# taz.de -- Theaterkritikerin über die Coronakrise: „Arche Noah des Theaterdiskurses“
       
       > Kann Theater im Stream funktionieren? Im Gespräch erzählt Esther Slevogt,
       > Mitgründerin von nachtkritik.de, über das besondere Jahr und den Platz
       > der Kritik.
       
 (IMG) Bild: „Die Geschichten aus dem Wienerwald“, von Heike M. Goetze, für den Stream inszeniert
       
       taz: Frau Slevogt, [1][Nachtkritik] wurde vor 13 Jahren von Ihnen und
       weiteren Kritiker:innen gegründet als Theaterfeuilleton im Netz. Wie groß
       ist die Redaktion heute? 
       
       Esther Slevogt: Wir sind zehn Leute. Wir haben keine eigenen
       Redaktionsräume, es findet alles im Internet statt.
       
       Nachtkritik wird also immer schon im Homeoffice gemacht? 
       
       Genau. Doch wir treffen uns einmal die Woche zu einer Sitzung, vor der
       Pandemie analog, jetzt per Zoom. Einmal im Quartal gehen wir für einen Tag
       in Redaktionsklausur und sitzen den ganzen Tag zusammen. Aber auch sonst
       kommunizieren wir ständig.
       
       Ich nutze eure Seite oft, weil ich Nachtkritik schätze, habe bisher aber
       noch nicht gezahlt. Das machen vermutlich viele so. Wie finanziert ihr
       euch? 
       
       Wir haben Werbung auf unserer Seite von Theatern und Kultureinrichtungen,
       das macht etwa 60 bis 70 Prozent unserer Einnahmen aus. Dann bekommen wir
       Spenden. Wir sind ja gemeinnützig, das heißt, Spender*innen können ihre
       Spenden von der Steuer absetzen. Aber keiner von uns, die wir Nachtkritik
       betreiben, kann wirklich davon leben. Wir haben, wie gesagt, kein Büro und
       stecken alles, was wir haben, in unsere Inhalte, also in Honorare für
       Autor*innen, Fotograf*innen, Redakteur*innen und Technik.
       
       Schon vor diesem Jahr haben Sie die [2][Konferenz „Theater & Netz“]
       mitgegründet, vor sieben Jahren. Warum war das Thema Ihnen so wichtig? 
       
       Wir kamen 2007 ja aus dem Netz, uns gab es ja nie im Print. Doch bei
       Kulturinstitutionen und Theatern stellten wir anfangs gewisse Vorbehalte
       fest. Wir galten als die Schmuddelkinder aus dem Internet. Die Hochkultur
       blickte tendenziell naserümpfend auf digitale Phänomene wie Social Media
       oder Computerspiele. Dass die Gesellschaft längst von der Digitalisierung
       umgekrempelt wurde, dass längst Theaterformen entstanden waren, die etwa
       auf partizipativen Modellen beruhten, wie sie neue digitale Kulturtechniken
       hervorgebracht hatten, das wollten viele nicht so recht zur Kenntnis
       nehmen. Die Idee der Konferenz war, die im Kontext Theater und Netz
       entstandenen Fragen zusammenzubinden und zu diskutieren – zunächst, um
       überhaupt ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass das das Theater die
       Digitalisierung nicht ignorieren sollte, sondern gestalten muss, wenn es
       überleben will. Die Konferenz wird seit 2013 gemeinsam mit der
       Heinrich-Böll-Stiftung veranstaltet.
       
       Als die Theater in diesem Jahr, zuerst im März, dann wieder im November,
       schließen mussten wegen Corona, da wuchs ihr Interesse an der Nutzung
       digitaler Möglichkeiten. Nachtkritik hat schnell begonnen mit einem
       Online-Angebot. Sind die Theater auf sie zugekommen? 
       
       Sowohl als auch. Eine unserer Gründungsideen war ja, die Theaterlandschaft
       in ihrer Breite durch Abbildung in der Kritik sichtbar zu machen und damit
       erhalten zu helfen. Dem war die Erfahrung vorausgegangen, dass in den
       Zeitungsfeuilletons der Platz für Theaterkritiken immer weiter zurückging
       und damit auch die Sichtbarkeit von Theater. Mit Nachtkritik wollten wir
       dem entgegentreten und sind ja inzwischen eines der wenigen überregionalen
       Medien, die überhaupt noch in kleinere Städte gehen. Als die Theater
       schließen mussten, haben wir überlegt, was wir jetzt tun können, um die
       große Vielfalt des Theaterschaffens weiter sichtbar zu halten. Und dachten
       dann: wenn wir nicht über neue Inszenierungen schreiben können, dann
       versuchen wir Theater eben als Aufzeichnung oder im Livestream zu zeigen.
       Das Angebot wurde stark genutzt. Wir haben nach Inszenierungen gefragt, die
       uns interessiert haben, aber die Theater sind auch mit Angeboten auf uns
       zugekommen.
       
       Sie haben einen Spielplan, der jeden Tag die Streaming-Angebote der Theater
       auflistet. Am 29. Dezember sind das Produktionen aus neun Häusern, darunter
       vier Inszenierungen aus München, eine aus Wien, aber auch von der freien
       Gruppe [3][Forced Entertainment deren „Complete Works“ von Shakespeare], am
       Küchentisch nacherzählt und von Anfang an auch als digitales Format
       gedacht. Das finde ich sehr hilfreich. Aber ist dieser Spielplan jetzt
       schon das ganze digitale Angebot? 
       
       Der digitale Spielplan auf nachtkritik.de setzt sich zusammen aus dem, was
       wir selber streamen, sowie den digitalen Angeboten verschiedener Theater,
       die wir empfehlen. Außerdem eröffnen wir, um während der Streams etwas vom
       Live-Erlebnis des Theaters herzustellen, gelegentlich parallel einen
       Live-Chat. Alle können dann zur gleichen Zeit auf Kommando auf den
       Playknopf drücken, sehen dann also alle das Gleiche und können parallel
       dazu miteinander chatten. So entsteht dann ein schönes
       Gemeinschaftserlebnis im digitalen Raum. Während des ersten Lockdowns haben
       wir die vielen Kunstformate, die in der Situation neu entstanden sind,
       gesammelt. So gibt es jetzt ein Archiv der coronabedingten Aktivitäten aus
       dem Frühjahr und Sommer bei uns.
       
       Was fanden Sie besonders interessant davon? 
       
       Unheimlich viel. Die Theater waren ja gezwungen, sich mit der
       Digitalisierung auseinanderzusetzen, da ist viel Interessantes und Tolles
       entstanden. [4][Es gab die VR-, die Virtual Reality Formate vom Theater
       Augsburg]. Beeindruckend war auch „Wir sind noch einmal davongekommen“ von
       Marcel Kohler, eine Zoom-Performance mit Schauspielstudenten, die das
       Format sehr kreativ benutzte. Oder „Dekalog 1-10“ von Christopher Rüping am
       Schauspielhaus Zürich, wo man sehen konnte, wie das Stück sich mit jeder
       Folge weiterentwickelte, also ein permanentes Lernen des Umgangs mit dem
       neuen Medium mitabgebildet war. Von der Schauspielerin Gro Swantje Kohlhoff
       gab es eine hinreißende Serie, in der sie im Kleiderschrank sitzt und die
       Harry-Potter-Romane nacherzählt. Am Hamburger Schauspielhaus inszenierte
       Heike M. Goetze Horváths „Geschichten aus dem Wienerwald“ – als live
       gemixten Stream, der sich auch zu der geisterhaften Situation verhielt, vor
       einem leeren Zuschauerraum live nur für ein Internetpublikum zu spielen.
       
       Sie haben erwähnt, dass Nachtkritik auch gegründet wurde, weil die
       Theaterkritik in den Printmedien zurückgeht. In diesem Jahr müssen ja die
       Feuilletonseiten anders bespielt werden. Wird das den Platz der
       Theaterkritik langfristig anknabbern? 
       
       Das glaube ich stark. Besonders in den Lokalzeitungen. Wir haben dafür
       einen ganz guten Gradmesser: zu allen besprochenen Inszenierungen machen
       wir stets eine Kritikerrundschau. Da bröckelt es in den letzten Jahren
       besonders in den kleineren Städten immer weiter ab, finden wir immer
       weniger Stimmen, die wir der unseren hinzufügen können. Diese Entwicklung
       macht Sorge. Wir fühlen uns manchmal wie eine Art Arche Noah des
       Theaterdiskurses.
       
       Hat sich das Streamingprogramm auch auf andere Länder bezogen? 
       
       Wir hatten kaum internationale Streamings. Aber wir haben über die
       Situation in London oder New York, in Frankreich, Griechenland oder
       Russland berichtet. In Russland gab es landesweit eine regerechte
       Stream-Euphorie, wo vom Publikum besonders begeistert auch das Angebot aus
       Deutschland wahrgenommen wurde, speziell die [5][historischen
       Inszenierungen der Schaubühne] und des Berliner Ensembles.
       
       Es wird jetzt reflektiert, ob aus der Pandemiezeit für die Theater etwas zu
       lernen ist. Weniger zu produzieren und sich dafür mehr Zeit nehmen. Was
       denken Sie, sollte sich verändern? 
       
       Mir scheint, die Theater haben besonders eines festgestellt, als sie als
       tote Gebäude in den Städten herumstanden: dass sie zwei Häute haben. Eine
       digitale Haut, einen virtuellen Resonanzraum, den sie bespielen müssen und
       der gestaltet werden will, aber auch eine historische Haut. Ein Theater hat
       ja mehr als nur eine Corporate Identity, nämlich auch eine historisch
       gewachsene Identität. Bisher ist es in der Regel so, dass jede*r neue
       Intendant*in alles Alte rausschmeißt, neue Logos macht, das Theater neu
       erfindet. Fast als fürchte man sich vor dem Vodoozauber der Vorgänger.
       Jetzt konnten einige Theater feststellen, dass die Geschichte auch ein
       Kapital ist, mit dem sie wuchern können, und die sie noch einmal fester
       verankert. Plötzlich wurden in der Schaubühne oder dem BE die berühmten
       historischen Inszenierungen gestreamt – erkannte man sich als Teil dieser
       großen Geschichte. Bei jedem Neuanfang einer Intendanz gibt es die
       Behauptung, nun werde Kontakt mit der Stadt, mit dem Publikum aufgenommen.
       Aber es wird selten die Beziehung gesehen, die längst besteht und an die
       angeknüpft werden kann. In der Stille, als die Theater nicht mehr handeln,
       nicht mehr hektisch in der Gegenwart herumfuchteln konnten, wurde das sehr
       deutlich.
       
       29 Dec 2020
       
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 (DIR) Katrin Bettina Müller
       
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