# taz.de -- Zukünftige Pandemien vermeiden: Wir Amokläufer
       
       > Nach der Pandemie werden wir endlich wieder shoppen. Die Wirtschaft
       > springt an, die Laune wird besser – und der globale Müllberg wächst
       > exponentiell.
       
 (IMG) Bild: Endlich wieder: Shopping in Wiens längster Einkaufstraße
       
       Es war ein schöner Samstag in Mitteleuropa. Die Sonne schien, die
       Temperatur kletterte auf fünfzehn Grad, die Vögel tirilierten den Frühling
       herbei. Alles drängte nach draußen, Kinderwagen, Rennräder, Schoßhunde. Die
       vom Lockdown erschöpften Menschen spazierten herum, sonnten sich oder
       standen Schlange, meist zu zweit oder zu dritt, in langen Wartereihen, die
       sich vor den großen Kleidungsgeschäften bildeten.
       
       Weil nur wenige auf einmal hineindurften, bewegte sich die Schlange sehr
       langsam. Die meist jungen Shopper harrten geduldig aus. So sah es am
       Samstag in Wien aus, in der Fußgängerzone der Mariahilfer Straße.
       
       Vielleicht tue ich den aufgereihten Kids Unrecht, vielleicht benötigten sie
       dringend eine neue Hose oder Bluse, Sneakers mit bunten Sohlen oder ein
       TikTok-T-Shirt (hochwertige Ware für knapp zehn Euro). Vielleicht standen
       sie sich aus Not oder Notwendigkeit die Beine in den vollen Bauch, anstatt
       Fußball zu spielen oder auf einer Parkbank zu schmusen. Bestimmt hatten sie
       einen Grund, dort anzustehen, wo der schlechteste Wechselkurs zwischen
       Natur, Würde und Zukunft feilgeboten wird.
       
       Vielleicht sind sie aber auch Opfer einer Sprachverwirrung, [1][die sich am
       Wort „Normalität“ entzündet hat]. Denn die Normalität, die gemeinhin
       gemeint ist, beinhaltet eine möglichst baldige, möglichst schnelle Rückkehr
       zum Wirtschaftswachstum. Aus solcher Perspektive betrachtet, erfüllen diese
       treuen Soldaten ihre Pflicht beim Konsumeinsatz.
       
       Es kann nicht oft genug wiederholt, nicht stark genug betont werden: Noch
       wichtiger als die Frage, wie wir mit der gegenwärtigen Krise umgehen, ist
       die Frage, wie wir mögliche Pandemien in der Zukunft vermeiden. Gewiss
       nicht durch Abwarten, durch kapitalistischen Fatalismus. Und auch nicht
       durch pharmazeutische Reaktionen auf kommende Infektionen.
       
       Wenn es stimmt, dass die nächste Seuche nicht eine Frage des Ob, sondern
       nur des Wann ist, [2][(wie führende Wissenschaftler warnen)] sollten wir
       dringend über die strukturellen Ursachen nachdenken, die lokale
       Krankheitserreger zu globalen zivilisatorischen Bedrohungen potenzieren.
       
       Die Zusammenhänge sind bekannt: Die Zerstörung der Natur schafft
       hervorragende Voraussetzungen für das Entstehen von Pandemien. Und die
       globalisierte Wirtschaft ermöglicht ihre rasche Ausbreitung. Abgeholzte
       Regenwälder und trockengelegte Sümpfe führen zu unheimlichen Begegnungen
       mit neuen Krankheitserregern. Je mehr Arten wir ausrotten, desto mehr Viren
       setzen wir frei. Und die herrschende Ideologie, landauf, weltab, propagiert
       lauthals: Mehr Zerstörung, je schneller, desto besser.
       
       Während wir in der Konsumschlange stehen, könnten wir uns ein wenig in
       Mathematik üben. Schon Albert Einstein hat behauptet, exponentielles
       Wachstum sei die stärkste Kraft im Universum (oder das achte Weltwunder, je
       nach Überlieferung). Und seine Kollegin Angela Merkel hat wiederholt
       angemahnt, dass die wenigsten Menschen das exponentielle Rechnen begriffen.
       Üben wir uns also ein wenig darin.
       
       [3][Nehmen wir etwa das chinesische Wirtschaftswachstum vor Corona. 2019
       waren es 6,6 Prozent.] Bliebe dies gleich, würde sich die Wirtschaft schon
       nach elf Jahren verdoppeln, nach siebzehn Jahren verdreifachen. Bevor ein
       frisch geborenes Kind volljährig wird, gäbe es drei chinesische
       Wirtschaften, somit dreimal so viel Verbrauch wie heute, dreimal so viel
       Abfall und so weiter.
       
       Um beim Müll zu bleiben. Momentan produzieren wir auf dem Erdball jährlich
       etwa 2 Milliarden Tonnen. Wenn die Müllmenge so anwächst wie die
       Wirtschaft weltweit, wird sich diese in etwas mehr als zwei Jahrzehnten, um
       das Jahr 2040 herum, verdoppelt haben. Wer Zeit hat und eine vage
       Erinnerung an den eigenen Mathematikunterricht, der kann leicht
       ausrechnen, wie viel Müll in fünfzig Jahren auf den Planeten zukommt, und
       sich dann überlegen, welche Himalaja-Halden wir errichten, wie viel
       Plastik wir verbrennen müssten.
       
       ## Irrtum und Illusion
       
       Die „heute-show“ brachte am Freitag vor dem sonnigen Samstag einen Gag von
       besonderer Prägnanz: Ein Teil des „Great Pacific Garbage Patch“, entgegen
       der Metapher kein fester Müllteppich, da auch Plastik sinkt und zerfällt,
       bestehe aus FDP-Kugelschreibern. Das Bild ist stark: Die Kalkulationen
       unserer Wegwerfökonomie sind so unbrauchbar wie billige Kugelschreiber.
       Dabei könnten wir im Kopf ausrechnen, dass es so wie bisher nicht
       weitergehen kann. Stattdessen überbieten sich die gegenwärtigen Prognosen
       gegenseitig mit post-pandemischen Hoffnungszuwächsen.
       
       Sosehr die Hoffnung grünen mag, trotz aller ökologischen Bemühungen und
       trotz aller bemerkenswerten technologischen Fortschritte ist der globale
       Energieverbrauch im Zeitraum von 2000 bis 2018 durchschnittlich pro Jahr um
       etwa 2 Prozent gewachsen. Das kausale Verhältnis zwischen Irrtum und
       Illusion entspricht jenem zwischen Klimawandel und Klimaanlage. Letztere
       wird angeworfen und immer höher geschaltet, je heißer die Folgen des
       Ersteren ausfallen. Ein sogenannter Kreislauf, heute der Wirtschaft, morgen
       des Teufels.
       
       Wann immer ich solche Überlegungen formuliere, schimpfen mich viele einen
       Pessimisten. Die Einsicht, dass wir uns von dem Wachstumswahn verabschieden
       müssen, ist aber die einzig vernünftige Form des Optimismus, die uns noch
       zur Verfügung steht. Denn ein System, das kein Innehalten oder gar ein
       Zurück oder Reduzieren zulässt, ist weder nachhaltig noch lebenshaltig,
       sondern ein Amoklauf.
       
       Vielleicht wissen es die Leute in der Warteschlange nicht, doch das
       momentan vielbeschworene Wort vom „Rebound“ bedeutet nicht nur ein
       Wettmachen von Verlusten, sondern laut Duden und medizinisch gemeint auch
       einen Rückfall „in einen früheren, schlechteren Zustand“.
       
       6 Mar 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Luisa-Neubauer-in-taz-FUTURZWEI/!171105/
 (DIR) [2] /Forscher-ueber-Corona-Ursprung/!5740763
 (DIR) [3] /Chinas-Wirtschaft-waechst-weiter/!5744638
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ilija Trojanow
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schlagloch
 (DIR) taz-Serie Corona glokal 
 (DIR) Schwerpunkt Klimawandel
 (DIR) Ökologie
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
 (DIR) Konsum
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
 (DIR) Abfall
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Hilfe für Covidkranke in Ägypten: Die Pandemiehelden
       
       Ramy Nawar fährt in Ägyptens Hauptstadt Kairo als Lebensretter durch die
       Nacht. Er und seine Freunde verteilen Sauerstoffgeräte an bedürftige
       Kranke.
       
 (DIR) UN-Bericht zu Lebensmittelverschwendung: 931 Millionen Tonnen Müll
       
       Fast ein Fünftel der verkauften Lebensmittel wird weltweit weggeworfen. Vor
       allem in privaten Haushalten landen zu viele Nahrungsmittel in der Tonne.
       
 (DIR) Coronamaßnahmen in Österreich: Aufsperren um jeden Preis
       
       Die Infektionszahlen in Österreich steigen, trotzdem plant die
       Bundesregierung erste Lockerungen. Besonders das Bundesland Vorarlberg
       prescht vor.
       
 (DIR) Coronamaßnahmen von Bund-Länder-Gipfel: Gelockerter Lockdown
       
       Ein Beschlusspapier sieht trotz steigender Infektionszahlen Öffnungen für
       Einzelhandel und Gastronomie vor. Die Hoffnung liegt auf Nasenbohrtests.
       
 (DIR) Abfallquoten in der EU: Müll-Spitzenreiter Dänemark
       
       Auch die Deutschen verursachen mehr Abfall pro Kopf als im europäischen
       Schnitt. Das EU-Parlament fordert mehr Recycling – etwa durch Öko-Design.