# taz.de -- Geschichten zum Jahreswechsel (III): Ein übermächtigtes Nichts
       
       > Caddy ist Schriftsteller und hat zu wenig Geld zum Leben. Eine nicht ganz
       > unwahre Geschichte über Geld und Krankheit, Corona und die Bürokratie.
       
 (IMG) Bild: Caddy ist nicht allein: Akten mit Hartz-IV-Klagen im Berliner Sozialgericht 2014
       
       „Denn der Übermächtigte, weil er nicht handeln kann, mag sich wenigstens
       redend äußern“
       
       (Johann Wolfgang von Goethe) 
       
       Er zappelte als Marionette an der Angel durch den Supermarkt, taumelnd,
       ruckartig, fatal abbremsend. „You dirty trouble!“, dachte er, genervt von
       seinen Bewegungsstörungen: MS. Caddy kramte in seinen Hosentaschen und
       pulte eine 20-Cent-Münze hervor. Dafür würde er kein Brötchen bekommen,
       geschweige denn Aufschnitt oder Käse. Er fischte sein Portemonnaie aus der
       Jackentasche und entdeckte einen 5-Euro-Schein: Der Tag war gerettet!
       Mozzarella, Nudeln, Tomatensoße, ein Brötchen und Gouda sammelte er ein und
       ging an die Kasse. Heute wollte er blaumachen und sehen, was passierte,
       wenn er nichts tat. Er würde bald 60, davor fürchtete er sich ein wenig,
       denn er hatte nichts Besseres zu tun, als Gefühle jedweder Natur zu
       entwickeln.
       
       Caddy entriegelte die Haustür und schaute in den Briefkasten. Eine
       Institution hatte ihm geschrieben: die selige VG Wort. Er ging in den
       vierten Stock, öffnete die Wohnungstür und riss den Brief auf.
       „Ausschüttungsauskunft“ stand auf dem ersten Blatt. Caddys Augen suchten
       nach einer Zahl. Er fand Ausführungen über Bibliothekstantiemen,
       Sonderausschüttungen und Presse-Repros, und darunter: 4–3–2–3 und 4–3.
       
       Die VG Wort tritt für den Schutz journalistischer, wissenschaftlicher,
       belletristischer, auch gebloggter Texte ein, also auch von Caddys Artikeln
       und literarischen Ergüssen in gebundenen Büchern, die ausgeliehen, kopiert
       und vermietet wurden. Er las die Zahl noch einmal, ging die Liste durch.
       Nachzahlung seit 2008 stand darüber. Sonst bekam er vielleicht 200 oder 300
       Euro überwiesen, und nun so viel?
       
       Leider kam der diesmal kochend-heiße Regen zu spät: Die Künstlersozialkasse
       hatte ihn vor einem halben Jahr aus Sozial- und Krankenversicherung
       geworfen, weil er jahrelang zu wenig Geld mit seiner Schreiberei verdient
       hatte. Er war eben nur Künstler im Sinne, sich und seinem Ausdruck treu zu
       bleiben, nicht in dem, mit seinem Tun für ausreichend Penunzen zu sorgen.
       Das hatte er einfach nicht drauf.
       
       Im nächsten Moment überfiel ihn Panik. Er war schon berentet, stockte sein
       kleines Alterstaschengeld von 450 Euro mit den 700 von der Grundsicherung
       auf. Gelegentliche Einkünfte und die noch viel selteneren Schenkungen
       musste er stets dem Amt vorlegen und durfte 30 Prozent davon behalten. Die
       Paresen am rechten und linken Bein hatten ihm 2012 eine massive
       Gehbehinderung eingebracht, aber damit auch das Merkzeichen G und damit 72
       Euro extra. Geld, das er theoretisch sparen könnte, doch dazu kam es aber
       nie: Caddy brauchte zu oft Taxis.
       
       Er hatte das Gefühl, er wäre ein Betrüger, wenn er das dringend benötigte
       Extra-Einkommen an der Behörde vorbei in seine Tasche lotsen würde. Aber
       Caddys Herz beschleunigte und wehrte sich gegen seine Ehrlichkeit. Er
       fürchtete, Sachbearbeiter Müller könnte irgendwann Einsicht in die
       Buchungssätze verlangen. Caddy atmete schneller. Er geriet in Anspannung,
       weil er dem Staatsdiener und seiner Verwaltung diesen Triumph nicht gönnen
       wollte. Er beschloss abzuwarten und nichts zu unternehmen.
       
       Endlich Anerkennung für all die Jahre des Wühlens im Buchstabenstaub, ob
       lyrisch, prosaisch, ob Online oder Print, ob arm oder reich, ob verdichtet
       oder ausschweifend schwafelnd. Wie oft hatte er kein Geld in den Taschen
       gehabt und den eigenen Namen in der Zeitung und auf Büchern zu lesen, war
       sein größter Antrieb gewesen und beinahe auch sein einziger Lohn.
       
       Seine Unruhe kehrte in den nächsten Tagen verstärkt zurück. Er konnte an
       nichts anderes denken. Er konnte vor allem nicht aufhören zu denken.
       Niemals wollte er sich diese Leistung aus den Taschen ziehen lassen, never!
       Caddy schlief unruhig und kaum war er wach, ging das Gedankenkarussell
       wieder los. Er wehrte sich körperlich gegen seine Aufrichtigkeit, die es
       ihm schon oft schwer gemacht. Diesmal sollte es anders sein, diesmal würde
       er das Geld jeder Auslieferung verweigern.
       
       Nach acht Tagen hatte er sich noch immer nicht im Griff. Er war ein
       übernächtigtes Nichts. „Das ist die Schuldstruktur!“, blökte ihm der
       herausgeschrieene Songtext der Tödlichen Doris ins Hirn. Eine Erfindung
       fehlgeleiteten Humanismus’, beschloss Caddy, und hoffte, ein für allemal
       die überhöhten Ansprüche an die Ethik zu ersticken, die kein Mensch je
       erfüllen konnte.
       
       Seit gestern fühlte sich seine linke Gesichtshälfte taub an. Ein tumbes
       Flirren zog von der Stirn bis zur Nase, weiter bis an die Schläfe und zum
       Kinn. Kein schönes, zartes Insichstecken. Caddys Haut war stumm, wie tot,
       nichtssagend fühllos. Vielleicht ein eingeklemmten Nerv. Saß er nicht immer
       falsch am Computer? Mit hängenden Schultern und krummem Rücken, den Nacken
       eingezogen … Kein Wunder!
       
       „Vielleicht ist es auch die Stirnhöhle“, mutmaßte sein Neurologe am
       Telefon. „Lassen Sie doch mal bei Ihrem Hausarzt eine Blutuntersuchung
       vornehmen, ob Sie eine Entzündung im Körper haben. Dann können wir
       ausschließen, dass es ein MS-Schub ist.“ Und Caddy ließ sich in der Praxis
       deckfarbenen Lebenssaft entnehmen, skandinavisch tiefrot. Am nächsten Tag
       das Ergebnis: keine Entzündung. Als er am Sonntag danach mit seiner
       Freundin im Volkspark spazieren ging, waren seine Beine unerträglich
       schwer, er schaffte nur 700 Meter.
       
       Am Tag darauf trat Caddy aus der Haustür und schon nach den ersten
       Schritten mäanderte sein linkes Bein, legte bei jedem Tritt einen kleinen
       Zwischenschritt ein, zuckte nach vorn und zog dann nach links. Caddy konnte
       nicht mehr geradeaus gehen. Er hatte wieder eine Beinparese, einen erneuten
       Schub. Wie damals, 2012, als seine Beine plötzlich wegknickten, gerade als
       er aus Ingrids Auto steigen wollte. Er war wütend: darüber, dass es jetzt
       so weit war. Dass er sich selbst so unter Druck gesetzt hatte und physisch
       reagierte. Dass ihm immer fast nichts blieb: 30 Prozent.
       
       Sein Neurologe verabreichte ihm an drei Tagen jeweils ein Gramm Kortison
       als Infusion. Als Caddy der langsam in seine Armvene tropfenden Flüssigkeit
       nachsann, beschloss er, dem Amt das Geld anzugeben. Nicht sofort, aber am
       Monatsende, das waren noch zweieinhalb Wochen. Der Gedanke entledigte ihn
       seines inneren Drucks. „Everyday I write the book“: „Wie konnte Elvis
       Costello nur so recht haben, über ihn so genau Bescheid wissen?“, rätselte
       Caddy, und ging dazu über, Frieden mit den Umständen seines Lebens
       schließen zu wollen.
       
       Am nächsten Morgen war das taube Gefühl der linken Gesichtshälfte
       verschwunden. Am Abend nach der dritten Infusion hatte sich sein linkes
       Bein stabilisiert, es irrte nicht mehr umher, zog nicht nach links. So
       schnell war noch kein Schub vorbeigegangen. „Als ich mich entschlossen
       habe, das Geld anzugeben, waren die Symptome weg“, erzählte Caddy seinem
       Neurologen. „Wenn das kein psychosomatischer Zusammenhang ist!“
       
       Nachdem er sich entschieden hatte, schlief er besser. Mit krakeliger
       Handschrift setzte er einen Brief auf:
       
       „Sehr geehrter …
       
       ich habe von der … sensationellerweise 4.323,43 Euro erhalten.
       
       Mit indoktrinierten Grüßen...“
       
       Caddy wusste, dass er diesen Brief ewig bereuen würde, aber er hatte
       versucht, das Geld so lange wie möglich zu behalten und sich dabei eine
       Läsion ins Hirn gebrannt. Er musste nun Rücksicht nehmen auf die staatliche
       als auch auf die körperliche Verfassung. Ihm wurde klar: Er hatte
       Schuldgefühle, dass er überhaupt da war, anwesend, existierend … Das war
       das eigentliche Problem. Geld spielte keine Rolle.
       
       Er legte das Schreiben in ein Kuvert und bewahrte das Papier auf seinem
       gläsernen Schreibtisch auf. Die Tage bis zum Ende des Monats verliefen
       gleichförmig und angenehm. Er sah fern, ging zum Fußballgucken in seine
       Stammkneipe, trank Anisschnaps. Im August wollte er mit Ingrid an die
       Ostsee fahren, drei Wochen Urlaub im Ferienhaus ihrer Eltern. Er hatte ja
       jetzt Geld.
       
       Am letzten Julitag fuhr er zum Amt und warf endlich den Brief in den
       Schlitz neben dem Eingang. Beruhigt konnte er nun ans Meer reisen. Er
       verschwendete keinen Gedanken mehr an den Zwist, den er mit sich selbst
       ausgefochten hatte.
       
       ## Sehnsucht nach Schreibtisch
       
       Die Ferientage waren gezeichnet von starken Regengüssen. Selten konnte das
       Paar in den Deckchairs auf der Naturholzterrasse in der Sonne liegen. An
       den Strand gingen sie dennoch oft, Ingrid versuchte an einigen Tagen in der
       See zu baden. Meistens aber wagte sie nicht, mit dem ganzen Körper ins Nass
       abzutauchen. An drei Abenden besuchte Caddy die örtliche Sportsbar und
       schaute sich die Spiele zweier abgestiegener Fußballvereine aus Hamburg an.
       
       An den Donnerstagen gingen sie zu einer Open-Air-Bühne, auf der junge
       Nachwuchsmusiker erste Auftritte wagten. Er hatte im Urlaub keine großen
       Ansprüche, freute sich auf ein paar Allerwelts-Coverversionen, so verging
       wenigstens die Zeit rascher. Das Prinzip der Erholung konnte er nicht
       verstehen: Ihm fehlte dabei immer seine Arbeit am Tisch und das Schreiben
       als Akt und Prozess. Nur so war er sich nahe.
       
       Am Morgen ihrer Rückkehr öffnete Caddy nach der Ankunft in seiner Wohnung
       drei Briefe – alle von seiner zuständigen Administration. Der erste
       enthielt eine Aufforderung, die Betriebskostenabrechnung einzusenden. Der
       zweite eine Mitteilung über Computersystemumstellungen in den
       Dienststellen. Auf dem letzten las er mit trockenem Mund:
       „Ablehnungsbescheid“.
       
       Ab dem 1. September habe er keinen Anspruch mehr auf Grundsicherung.
       Nichts. Keine monatlichen Überweisungen mehr! Er war fassungslos und rief
       seinen Zuständigen an. „Nein, keine 30 Prozent. Werden Ihnen anerkannt … Es
       ist Ihre Einmalzahlung, die das generelle Problem ist. Sie erhalten
       Leistungen erst wieder ab Februar. Ganz automatisch, Sie brauchen sich
       nicht wieder anmelden. Einen schönen Tag noch!“
       
       Caddy musste also sechs Monate von dem Geld leben und hatte in der Zeit
       exakt so viel oder wenig wie der Regelsatz es vorsah, circa 700 Euro
       monatlich. Er spürte, wie schwarzes Gift in ihm hochstieg. Abends beschloss
       er, Widerspruch einzulegen. Er setzte einen einfachen Schrieb auf, forderte
       die 30 Prozent ein, klebte eine Marke auf und ging zum Postkasten. Er
       wollte es ihnen zeigen: Mit mir nicht!
       
       ## Salpetersäure und Schlangengift
       
       Caddy ließ den Sachbearbeiter an einer Leine an ein Auto binden und über
       harte Pflastersteine schleifen, von einem Bulldozer überfahren und
       zermalmen. Er stieß den Hüter der pekuniären Unordnung von einer Klippe,
       gab ihm Nägel zu fressen und zwang ihn, mit Glasscherben zu gurgeln. Er
       servierte ihm einen Cocktail aus Salpetersäure und Schlangengift. Er
       vermummte sich und lauerte ihm auf, schoss dem Angestellten mit einer
       Beretta 92S von vorn fünfmal in die Brust. Er fesselte ihn auf einem
       Bürostuhl, setzte ein Bolzenschussgerät an seinen mal eben kahlrasierten
       Schädel, fokussierte die Schläfe und drückte ab. Er nahm ein
       Maschinengewehr, zielte auf seinen Bauch und feuerte mehrere Salven ab. Er
       spannte ihn vor eine Kanone und ließ ihn auf einer Kugel reiten, entblößte
       ihn, öffnete ihm mit einer Zange den After, ließ eine Ratte in das Gewölbe
       krabbeln, die sich durch die Innereien fraß. Er fixierte den Mann auf dem
       Boden einer Baustelle und löste einen Betonblock von einem Kran, damit er
       platt wurde wie eine Briefmarke. Schubste ihn vor einen Zug und ließ ihn
       überrollen, dass ihm das Rückgrat brach. Er befestigte ein 50-Kilo-Gewicht
       an seinen Beinen, stieß ihn in ein Bassin voller Piranhas. Gab ihm eine
       Spritze mit Heroin, eine hohe Dosis Crack, versetzte das Frühstücksbrötchen
       des Mannes mit Strychnin und wünschte ihm einen guten, aber passiven Tag.
       Er buddelte ihn in die Erde ein und ließ bei praller Sommersonne stete
       Tropfen auf sein kahles Haupt niedergehen, drei Tage lang. Ließ ihn von der
       Revolutionsgarde enthaupten … „All das und noch viel mehr … würd’ ich
       machen, wenn ich König von Deutschland wär“, begann Caddy, Rio Reiser zu
       zitieren.
       
       Nachdem er sich in seinem Rausch besinnungslos ereifert hatte, dämmerte
       ihm, dass der Sachbearbeiter nur seine öde Arbeit machte. Und wenn Caddy es
       sich recht überlegte, war das Geld, das er bekam, sicherer als jeder Job.
       Auch blieben seine Mietzahlungen durch das Ganze nicht aus. Das war mehr
       als die unsicheren Zustände der arbeitenden Bevölkerung, allen Schwankungen
       des Kapitalismus ausgeliefert. Auch wenn es nur für das Nötigste reichte:
       Überleben konnte Caddy. Dass er sein extrem gelegentliches Einkommen
       abzuführen hatte, war nur die Parallele zur Entrichtung der Steuern. Auch
       wenn er die Viertausendplus nur allzu gut hätte verwenden können: Aufgeregt
       hatte er sich darüber schon genug. Er wählte das Digitalalbum
       [1][„Reasonreasonreasonreason“] der famosen Band Candelilla auf seinem
       Rechner und spielte Track 11. Der klang nach einem starken Slogan … und wie
       seine Einsicht: „Hysterie marry me!“
       
       Caddy beschloss, sich wenigstens etwas Summe wiederzuholen und rief eine
       Beratungsstelle an. „Sie brauchen eigentlich nur einen Satz in Ihrem
       Widerspruch zu schreiben, denn die Behörde muss das Geld auf ein Jahr
       anrechnen“, sagte die freundliche Telefonstimme. „Die selbstständigen
       Einkünfte … sind für das Jahr zu berechnen, in dem der Bedarfszeitraum
       liegt. Die sind … Einkünfte aus selbstständiger Tätigkeit. Ich bitte um …
       Neuberechnung.“ Das fühlte sich schon besser an! Caddy tippte, druckte aus,
       warf in den Postkasten und war erleichtert.
       
       Am nächsten Tag berichtete er seiner Mutter von der ganzen Angelegenheit.
       Die schickte ihm per Post einen ausgefüllten Lottoschein, den er nur noch
       abzugeben brauchte. „Man muss dem Glück die Chance geben, einen zu finden“,
       hatte sie auf den beiliegenden Zettel geschrieben. Er nickte müde, gab den
       Schein beim nächsten Einkauf ab. Nach 24 Stunden des Wartens eine Minute
       der Wahrheit: Caddy hatte zwei bis drei Richtige – auf dem ganzen Schein.
       
       ## Tausend Seiten Leben
       
       Über ein Jahr wartete Caddy auf das Ergebnis seines Widerspruchs.
       Währenddessen ging die Coronapandemie mehrmals um die Welt und raffte über
       1,5 Millionen Menschen dahin … Sie waren einfach tot. Caddy war fünffach
       vorerkrankt, fürchtete das Virus und begann bereits Ende Januar, in einer
       panischen Vorahnung, fieberhaft seine autofiktionale Autobiografie zu
       schreiben. Er kam nach vier Monaten auf 1.000 Seiten und begann mit der
       mehrfachen Überarbeitung.
       
       Das für Caddy zuständige Amt arbeitete trotz Covid-19 nicht schneller. Sein
       Anliegen war inzwischen vom Grundsicherungsamt an das Rechtsamt delegiert
       worden, das auch nach einem weiteren halben Jahr nichts von sich hören
       ließ.
       
       Caddy ließ sich noch einmal beraten und setzte der zuständigen Behörde eine
       Pistole auf die Brust, von der er wusste, dass sie nur mit aufgeweichten
       Erbsen gefüllt war: eine Frist von einem Monat. Wahnsinnig brutal. Wenn der
       zuständige Bearbeiter dann noch immer nicht reagieren sollte, kündigte er
       an, eine UNTÄTIGKEIT-S-KLAGE einzureichen.
       
       Caddy wartete ohne jede Zuversicht. Ihm schwante äußerst Dunkles, das
       manchmal ins fantastisch modulierte Aubergine changierte. Er hatte
       berechnet, dass ihm für das halbe Jahr 1.200 Euro zustünden, nur glauben
       tat er daran nicht mehr. Drei Tage vor Ablauf der Frist erreichte ihn das
       behördliche Schreiben. Caddy wurde mitgeteilt, dass der vor 13 Monaten
       getroffene Beschluss rechtens sei und „einmalige Einnahmen im Zeitraum von
       sechs Monaten gleichmäßig zu verteilen seien“. Er hatte also nichts zu
       erwarten, ging so leer aus, wie er sich fühlte.
       
       Caddy gab sich auch damit keineswegs zufrieden und befragte die Öffentliche
       Rechtsauskunft, die ÖRA. Die dort nebenberuflich arbeitende Richterin
       bestätigte ihm die Ordnungsgemäßheit des Bescheids. „Eine Klage wegen
       Untätigkeit ist ja jetzt hinfällig, weil sich das Amt innerhalb der von
       Ihnen gesetzten Frist rechtzeitig gemeldet hat. Eine Klage gegen das
       Verteilen Ihres Einkommens auf sechs statt zwölf Monate wäre aussichtslos
       und damit nicht empfehlenswert.“ Außer einem beinahe unbeteiligt
       abnickenden Muskelreflex entfuhr Caddy nur ein müdes Lächeln.
       
       „Können Sie denn mit diesem Ergebnis leben?“, fragte die Richterin und
       versuchte versöhnlich einzuwirken. „Ich meine, eine Klage ist ja immer auch
       ein seelischer Prozess. Wie geht es Ihnen nun damit?“
       
       „Ich bin ja Autor und habe eine Episode über diesen Vorfall verfasst und
       mich dadurch ein kleines bisschen gerächt.“
       
       „Das ist doch ein guter Weg“, beendete das ÖRAkel das Gespräch.
       
       Es war also gleichgültig, ob er arbeitete oder jahrelang betrunken in einen
       Fernseher starrte. Von wegen „Leistungsgesellschaft“. Caddy war froh,
       bereits im Alter von 13 Jahren beschlossen zu haben, kein nützliches
       Mitglied dieser Company BRD werden zu wollen. Ihn hatten schon damals die
       Umtriebe der RAF fasziniert. So konnte es nicht weitergehen, das war ihm
       1973 bewusst geworden, als die Hungerstreiks begannen. Ihm schien, als
       hätte er un- wie unterbewusst ebenfalls die Essensaufnahme bestreikt und
       am Mittagstisch sämtliche Gerichte verweigert, bis auf „Eis und heiß“, den
       Nachtisch. Einfach, weil ihm generelle Verständnislosigkeit
       entgegengebracht worden war, solange er denken und daher nicht essen wollte
       und schließlich nicht konnte.
       
       Seinen Kampf führen aber würde Caddy in Zukunft mittels der Zersetzung
       jeglicher Übereinkünfte vornehmlich kultureller, aber abgrundtief
       verwurzelter, gesellschaftlicher Zeichensysteme … Das schien ihm
       sympathisch: eine riesige, freie Spielwiese, auf der eine unberechenbare
       Sprengkraft entfacht werden konnte mit ungeahnter Wirkung auf die
       diversifizierten Menschengeschlechter.
       
       Denn, das ahnte er in Anbetracht der fatalistischen Biografien seiner
       Ahnen: Für den Untergang brauchte es keine Kriege. Das erledigte auch der
       Alltag, ob mit oder ohne Corona. Normal war nur der Tod.
       
       Ohne sich allzu viel Hoffnung zu machen, stellte Caddy beim Sozialfonds der
       VG Wort einen Antrag auf „Ausgleichszahlung wegen systembedingter
       Ungerechtigkeit“. Keine halbe Stunde nachdem er die Mail abgeschickt hatte,
       meldete sich eine freundliche Mitarbeiterin der Verwertungsgesellschaft und
       instruierte ihn, schnellstens noch fehlende Informationen zu senden und
       diverse Formulare. Sie könnten ihm zwar kein Geld überweisen, weil das Amt
       es einbehalten würde, aber „zweckgebundene Sachleistungen“ könnten sie
       erstatten – außer technischen Geräten, die würden nicht finanziert.
       
       Caddy entschied sich für einen neuen Bodenbelag im Schlaf- und
       Arbeitszimmer und eine neue Matratze. Diese Dinge benötigte er seit über 12
       Jahren und konnte sie sich bisher nie leisten. Am 25. November sollte die
       Sitzung stattfinden, auf der die Organisation über die vielen Anträge
       entschied. Als er am 7. Dezember noch immer nichts gehört hatte, begrub er
       seine letzten Hoffnungen.
       
       Am nächsten Tag bemerkte er fast nebenbei den Eingang von 1.000 Euro auf
       seinem Konto. Wer hätte das gedacht?! Das fühlte sich doch gleich viel
       besser an. Der Sozialfonds gab ihm den Glauben an Gerechtigkeit zurück –
       und auch seine Motivation zum Schreiben kehrte wieder.
       
       1 Jan 2021
       
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