# taz.de -- Inaugural-Poem von Amanda Gorman: Den Hügel erklimmen
       
       > Die intersektionelle Aktivistin Amanda Gorman soll zur Amtseinführung von
       > Joe Biden das Inaugural-Poem sprechen. Mit Pathos, ohne ihm zu erliegen.
       
 (IMG) Bild: Die Lyrikerin Amanda Gorman soll zur Amtseinführung von Joe Biden ein Gedicht rezitieren
       
       Nicht nur die Nation, sondern die ganze Welt: Das ist mal ein Publikum, das
       einschüchtern könnte. Zumal die Stimmung aufgeheizt und die Bühne mit
       Superstars zu teilen ist. Aber Amanda Gorman wird das meistern. Die
       22-jährige Lyrikerin wird am 20. Januar [1][bei der Amtseinführung von
       US-Präsident Joe Biden ein Gedicht rezitieren], das Inaugural-Poem.
       
       Es wird dem Pathos angemessen sein, ohne ihm zu erliegen. Es wird die Größe
       und den Schrecken der USA beschwören. Es wird ein Gedicht sein, das die
       Welt bewegt. Denn die Harvard-Absolventin ist die richtige für den Job.
       
       Job ist dabei ein unangebrachtes Wort. So wie Amtseinführung eine viel zu
       geschäftsmäßige Übersetzung von Inauguration ist. Sie spricht der Zeremonie
       das Sakrale ab, das ihr Kern ist: Erst beten Geistliche den Segen vom
       Himmel herab – das erledigen Jesuitenpater Leo O’Donovan und
       Methodistenpastor Silvester Beaman.
       
       Musik hebt die Herzen. Und die Lyrik – inauguration kommt von „Auguren“,
       den [2][verbeamteten Wahrsagern von eins]t – übernimmt die prophetische
       Funktion. Sie greift vor auf Inhalte der Ära, die anbricht, formuliert
       Erwartungen, auch Ängste – ohne in die Prosa konkreter Forderungen
       abzurutschen. „Give birth again/ To the dream“, hatte Maya Angelou 1993
       [3][in ihrem für Bill Clinton die Poetik jedes Inaugural Poems umrissen]:
       den Traum erneuern, der Amerika ist.
       
       ## Akzent auf Versöhnung
       
       Diesmal soll der Akzent auf Versöhnung liegen. Aber durch die Berufung der
       intersektionellen Aktivistin Amanda Gorman als Inaugural-Poet macht Bidens
       Team klar, dass Versöhnung nicht Harmoniesülze bedeutet. Wir sind nicht
       plötzlich alle Freunde. Mit besorgten Faktenleugnern unter Waffen lässt
       sich nicht reden, und mit „men so white they gleam blue“ kein Frieden
       schließen: Das unheimliche Bild der Männer, die so weiß sind, dass sie blau
       glimmen, hatte Gorman 2017 geprägt.
       
       Sie war damals frisch [4][zur ersten Youth National Poet Laureate berufen
       worden] und angesichts des tödlichen [5][Fascho-Aufmarschs von
       Charlottesville] hatte sie mit „In This Place (An American Lyric)“ ein
       mental-politisches Panorama der USA [6][entworfen]. Deren Spaltung sei zu
       überwinden, wenn die „Liebe der Vielen / den Hass der Wenigen verschluckt“,
       weiß das Gedicht. Weshalb gelte: „The tyrants fear the poem.“
       
       Tyrannen fürchten das Gedicht: Ein Vers von historischer Wahrheit. Amanda
       Gorman hat ihn zu ihrem Motto erhoben und einen Sticker mit ihm entworfen:
       Sie, voranschreitend, ein Buch in der Hand, wie eine Waffe. Ihre Lyrik ist
       Aktivismus, und ihr Aktivismus Lyrik, und sei es als Demo-Aufruf, wie das
       spoken-words-Gedicht „Rise Up As One“. Das hat 2018 für den Women's March
       [7][in ihrer Heimatstadt] Los Angeles [8][Los Angeles mobilisiert], mit
       Rhythmen und Reimen, die verrieten, dass die Spitzenakademikerin die
       Sprache ihrer Hood noch spricht.
       
       ## Defizite ausgleichen
       
       Das Team Biden hätte eine bequemere Wahl treffen können, aber keine
       schlauere. Denn so eine Inaugural Poet soll ja auch ausgleichen, was als
       Defizit des neuen Amtsinhabers gilt. Großväterlicher weißer neuer
       Präsident, junge schwarze Dichterin: Der Kontrast ist gut.
       
       Er wirkt wie ein Gegenstück zur Premiere vor 60 Jahren. Damals ließ sich
       ein burschikoser Präsident von einem Dichtergreis in Weisheit hüllen. John
       F. Kennedy galt, [9][wie Kaiser Augustus], als kundiger Lyrik-Liebhaber.
       Darauf zu drängen, dass National Poet Laureate Robert Frost zu seiner
       Vereidigung am 20. Januar 1961 ein Gedicht vortragen solle, war auch eine
       imperiale Geste. Alle Präsidenten der Demokraten haben sie wiederholt. Bis
       auf Jimmy Carter.
       
       Möglicherweise hatte der die Premiere noch zu genau in Erinnerung. Denn die
       war nicht glücklich. Frost, der einzige namhafte Dichter, der Joseph
       McCarthy die Stirn geboten hatte, konnte, von der Wintersonne geblendet,
       das Typoskript [10][des ironischen Huldigungsgedichts], das er gedrechselt
       hatte, [11][nicht entziffern]. Stattdessen trug der 86-Jährige auswendig
       das schlimme „The Gift Outright“ vor also „Das bedingungslose Geschenk“.
       
       „The land was ours“ fängt's an, „before we were the land's“. Also: Das Land
       war unser, bevor wir dieses Landes waren, / es war seit über hundert Jahren
       unser Land, / bevor wir dann sein Volk gewesen sind. Unser war / das schöne
       Massachusetts…. Und so weiter, über Territorien der [12][Mohegan],
       [13][Wampanoag] und [14][Powhathan] gen Westen. Ein glorreicher Ritt, bei
       dem die unnützen Native Americans wohl nur gestört hätten.
       
       „Hat er da echt Völkermord abgefeiert?“, hat sich der Dichter Jason
       Schneiderman beim Wiederlesen entgeistert gefragt, als er 2011 dem Rätsel
       des Genres Inaugural Poem [15][nachging]. Die Antwort ist nicht nein.
       
       ## Das Glücksversprechen ernst nehmen
       
       Chauvinismus ist passé, in der US-Lyrik. Er [16][lag auch schon Richard
       Blanco] und [17][Elizabeth Alexander fern], den Inaugural Poets von Barack
       Obama. Mit ihnen hat sich Gorman jetzt beraten. Sicher ist, dass da eine
       junge Frau auftreten wird, die sich traut, das individuelle
       Glücksversprechen der Unabhängigkeitserklärung ernst zu nehmen und sich
       nicht abspeisen lässt: „The One for Whom Food Is Not Enough“ heißt ihr
       bislang einziger Gedichtband, 2015 erschienen, längst vergriffen.
       
       Ihre online veröffentlichte Dichtung [18][zielt oft direkt auf die
       politischen Institutionen und ihre Fundamente]. Etwa auf Thomas Jeffersons
       „Notes On The State of Virginia“ (1785).
       
       Die sind ein Grundlagentext der USA. Sie formulieren, vor der Verfassung,
       deren Freiheitsrechte, das Prinzip des säkularen Staats und das von Checks
       and Balances. Ihr 14. Kapitel aber verwandelt anti-Schwarze Ressentiments
       in eine pseudorationale Doktrin.
       
       Gorman hat das berüchtigte Dokument zu einem Erasure-Poem –
       Auslöschungs-Gedicht – [19][so umgearbeitet, dass der Text die
       deutungsoffene Schönheit einer Ruine gewinnt]: „poetry is misery enough
       /God knows poetry. / Love is peculiar / of the poet. ardent,“ heißt es
       darin, also: Dichtung ist Elend genug / Gott kennt Dichtung. / Liebe ist
       seltsam/ von dem Dichter. glühend.
       
       ## Sie macht, dass Liebe glüht
       
       Dichtung wäre Elend? Im Gegenteil: Sie macht, dass Liebe glüht, wo vorher
       Hass glomm, eisig und blau. Es wäre zuviel verlangt, das von Gormans
       Inaugural-Gedicht zu erwarten, das „The Hill We Climb“ heißen wird.
       
       Aber Hoffnung, die wird es verkünden. Denn nach dem Konföderierten-Aufstand
       vom 6. Januar sei es eine Herausforderung gewesen, den optimistischen
       Tonfall beizubehalten, wird sie im Time-Magazine [20][zitiert]. Aber es
       gibt keinen Zweifel daran, dass Amanda Gorman sie bewältigt hat.
       
       20 Jan 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://bideninaugural.org/presidential-inaugural-committee-announces-participants-in-the-59th-inaugural-ceremonies/
 (DIR) [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Auspizien
 (DIR) [3] https://genius.com/Maya-angelou-on-the-pulse-of-morning-annotated
 (DIR) [4] https://www.youthlaureate.org/national-youth-poet-laureate
 (DIR) [5] https://de.wikipedia.org/wiki/Rechtsextreme_Demonstrationen_in_Charlottesville_2017
 (DIR) [6] https://www.splitthisrock.org/poetry-database/poem/in-this-place-an-american-lyric
 (DIR) [7] https://i0.wp.com/www.lataco.com/wp-content/uploads/Amanda-Gorman-Poem-2.png?w=776&ssl=1
 (DIR) [8] https://www.bustle.com/p/rise-up-as-one-video-featuring-poet-amanda-gorman-filmmaker-gabrielle-gorman-shows-how-powerful-resistance-can-be-when-its-intersectional-exclusive-7945545
 (DIR) [9] https://docplayer.org/27022934-Wilfried-stroh-augustus-und-seine-literaten.html
 (DIR) [10] https://www.jfklibrary.org/learn/about-jfk/life-of-john-f-kennedy/fast-facts-john-f-kennedy/for-john-f-kennedys-inauguration-by-robert-frost-undelivered-poem
 (DIR) [11] https://www.biography.com/news/john-f-kennedy-inauguration-robert-frost-poem
 (DIR) [12] https://de.wikipedia.org/wiki/Mohegan
 (DIR) [13] https://de.wikipedia.org/wiki/Wampanoag
 (DIR) [14] https://de.wikipedia.org/wiki/Powhatan
 (DIR) [15] https://ugapress.org/book/9780820347325/a-sense-of-regard/
 (DIR) [16] https://poets.org/poem/one-today
 (DIR) [17] https://poets.org/poem/praise-song-day
 (DIR) [18] https://www.youtube.com/watch?v=9cZUl3hRBB4
 (DIR) [19] https://www.wbur.org/hereandnow/2020/10/15/amanda-gorman-youth-poet-laureate
 (DIR) [20] https://time.com/5930015/poet-amanda-gorman-biden-inauguration/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Benno Schirrmeister
       
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