# taz.de -- Muslime gegen Islamismus: Das ist unser Islam
       
       > Muslimische Aktivist:innen aus NRW engagieren sich gegen Islamisten. Weil
       > sie den Radikalen den Spiegel vorhalten, erhalten sie Drohungen.
       
 (IMG) Bild: Junge Muslime treffen sich im Düsseldorfer Hafen, um Aktionen gegen Islamismus zu besprechen
       
       Schwarz gekleidete Männer treiben zwei andere in orangefarbenen Overalls
       vor sich her. „Lauf weiter!“, ruft einer, einen Krummsäbel in der einen
       Hand, die andere drückt er fest in den Nacken seines Opfers. „Runter mit
       dem Kopf!“ Passanten schauen ungläubig, entsetzt zu. Doch das Schwert und
       auch die Pistole im Nacken des Gebeugten – sie sind aus Plastik.
       
       Es ist Oktober 2014, und das Video „IS-Hinrichtung in Essen“ zeigt [1][den
       ersten Auftritt] einer Gruppe junger Aktivist:innen, „12thMemoRise“ nennen
       sie sich. Das Ziel ihrer Fake-Enthauptung: aufrütteln, zeigen, wie hässlich
       das sein kann, was manche im Namen ihrer Religion tun. Wie es aussähe, wenn
       eine radikalislamische Terrortruppe wie der „Islamische Staat“ (IS) im
       Ruhrgebiet das Sagen hätte.
       
       Einer der Gründer, der heute 30-jährige Hassan Geuad, erinnert sich: „Wir
       saßen an einem Abend stinksauer zusammen.“ Der IS hatte bereits weite Teile
       des Irak überrannt. Geuad, sein Bruder und Freunde waren entsetzt über die
       Bilder, die sie aus dem Land erreichten, das sie im Jahr 2000 in Richtung
       Deutschland verlassen hatten.
       
       Die auch in Deutschland immer selbstbewusster auftretenden Salafist:innen
       ärgerten und beunruhigten sie. „Wir wollten etwas unternehmen und vor ihnen
       warnen“, sagt Geuad. „Die IS-Propagandafilme im Netz inspirierten uns. Wir
       entschieden, den Feind mit seinen eigenen Waffen zu schlagen.“
       
       Seither inszeniert die Gruppe öffentliche Auftritte, spielt Attentate nach
       oder imitiert einen Sklavenmarkt vor Galeria Kaufhof. Weil all diese Dinge
       auch in der Realität passierten, dort, wo der IS zwischenzeitlich
       herrschte. „Mit unseren Videos wollen wir genau die Menschen erreichen, die
       nach Filmen des IS suchen. Dann finden sie möglicherweise uns – und kriegen
       eine Version präsentiert, die sie nicht erwartet haben“, sagt Geuad.
       
       Das kommt längst nicht bei allen gut an. Geuad und seine Mitstreiter:innen
       erhalten Drohungen, hauptsächlich von radikalen Muslimen, aber auch von
       nichtmuslimischen Rechten.
       
       12thMemoRise repräsentiert die Zahl 12: die 12 Apostel, die 12 Stämme
       Israels und die 12 Imame des schiitischen Islam – also auch den
       überkonfessionellen Charakter der Gruppe und das Verbindende zwischen den
       Weltreligionen.
       
       Neun Aktivst:innen bilden den festen Kern, zwei von ihnen sind Frauen. Die
       meisten der Mitglieder sind in Deutschland geboren, haben irakische,
       libanesische und türkische Wurzeln. Ein zum Islam konvertierter Deutscher
       macht mit und ein Thailänder. Schiiten sind innerhalb der Gruppe in der
       Mehrheit, doch auch Sunniten, Aleviten und Christen sind dabei.
       
       Frank Schultze, Fotograf der Reportage-Agentur Zeitenspiegel, hat die
       Gruppe von 2017 bis 2019 knapp drei Jahre lang begleitet. „Sie legen den
       Finger in eine Wunde“, sagt er, „und sie sind selbst sehr religiös, kennen
       sich gut in Angelegenheiten der Religion und des Glaubens aus.“ Beeindruckt
       habe ihn, wie innerhalb der Gruppe Freundschaften entstanden sind, wie sich
       die Aktivst:innen gegenseitig geholfen haben, als sie plötzlich von
       Extremisten bedroht und aus der eigenen Religionsgemeinschaft angefeindet
       wurden. Auch mit den Familien gab es Konflikte.
       
       Muslime, die in Deutschland einen Raum für unterschiedliche muslimische
       Identitäten schaffen wollen, bewegen sich in einem Spannungsfeld. „Die
       Deutschen erwarten sehr viel von den Muslimen“, sagt Geuad, der als
       Marketinganalyst in einem Beratungsunternehmen arbeitet.
       
       Als sie mit den Videos begannen, hätte sie neben den Islamisten auch die
       wachsende Islamfeindlichkeit in Deutschland verletzt, etwa dass ihre
       Kopftuch tragende Mutter belästigt wurde. „Viele Menschen kritisieren
       lieber, als auch die positiven Veränderungen zu sehen.“ Eine Beobachtung,
       die Geuad vor allem in den vergangenen Jahren gemacht hat.
       
       Als der damalige Bundesinnenminister [2][Wolfgang Schäuble im Jahr 2006 von
       der Welt am Sonntag] gefragt wurde: „Haben wir zu wenig beachtet, dass der
       Islam ein Stück Deutschland ist?“, antwortete er: „Ja, aber dieses Stück
       ist auch schwieriger zu erkennen.“ Kaum jemand nahm davon Notiz, im selben
       Jahr gründete Schäuble die Deutsche Islamkonferenz. Und doch sorgte eine
       vergleichbare Äußerung nur vier Jahre später für Entrüstung, als
       Bundespräsident Christian Wulff in einer Rede sagte: „Der Islam gehört
       inzwischen auch zu Deutschland.“
       
       Seitdem wird diese Frage immer wieder kontrovers diskutiert. Etwa jeder
       Zweite in Deutschland empfand im Jahr 2019 den Islam [3][einer Studie der
       Bertelsmann-Stiftung] zufolge als Bedrohung, im Osten waren es 57, im
       Westen 50 Prozent.
       
       Tatsächlich ist die Geschichte des Islam in Deutschland mit all seinen
       Spielformen und Gesichtern wechselhaft. Vor 200 Jahren noch dominierten
       romantische Orientvorstellungen, mehrere Bauwerke in Deutschland wie etwa
       das Dampfmaschinenhaus für Sanssouci in Potsdam wurden im Stil einer
       Moschee erbaut. Der letzte deutsche Kaiser Wilhelm II. etwa reiste noch
       begeistert in den Nahen Osten.
       
       Als im Zuge des Wiederaufbaus in den 1960er Jahren die ersten sogenannten
       Gastarbeiter muslimischen Glaubens nach Deutschland kamen, wollte man von
       ihrem Leben, ihren Gedanken und Wünschen dagegen nicht viel wissen. Als
       sich abzeichnete, dass viele von ihnen bleiben würden und in den 70ern und
       80ern Muslime aus Bürgerkriegsländern hinzukamen, entstand allmählich eine
       religiöse Infrastruktur, erste Moscheevereine wurden gegründet, ab den
       1990ern repräsentative Moscheen errichtet.
       
       Spätestens mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 etablierte sich
       ein neues Interesse am Islam, gleichzeitig wuchs die Furcht – und die
       Diskriminierung von Menschen muslimischen Glaubens. Seit den 2000ern nahmen
       Brandanschläge auf Moscheen zu, weltweit und auch in Deutschland starben
       Muslime durch Attentate von Rechtsextremisten.
       
       Seit 2014 gehen vor allem im Osten Deutschlands „Patriotische Europäer
       gegen die Islamisierung des Abendlandes“ auf die Straße, oft unwissend,
       dass das sogenannte Abendland vom Orient durch dessen Bau- und
       Handwerkskünste, dessen Wissenschaften, etwa der Mathematik, Medizin,
       Philosophie und Waffenkunde, tiefgreifend beeinflusst wurde. Und obwohl der
       muslimische Bevölkerungsanteil gerade dort marginal ist.
       
       [4][In einer Umfrage von 2016] schätzten die befragten Deutschen den Anteil
       der Muslime an der Gesamtbevölkerung auf 21 Prozent. Tatsächlich waren es 5
       Prozent.
       
       Mitglieder und Anhänger islamistischer Gruppen verüben seit Jahren immer
       öfter auch Terroranschläge auf europäischem Boden, in London, Madrid,
       Paris, Berlin. Erst Mitte Oktober wurde der französische Lehrer Samuel Paty
       in der Nähe von Paris enthauptet. Zwei Wochen später folgte ein tödlicher
       Angriff in einer Kirche in Nizza; Anfang November ein terroristischer
       Amoklauf in Wien, vier Menschen wurden getötet.
       
       Die Täter sympathisierten mit dem IS, auch wenn die Gruppe in Syrien und
       dem Irak seit Frühjahr 2019 als besiegt gilt. Verschwunden ist sie nicht.
       Ein Arm des IS verübt vermehrt Anschläge in der afghanischen Hauptstadt
       Kabul.
       
       Das Engagement von 12thMemoRise entstand nicht ohne Grund, nicht ohne
       Kontext. Die Aktivist:innen thematisieren die Ablehnung „westlicher“ Kultur
       und Lebensart durch radikale Muslime.
       
       Hassan Geuad erinnert sich daran, wie ultrakonservative junge Muslime
       Koranexemplare in der Essener Innenstadt verteilten und einen Infostand
       aufgebaut hatten. „Die sind schon krass drauf, das war letztlich eine
       Eingangstür für den IS.“ Tatsächlich hatten laut eines Berichts des
       Bundesamtes für Verfassungsschutz von 2016 28 Prozent der 615 aus
       Deutschland nach Syrien ausgereisten IS-Kämpfer einen nachweislichen
       Kontakt mit dem „Lies!“-Projekt.
       
       Dass 12thMemoRise der Coup gelang, in unmittelbarer Nähe einen
       „IS-Infostand“ aufzustellen und Unterschriften gegen die „Lies!“-Aktion zu
       sammeln, freut ihn noch heute. Weniger freut ihn, dass die Gruppe erst nach
       sechs Monaten einen Termin beim Oberbürgermeister erhielt, um ihm die
       Unterschriften zu überreichen. „Bürokratie halt.“
       
       Die mittlerweile verbotene „Lies!“-Aktion war ein Baustein salafistischer
       Bewegung in Deutschland. Salafist:innen streben eine geistige Rückbesinnung
       auf jene an, die im siebten Jahrhundert unserer Zeitrechnung ihrer Meinung
       nach das „Richtige“ taten und damit eine Richtschnur auch für heutiges
       Verhalten vorgaben. Zwar machen sie nur einen sehr kleinen Teil
       muslimischen Lebens in Deutschland aus, dafür einen dynamischen, wachsenden
       und jungen.
       
       Die Aktivist:innen von 12thMemoRise stören sich daran, dass die große
       Mehrheit der Muslim:innen weniger selbstbewusst und aktiv auftritt und
       damit die Gruppe der Islamisten größer erscheinen lasse, als sie ist.
       
       „Wir sollten lauter werden und uns stärker von den Radikalen abgrenzen“,
       sagt Geuad. Zurzeit sitzt er mit seinem Bruder an einem Buch über
       12thMemoRise, im kommenden März soll es erscheinen.
       
       Und was macht die Gruppe jetzt in Zeiten der Pandemie? „Corona machte uns
       einen Strich durch die Rechnung. Demos oder andere Straßenevents sind eben
       in einer Pandemie schwer zu realisieren. Wir drehen jetzt einfach mehr
       Videos.“
       
       Frank Schultze, 61, ist Bildjournalist bei Zeitenspiegel und fotografiert
       weltweit in Konfliktregionen. Das Langzeitprojekt „12thMemoRise“ lief mehr
       als drei Jahre und wurde durch ein VG-Bild-Stipendium unterstützt. 
       
       Jan Rübel, 50, ist Reporter bei Zeitenspiegel und studierte
       Islamwissenschaft und Nahostgeschichte.
       
       18 Dec 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.youtube.com/watch?v=AxDq96g1tUg
 (DIR) [2] https://www.welt.de/politik/article156022/Schaeuble-Islam-ist-Teil-Deutschlands.html
 (DIR) [3] https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2019/juli/religioese-toleranz-weit-verbreitet-aber-der-islam-wird-nicht-einbezogen
 (DIR) [4] https://www.ipsos.com/de-de/verschatzt-wahrnehmung-der-deutschen-oft-abseits-der-realitat
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jan Rübel
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