# taz.de -- Studie zur Ideengeschichte Europas: Über das Nationale hinaus
       
       > Die Oper und die Eisenbahn waren die Geburtshelfer Europas. Orlando Figes
       > erzählt in seinem Sachbuch vom Beginn eines europäischen Bewusstseins.
       
 (IMG) Bild: Aus Ideen können Strukturen werden: Schriftsteller Turgenew (rechts) mit Freunden in Baden-Baden
       
       Es bedurfte zweier (Welt)kriege mit Abermillionen von Toten, bis die Völker
       Europas auch nur ahnten, was der Philosoph Friedrich Nietzsche bereits 1878
       in „Menschliches, Allzumenschliches“ postulierte: den europäischen
       Menschen. „Nenne man es nun ‚Zivilisation‘ oder ‚Vermenschlichung‘ oder
       ‚Fortschritt‘ worin jetzt die Auszeichnung der Europäer gesucht wird: nenne
       man es einfach, ohne zu loben und zu tadeln, mit einer politischen Formel
       die demokratische Bewegung Europas …“
       
       Der britische Historiker [1][Orlando Figes], der schon 2003 eine groß
       angelegte Kulturgeschichte Russlands, „Nataschas Tanz“, vorgelegt hat,
       erklärt in seinem neuen Werk – wiederum auf den Spuren eines russischen
       Dichters, nämlich Turgenjew –, auf welchen Wegen jenes Gebilde, das wir als
       „Europa“ bezeichnen, zustande gekommen ist.
       
       Dazu bedient er sich einer epischen Darstellungsweise, die von der
       Wirtschafts- über die Kulturgeschichte alles umfasst, was in den Jahren
       zwischen 1843 – vor den bürgerlichen Revolutionen von 1848 – und 1871, der
       Zeit der Pariser Kommune und des Deutsch-Französischen Krieges geschah.
       
       Freilich entfaltet Figes dieses Panorama anhand einer sogar für damalige
       Zeiten ungewöhnlichen Liebes- und Beziehungsgeschichte: zwischen der mit
       einem Jahrzehnte älteren Mann – Louis Viardot (1800–1883) – verheirateten
       Opernsängerin Pauline Viardot-Garcia (1821–1910) und dem russischen Autor
       Iwan Turgenjew (1818–1883).
       
       ## Opernprojekte und Eisenbahnbau gehören zusammen
       
       Der im westlichen Europa noch vor Tolstoi und Dostojekwski schnell bekannt
       werdende Turgenjew verliebte sich 1843 in die gerade 22-jährige, schon
       verheiratete Sängerin – eine Beziehung, die trotz ihrer Heirat und mehreren
       Kindern 40 Jahre mit allen Höhen und Tiefen Bestand hatte.
       
       Indes ist diese mit Feingefühl und Präzision erzählte Liebesgeschichte
       lediglich der Leitfaden für ein Projekt, das material und analytisch
       einlöst, was bereits [2][Walter Benjamin] in seinem „Passagenwerk“ sowie in
       seiner Schrift über das „Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
       Reproduzierbarkeit“ anstrebte: eine im weitesten Sinne materialistische
       Geschichte der Kultur – in diesem Fall der europäischen Kultur.
       
       Dann aber zeigt sich überraschenderweise, dass und wie die
       Opernbegeisterung des 19. Jahrhunderts, die Entwicklung und der Ausbau des
       Eisenbahnwesens sowie der Druckindustrie intern zusammengehören – und zwar
       so, dass die so gerne getroffene Unterscheidung von Kunst und Kommerz
       beziehungsweise der von Adorno geprägte Begriff der „Kulturindustrie“ in
       sich zusammenbricht.
       
       Und zwar deswegen, weil – wie Figes ebenso anschaulich wie begrifflich
       scharf nachweist – das eine ohne das jeweils andere gar nicht möglich
       geworden wäre. Was nicht zuletzt daran lag, dass erst der neue, schnelle
       Fernverkehr immer mehr Bürger in die Lage versetzte, sich an anderen Orten
       als dem ihrer Wohnstatt mit Kunst, mit Opernkunst zu konfrontieren – was zu
       einer steigenden Nachfrage nach Libretti führte, die wiederum von der sich
       sprunghaft entwickelnden Druck- und Verlagsindustrie befriedigt wurde.
       
       ## Ringen um berufliche Autonomie
       
       Zwischen den viel bewunderten KünstlerInnen, vor allem von Dichtern,
       Komponisten, von OpernsängerInnen und dem aufstrebenden Bürgertum bestand
       eine geistige Wahlverwandtschaft, denn – so Figes: „Die Bourgeoisie
       identifizierte sich mit dem Ringen des Künstlers um berufliche Autonomie
       und Unabhängigkeit von Staat und Adel. Komponisten und Musiker machten eine
       ge meinsame Anstrengung, den niedrigen Status Gewerbetreibender hinter sich
       zu lassen und als Fachleute anerkannt zu werden.“
       
       Was uns heute selbstverständlich erscheint – Opernfestivals, Badekurorte
       und Ferienreisen – führte damals zum ersten Mal bürgerliche Menschen aus
       allen Ecken des europäischen Kontinents zusammen und schuf so die
       Grundlagen eines Gemeinschaftsbewusstseins auf der Basis geteilter Kunst
       und Kultur: ein Gemeinschaftsbewusstsein, das schon früh durch
       „Weltausstellungen“ in Bern, Madrid, Brüssel und Bordeaux verstärkt wurde.
       
       1849 fand eine derartige Ausstellung in London unter dem Titel „Great
       Exhibition of the Works of the Industry of All Nations“ statt – bei ihrer
       Eröffnung erklärte der englische Prinz Albert: „Wir leben in einer Zeit des
       wunderbarsten Übergangs, der sich rasch jenem großen Ziel nähert: der
       Einheit der Menschheit.“
       
       ## Hauptstadt des 19. Jahrhunderts
       
       Dabei wurde diese Entwicklung durchaus gegensätzlich beurteilt: der in
       jenen Jahren in London lebende Karl Marx sah in der Ausstellung einen
       schlagenden Beweis „der konzentrierten Gewalt, womit die moderne große
       Industrie überall die nationalen Schranken niederschlägt und die lokalen
       Besonderheiten in der Produktion, den gesellschaftlichen Verhältnissen, dem
       Charakter jedes einzelnen Volkes mehr und mehr verwischt“.
       
       Suchte man nach einem Ort, an dem sich diese Prozesse besonders deutlich
       niederschlugen, so stieß man schnell auf jene von Walter Benjamin so
       genannte „Hauptstadt des neunzehnten Jahrhunderts“, also auf Paris, das
       nicht nur unzählige ausländische Intellektuelle beherbergte, sondern auch
       mehr Buchhandlungen mit ausländischen Titeln, in Europa vernetzte Verleger
       sowie internationale Literaturzeitschriften aufwies als jede andere
       Metropole.
       
       Vor dieser Kulisse nahm das Gestalt an, was später – bis heute! – als
       Gegensatz von Kosmopolitismus und Nationalismus Intellektuelle aufwühlen
       und Staaten in den Krieg ziehen ließ.
       
       ## Verliebt in Pauline Viardot
       
       Einer dieser kosmopolitischen Intellektuellen war der ein Leben lang in
       Pauline Viardot verliebte Iwan Turgenjew, der als Übersetzer und Vermittler
       zwischen der immer prominenter werdenden russischen Literatur, dem
       französischen Naturalismus sowie der realistischen deutschen Romantradition
       – von Fontane bis Freytag – wirkte.
       
       In Russland selbst war Turgenjew ob seines 1861 verfassten Romans „Väter
       und Söhne“ sowohl von Reaktionären als auch von Fortschrittlichen lange
       Zeit angefeindet worden – fanden sich doch beide Seiten darin
       missverstanden und ungerecht dargestellt.
       
       Erst in den 1880er Jahren widerfuhr Turgenjew Gerechtigkeit, als der
       Herausgeber der Werke Puschkins, Pawel Annenkow (1813–1887) über ihn
       schrieb: „Es waren nicht das Fehlen nationaler Sympathien in seiner Seele
       und nicht hochmütige Geringschätzung für den Tenor des russischen Lebens,
       die Europa für seine Existenz notwendig machten, sondern die Tatsache, dass
       das geistige Leben dort großzügiger strömte, wobei es seichten Ehrgeiz
       verschlang, und dass er sich in Europa einfacher, leistungsfähig, treuer
       sich selbst gegenüber und freier von armseligen Verlockungen fühlte, als
       wenn er der russischen Realität gegenüberstand.“
       
       ## Kosmopolitisch gesinnt
       
       Materiellen Ausdruck fand diese europäische Grundhaltung nicht nur im Falle
       Turgenjews, sondern auch anderer russischer Autoren darin, dass sie sich in
       der deutschen Kurstadt Baden-Baden niederließen, wo Dostojewski sich am
       Roulettetisch ruinierte und Turgenjew eine Villa erwarb. Aber auch seine
       langjährige Geliebte Pauline mit ihrem kosmopolitisch gesinnten älteren
       Gatten Louis Viardot ließen sich in diesem südwestdeutschen Kurort nieder.
       
       In derlei Badeorten lebte auch der seiner Herkunft nach jüdische Giacomo
       Meyerbeer – ein international höchst erfolgreicher Opernkomponist. Von ihm
       ließ sich der junge Richard Wagner früh fördern, um ihn dann später in
       seiner antisemitischen Schrift „Das Judentum in der Musik“ zu schmähen:
       Orlando Figes’ Studie zeichnet die sich auftuende Kluft zwischen
       Kosmopolitismus und Nationalismus auch am Gegensatz von Meyerbeer und
       Wagner nach.
       
       Figes’ Studie „Die Europäer“ stellt den ebenso seltenen wie gelungenen Fall
       einer materialistischen, jedoch in keiner Weise reduktionistischen
       Kulturgeschichtsschreibung dar, einer Perspektive, die umgekehrt nachweist,
       in welchem Ausmaß auch Gefühle und Ideen ihrerseits strukturbildend werden
       können.
       
       ## Genese des Geschmacks
       
       Der mit einem prachtvollen Farbtafelteil versehene Band bietet einem
       aufmerksamen und konzentrationswilligen Lesepublikum die seltene Chance,
       sich über das komplexe, verwobene reale Verhältnis von Produktionskräften,
       Produktionsverhältnissen sowie Ideen – die keineswegs lediglich ein
       „Überbau“ sind – zu informieren und somit auch Aufschluss über die Genese
       des eigenen Geschmacks und der eigenen kulturellen Interessen zu erhalten.
       
       Obwohl er Walter Benjamin, dem es zeit seines Lebens um nichts anderes
       ging, nur dreimal kurz erwähnt, lässt sich doch sagen, dass Figes gelungen
       ist, das, was Benjamin anstrebte, einzulösen.
       
       31 Dec 2020
       
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