# taz.de -- Dokumentarfilm „Wer wir sein wollten“: Rückblick ohne Zorn
       
       > In „Wer wir sein wollten“ lässt Tatiana Calasans vier Afrodeutsche zu
       > Wort kommen. Sie berichten vom Aufwachsen im Deutschland der 90er-Jahre.
       
 (IMG) Bild: Wohnorte als Bindeglieder zwischen den Interviews: Szene aus „Wer wir sein wollten“
       
       „Im folgenden Film kommen rassistische Begriffe & Beleidigungen zum
       Ausdruck.“ Mit diesem Warnhinweis beginnt Tatiana Calasans ihren Film. Dass
       ihr selber nicht wohl dabei ist, dass im Folgenden etwa das N-Wort
       ausgesprochen wird, macht sie auch im Gespräch deutlich. Zwar spricht die
       Filmemacherin selbst die schlimmsten Beleidigungen aus – aber nicht ohne
       den Rat: „Schreiben würde ich das nicht!“
       
       Doch unkenntlich machen oder ausblenden konnte und wollte sie die heiklen
       Worte eben auch nicht in „Wer wir sein wollten“. Denn wie wäre zu erzählen
       über die Jugend afrodeutscher Menschen in den 1990er-Jahren, wenn diese
       Protagonist*innen jene Wörter doch immer wieder zu hören bekamen?
       
       „Wir waren die ersten Schwarzen in Weißenberg“, erinnert sich Cindy an ihre
       Jugend im ländlichen Bayern. Cindy, Steve, Esiah und Shannan erzählen im
       Film, wie es war im weitgehend weißen Deutschland aufzuwachsen, ohne selbst
       weiß zu sein. Calasans, selbst Person of Color mit Migrationshintergrund,
       hat sie puristisch aufgenommen, in statischen Kameraeinstellungen. So
       besteht der Film fast nur aus „Talking Heads“: in die Kamera sprechenden
       Menschen – die als konventionelles, wenn nicht gar langweiliges Stilmittel
       gelten.
       
       Doch in diesem Fall ist das passend: Calasans wollte jede Ablenkung
       vermeiden. Deshalb gibt es keine Filmmusik, keine Schwenks der Kamera, auch
       nicht jene Montagen, die in Dokumentarfilmen so oft deutlich machen sollen,
       wer da spricht, unter welchen sozialen Bedingungen er oder sie etwa lebt.
       Verbunden sind die Interviewsequenzen durch Zwischenbilder, wiederum ohne
       Kamerabewegung. Sie zeigen die Orte, in denen die Protagonist*innen
       leben: Wohnhäuser, Straßenszenen, die Nordseeküste und sanfte
       Hügellandschaften; sehr deutsch all das.
       
       ## Immer anders ausgesehen
       
       Deutsche sind auch die vier Protagonist*innen des Films. Aber sie sahen
       eben von klein auf anders aus als die Menschen um sie herum. Regisseurin
       Calasans, die derselben Generation angehört, also Menschen über 40, hätte
       auch von ihren eigenen Erfahrungen erzählen können, aus ihrer eigenen Vita
       einen Film machen. Stattdessen wusste sie sichtlich, wovon die vier
       Protagonist*innen erzählen – und stellte ihnen erkennbar die richtigen
       Fragen.
       
       Denn sie will zeigen, wie hier Identitäten gebaut wurden – und wie die vier
       zu sich selbst fanden. So erzählen sie etwa, dass sie immer besser sein
       mussten als die anderen, um überhaupt etwas zu erreichen. Und davon, wie
       wichtig die afroamerikanische Popkultur für sie war, als Quelle von
       Inspiration, aber auch von Rollenmodellen: Wenn Michael Jackson für den
       jugendlichen Steve der größte Held war, resonierte das bei ihm ganz anders
       als bei weißen Fans.
       
       Cindy wiederum begeisterte sich für eine schwarze Girlgroup. Esiah war
       Sprayer und Rapper. Shannan wurde vom Skater zum Breakdancer. MTV war für
       alle vier enorm wichtig. Der Film sagt nichts darüber, wie die vier heute
       leben. Aber dass Shannan in einem Musikzimmer vor einer Reihe von Gitarren
       aufgenommen wurde: sicher kein Zufall.
       
       Shannan stellt der Film, dramaturgisch geschickt, zuletzt vor: Seine Haut
       ist heller als die der anderen drei – und trotzdem lasen ihn die anderen
       Kinder in der Schule als fremd. Er selbst sagt im Film: „Kinder haben ein
       Gespür für so etwas“, und da reichte es offenbar schon, dass seine Haare
       kraus waren. Der Rassismus, den er erfahren hat, war subtiler als bei den
       anderen – und gerade deshalb macht sein Beispiel die Strukturen besonders
       deutlich.
       
       Selbst wenn sie von den Beschimpfungen und Diskriminierungen erzählen, die
       in ihrer Jugend alltäglich waren, werden die vier nicht wütend oder laut.
       Umso größer ist der Schock, wenn Cindy dann eines dieser Unworte
       ausspricht. Dann wieder erzählt Steve davon, wie einmal ein kleines Mädchen
       auf ihn zulief und an seiner Haut leckte. Übergriffig – aber er schildert
       die Situation als einen der schönen Momente seiner Jugend: Die Kleine habe
       ja nur wissen wollen, ob „der Schokoladenmann“ süß schmecke. Und genauso
       neugierig sei er ja selbst auch gewesen, als er, noch in Ghana, Weiße
       gesehen habe. Steve kam als Kind nach Deutschland und kann so das Leben
       hier und dort vergleichen: Hier habe er mehr Sicherheit – aber es fehle ihm
       die Spontaneität dort.
       
       Tatiana Calasans selbst kam im brasilianischen Salvador/Bahia zur Welt und
       als Siebenjährige nach Deutschland. In Hamburg erwarb sie ein Diplom in
       Modedesign an der Hochschule, danach den Bachelor im Bereich Film an der
       Hochschule für bildende Künste: „Wer wir sein wollten“ war im vergangenen
       Jahr dort ihr Abschlussfilm, kofinanziert wurde er von der gemeinsamen
       Filmförderung für Hamburg und Schleswig Holstein.
       
       Finanzielle Mittel, inhaltliche Freiheit: Unter solch guten Bedingungen
       werde sie wohl nie wieder arbeiten können, sagt Calasans. Anders hätte der
       Film aber vermutlich kaum realisiert werden können: Mit 65 Minuten Länge
       passt er weder im Kino noch im Fernsehen in die üblichen Formate, auch
       Festivals nehmen nur wenige solcher „halblangen“ Arbeiten in ihre
       Programme.
       
       So erhielt auch Calasans im Frühjahr viele Absagen. Dann entschloss sie
       sich, den Film selbst zu vertreiben und damit auf eine Kinotour zu gehen.
       Die begann im Oktober – und wurde durch den Teil-Lockdown bald wieder
       unterbrochen. Ausschließlich online wolle sie „Wer wir sein wollten“nicht
       vermarkten, sagt sie: Das Gemeinschaftserlebnis Kino und die Gespräche nach
       den Vorführungen seien ihr wichtig. Die Kinotour soll im nächsten Frühjahr
       weitergehen.
       
       3 Feb 2021
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Wilfried Hippen
       
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