# taz.de -- Algeriens Jugend im Roman: Dresche für die Generäle
       
       > In „Dezemberkids“ von Kaouther Adimi muss ein Fußballplatz verteidigt
       > werden. Es geht um die Zukunft Algeriens und die Vergangenheit.
       
 (IMG) Bild: In Kaouther Adimis Roman „Dezemberkids“ wird ein Bolzplatz zur Metapher für ein Land
       
       Eine Brache in Dely Brahim, Banlieue im Westen Algiers, eine Handvoll Kids,
       die auf dem Gelände Fußball spielen, zwei Generäle mit Bauplänen: in
       Kaouther Adimis Roman „Dezemberkids“ wird ein Bolzplatz zur Metapher für
       ein Land. Die Generäle, die in der Cité du 11-Décembre, ehemals erstes
       französisches Kolonistendorf und heutiger Ruhesitz vermeintlich verdienter
       Militärs, auftauchen, wedeln mit Besitzurkunden. Sie schimpfen sich
       rechtmäßige Besitzer des Grundstücks, das nie öffentlich zum Verkauf stand.
       Und signalisieren den Kids, die über Generationen hinweg seit mehr als
       zwanzig Jahren auf diesem Feld Fußball spielen, dass es an der Zeit sei, zu
       verschwinden.
       
       Doch anders als die resignierte Generation ihrer Eltern – „du bist in
       Algerien, Gemeinschaft ist ein Begriff, keine Realität“ – denken die Kids
       gar nicht daran, ihren Bolzplatz widerstandslos aufzugeben. Sie
       organisieren Gegendruck und erheben sich gegen die mafiösen Machenschaften
       der Mächtigen: „Wenn jeder nur an seine eigene kleine Zukunft denkt und an
       seinen kleinen Komfort, wie sollen wir es dann je schaffen, dass sich
       irgendetwas ändert?“
       
       Kaouther Adimi, die 1986 in Algier geboren ist und selbst in der Cité du
       11-Décembre gelebt hat, nutzt die Kniffe des Erzählens. Sie lässt ein- und
       dieselbe Szene – die Jugendlichen, die, unterstützt von der ehemaligen
       Mudschahida Adila, auf die Generäle eindreschen und sie in die Flucht
       schlagen – in wechselnder Perspektive Revue passieren. „Wie ist es
       passiert? So sollten die Jugendlichen im Viertel fragen, die nicht dabei
       waren, als es geschah. […] Wie ist es passiert? So sollten die Gattinnen
       der beiden Generäle fragen, als diese wütend und gedemütigt nach Hause
       kamen.“
       
       ## Geheimwissen und Gefälligkeiten
       
       Die Erwachsenen können die Generäle bändigen. Denn sie besitzen Akten mit
       Informationen über jeden. Sie sind allzeit bereit, über ihr geheimes Wissen
       zu reden, zu erpressen und an erbrachte Gefälligkeiten zu erinnern. Aber
       was ist mit den Kindern, die Rang und Hierarchie der Militärs nicht
       interessieren, „was soll man denen sagen? Wie bringt man die dazu, sich zu
       verziehen?“
       
       Wer an dieser Stelle gewillt ist, einzuwerfen: Nette Geschichte, aber so
       ist die Welt nicht, lasse sich hier eines Besseren belehren. „Dezemberkids“
       wurde tatsächlich von einer wahren Auseinandersetzung zwischen Generälen
       und Jugendfußballern im Jahr 2016 inspiriert. Diese nahmen jenen Wind der
       Veränderung vorweg, der [1][spätestens seit den „Hirak“-Protesten im Jahr
       2019] im ganzen Land weht.
       
       Junge Leute wie die Jungs und Mädchen aus Adimis Roman gingen auf die
       Straße. Sie begehrten gegen eine fünfte, bereits zwanzig Jahre währende
       Amtszeit des greisen Präsidenten Bouteflika auf. Acht Wochen später trat
       Bouteflika zurück.
       
       „Werft die Revolution auf die Straße“, zitiert Regina Keil-Sagawe,
       Übersetzerin des Romans, Larbi Ben M’hidi, einen Vorreiter im Algerischen
       Unabhängigkeitskrieg, in ihrem exzellent recherchierten Nachwort, „und das
       Volk wird sie aufheben.“ Die Hirak-Bewegung sagt Nein zu Militärstaat und
       undurchsichtigen Machtapparaten. Sie sagt Nein zu Patriarchat,
       frauenfeindlichem Gedankengut und der lebenslangen Entmündigung der
       algerischen Frau im Code de la famille. Nein zu der 2005 erlassenen, 2017
       bestätigten „Generalamnestie“, einer Unterbindung der Aufarbeitung der
       Schwarzen Dekade.
       
       „Algerien“, so schreibt Regina Keil-Sagawe, „ist ein extrem junges Land.
       Fünfundvierzig Prozent aller Bewohner und Bewohnerinnen sind unter
       fünfundzwanzig, dreißig Prozent aller Sechzehn- bis Vierundzwanzigjährigen
       sind arbeitslos.“
       
       ## Neue Zeitrechnung
       
       „Dezemberkids“ ist Zukunftsentwurf und Vergangenheitsbewältigung in einem.
       Der Roman leitet eine neue Zeitrechnung ein, samt neuer Gesellschaft und
       neuem Gesellschaftsvertrag. Das tut er, gerade weil er sich auf die
       Schrecken der Vergangenheit stützt und die algerische Revolution erzählt –
       gestern wie heute.
       
       Kaouther Adimi war für ihren Roman „Was uns kostbar ist“ über den
       unerschrockenen algerischen Verleger Edmond Charlot bereits für den Prix
       Goncourt 2017 nominiert. In „Dezemberkids“ verwebt sie nun wie im
       Vorbeigehen Tagebucheinträge, innere Monologe und eine allwissende
       Erzählinstanz zur geschichtlichen Vergangenheit des Landes, seiner Kämpfe
       und Blessuren.
       
       Adimis Erzählweise lässt in einem spannenden Jugendroman auch zahllose
       Opfer des Schwarzen Jahrzehnts in Algerien wieder aufleben. All die Toten,
       die Verwundeten, die Verschwundenen, die Traumatisierten und Exilierten,
       die das erzwungene kollektive Verdrängen in ein Schweigegelübde verbannt
       hat. Nur eine Gesellschaft, so könnte man den Subtext von Adimis Romans
       lesen, die ihre Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft.
       
       11 Mar 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Verfassungsreform-in-Algerien/!5722366
       
       ## AUTOREN
       
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