht auf den
       Balkon rauchen. Die Schwestern sitzen am Kaffeetisch. Ihre Männer haben sie
       zu Hause gelassen. Seit Ausbruch des Krieges haben sie diese Nähe häufiger.
       Sie beraten, an welcher Aktion sie teilnehmen sollen, sie erzählen sich
       Neuigkeiten. Sie haben gemerkt, dass sie ihre Sorgen gegenseitig am besten
       verstehen können. Fast jeden Tag treffen sich die Schwestern jetzt bei
       ihrer Mutter. Und wenn der Vater sie am Wochenende nicht besuchen kann,
       rufen sie ihn in Hamburg an. „Ich habe einfach das Bedürfnis, in der
       Familie zu sein“, sagt Angelika.
       
       „Als mein Vater die Tür aufmachte, bin ich kurz stehen geblieben“, sagt
       Mery, „es war wie früher, als meine Eltern noch zusammenwohnten.“ Niemand
       in der Familie spricht gern über die Trennung der Eltern. Umso mehr
       schätzen sie die Zeit, die sie nun miteinander verbringen dürfen.
       
       Am Kaffeetisch sucht Melanija Fotos aus dicken Stapeln heraus und erzählt
       Geschichten. Bald haben alle ein Foto in der Hand, der ganze Tisch ist mit
       Schwarzweißbildern bedeckt. „Hier hattest du noch einen Schnurrbart“, sagt
       Melanija zu Ivan und zeigt ihm das Foto: Darauf hält er Angelika auf dem
       Schoß. „Ich finde, dass der Bart gut zu dir passte“, meint Melanija noch,
       und Ivan lächelt. Die Töchter machen sich über die sowjetische Mode lustig.
       
       ## Die jüngste Tochter ist in Hannover geboren
       
       Die drei Schwestern sehen sich nicht ähnlich, nur haben sie alle lange
       schwarze Haare. „Als wir klein waren, wollte mein Vater, dass wir unsere
       Haare nicht schneiden lassen“, erzählen sie, „weil es die Weiblichkeit
       betone.“ Nun schneiden sie auch die Haare ihrer Töchter nicht, die den
       Mädchen den Rücken herunterfallen.
       
       Mery ist 33. Sie ist die mittlere Tochter und die schönste Frau in ganz
       Niedersachsen, wie ihre Schwestern sagen. 2003 hat Mery den Titel „Miss
       Niedersachsen Süd“ gewonnen und präsentierte Deutschland bei allen
       möglichen Schönheitswettbewerben weltweit. 2006 wird sie zur besten
       Nachwuchsdesignerin Deutschlands gekürt. Heute hat sie einen Raum in einem
       Kosmetikstudio in Hannover gemietet.
       
       Auf Instagram ruft sie ihre Follower zu Spenden für Kinder und Frauen auf,
       die aus Bergkarabach geflüchtet sind. Dort lebten vor dem Ausbruch der
       jüngsten Kämpfe etwa 150.000 Menschen. Die Männer sind an der Front. Viele
       Ortschaften sind mittlerweile verwaist. Bereits 90.000 Zivilisten, vor
       allem Kinder, Frauen und ältere Menschen, sind nach Armenien geflohen.
       Viele verstecken sich noch in Bunkern in Stepanakert, der Hauptstadt von
       Bergkarabach.
       
       „Ich habe Angst um die Kinder, die in den Kellern in Bergkarabach ausharren
       und sich fürchten. Sie spüren genau das, was ich damals gespürt und auch
       nach über 30 Jahren nicht vergessen habe“, sagt Angelika.
       
       Die 36-jährige alleinerziehende Mutter findet: „Wir müssen jetzt handeln.“
       Sie ist Assistentin der Geschäftsführung in einem Großunternehmen in
       Hannover. Sie nimmt sich jedoch viel Zeit für Demos, macht
       Aufklärungskampagnen in den Gemeinden und sammelt Spenden. Rund 10.000 Euro
       haben die Schwestern Esajan zusammen mit der „Armenischen Gemeinde zu
       Niedersachsen“ innerhalb einer Woche gesammelt. In Berlin haben sie vor dem
       Bundeskanzleramt demonstriert. Sie appelliert an die deutsche Regierung,
       die Rüstungsexporte in die Türkei zu stoppen.
       
       Von Anfang an unterstützte die Türkei ihren Verbündeten Aserbaidschan
       militärisch, unter anderem mit Kampfdrohnen. Aber bei der Entwicklung und
       Herstellung der Munition dürften auch deutsche Technologien eine wichtige
       Rolle gespielt haben. Das legen Recherchen des ARD-Magazins „Monitor“ nahe.
       
       Die Familie Esajan boykottiert jetzt alles, was türkisch ist – aus Protest
       gegen die Politik des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Das
       haben sie miteinander abgesprochen. Sie machen auch bei der Kampagne
       „Boycott Turkey“ mit. Viele in Deutschland lebende Armenier*innen
       verzichteten auf türkische Produkte. Sie kaufen keine Lebensmittel mehr in
       türkischen Läden, essen nicht mehr in türkischen Imbissen und besuchen
       keine türkischen Restaurants. Auch türkische Frisörsalons sollen weniger
       armenische Kund*innen haben.
       
       ## Sie boykottieren Geschäfte von türkeistämmigen Händlern
       
       „Auch wenn man Kartoffeln in einem türkischen Laden in Deutschland kauft,
       unterstützt man türkische Großhändler“, sagt Angelika. „Das wollen wir
       nicht, weil das Geld in die Türkei fließt. Auf unsere Kosten kauft die
       türkische Regierung Waffen und setzt sie gegen uns ein“, erklärt sie, und
       die anderen stimmen ihr zu.
       
       So ist es nicht immer, oft diskutieren sie. Angelika fühlt sich besonders
       betroffen, fährt eine härtere Linie als ihre Schwestern. Mery glaubt an die
       Idee, dass man auch heute noch in Frieden zusammenleben kann, wenn man den
       Willen dazu hat. Mutter Melanija unterstützt Angelikas Position, Vater Ivan
       ist vorsichtig und geht, wenn die Diskussion hochkocht, lieber eine
       rauchen.
       
       Luisa hält sich bei dem Gespräch zurück. Sie ist die jüngste Schwester, 24
       Jahre alt, in Hannover geboren. Mit der Fluchtgeschichte hat sie direkt
       nichts zu tun. Doch sie ist diejenige in der Familie, die am besten
       Armenisch spricht. Sie ist mit einem armenischen Mann verheiratet und hat
       einen großen armenischen Freundeskreis. In der Grundschule malte sie
       armenische Flaggen auf ihre Schulhefte, erzählt sie. Und ihre Mutter fügt
       hinzu, je häufiger die Lehrer*innen das verboten hätten, desto größer sei
       die Flagge auf der nächsten Seite des Heftes geworden. Dafür sei Melanija
       mehrmals in die Schule bestellt worden.
       
       Nun lachen die Frauen am Tisch. Nur der Vater bleibt still und sagt: „Ich
       bin stolz auf meine Töchter.“ Obwohl sie zuletzt vor 20 Jahren in Armenien
       waren, fühlen sie sich zu Armenien wie zu einer „leiblichen Mutter“
       hingezogen, dort seien ihre Wurzeln. „Wie sind nicht alle in Armenien
       geboren, doch Armenien ist in uns geboren“, sagt Mery.
       
       Verkörpert durch die Anwesenheit der Familie, das gegenseitige Verständnis.
       Melanija hat ihre Familie durch den Krieg noch einmal neu kennengelernt,
       sagt sie. Mery sei eine Friedenstaube. Luisa ein Dickkopf, obwohl sie am
       ruhigsten wirke. Angelika sei kämpferisch und emotional. Und Ivan?
       
       Der ist unruhig, weil es schon spät am Abend ist und er nach Hamburg
       zurückfahren muss. Seine zweite Frau hat Verständnis dafür, dass Ivan mit
       seiner Familie noch eng verbunden ist. Auch sie ist Armenierin und
       versteht, dass der Krieg Menschen verbindet. „Kinder, der Opa geht“, rufen
       Ivans Töchter, und prompt stehen alle seine Enkel in einer Reihe vor der
       Tür. Ivan gibt jedem einen Kuss. „Hier, nimm das, du mochtest das doch
       immer“, sagt Melanija zu Ivan und gibt ihm ein Glas mit selbst gemachter
       Kornelkirschen-Marmelade. Ivan steckt das Glas in seine Jackentasche,
       umarmt Melanija und verlässt rasch die Wohnung.
       
       Nun wollen die Töchter, dass ihre Mutter noch im Kaffeesatz liest. Die
       Tassen sind längst getrocknet und liegen kopfüber auf den Untertassen.
       Melanija nimmt eine in die Hand und guckt hinein. Sie sehe zwei Soldaten,
       mit Engelsflügeln, und zwischen beiden einen prächtigen Baum. Das solle
       bedeuten, dass „wir bald in Frieden leben“.
       
       Als die Nachricht vom Waffenstillstand bekannt wird, reagieren die Esajans
       verhalten. „Das war ein Deal zwischen Wladimir Putin und Ilham Alijew, dem
       Präsidenten von Aserbaidschan“, ruft Ivan am 10. November ins Telefon. Er
       hätte sich gewünscht, dass der Krieg weitergehe, damit Armenier*innen ihre
       Heimat verteidigen können. „Wir haben unser Land in den 90ern mit Blut
       befreit, und dafür geben wir es jetzt mit Blut zurück.“
       
       15 Nov 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tigran Petrosyan
       
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