# taz.de -- Oper „The Turn of the Screw“ in Hannover: Grauen in Grau
       
       > Grusel-Kammeroper mit Film-noir-Anleihen: Sehr sehenswert inszeniert die
       > Staatsoper Hannover Benjamin Brittens „The Turn of the Screw“.
       
 (IMG) Bild: Spukt Diener Quint (Sunnyboy Dladla) auf Bly Manor – oder nur im Kopf der Gouvernante (Sarah Brady)?
       
       HAMBURG taz | „It is a curious story, I have it written in faded ink – a
       woman’s hand“: Mit rahmenden Worten, einer Verschachtelung alles Folgenden,
       beginnt Myfanwy Pipers Libretto zu „The Turn of the Screw“. Auf die
       Opernbühne gebracht hat Henry James’ Gruselgeschichte der Brite
       [1][Benjamin Britten]. Nicht immer schon, aber heutzutage zählt das 1954 in
       Venedig erstmals aufgeführte Stück zu dessen meistgespielten
       Musiktheaterarbeiten.
       
       Und der Stoff selbst, diese Landhausgeschichte um eine namenlos bleibende
       Gouvernante, die ein abwesender Verwandter mit der Erziehung zweier Kinder
       beauftragt – aber auch einschwört auf maximale Diskretion alles betreffend,
       was sie dort erleben möge? Ist auf nahezu alle erdenklichen Weisen
       adaptiert worden.
       
       ## Kriminalfilm-Anmutung
       
       Eröffnete James die Vorlage mit einer Erzählsituation am wohlig wärmenden
       Kaminfeuer, liefert den Piper/Britten’schen Monolog in Hannover nun ein
       rauchender Mann mit Hut (Marco Lee/Long Long) – und erinnert darin,
       durchaus nicht zuletzt, ans Personal des Film noir. Mit jenem
       Kriminalfilm-Subgenre hat die Inszenierung an der Staatsoper Hannover –
       Regie: Immo Karaman – noch mehr gemeinsam: den Einsatz von Licht und
       Schatten, Trug- und Spiegelbild und, ja: eine beinahe vollständige
       Abwesenheit von Farbe.
       
       Strenges Schwarz und Weiß – genau genommen natürlich noch zahllose Grautöne
       – also nutzen Thilo Ullrich (Bühne), Fabian Posca (Kostüme) und Susanne
       Reinhardt (Licht) da, vom maximal abstrahierten Haus-Umriss, vier weiße
       Linien, projiziert auf schwarzen Hintergrund bis zu den weiß geschminkten
       Handelndengesichtern mit den schwarz akzentuierten Augen und Mündern, dem
       gerne rabenschwarzen Haar oder glänzendem Leder.
       
       ## Konzentrierte Kammeroper
       
       Aufgezeichnet schon Ende März, ist die musikalisch sehr konzentrierte
       Kammeroper (Musikalische Leitung: Stephan Zilias) nun insgesamt dreimal
       [2][als Stream zu sehen] – eine Form, die allen filmischen Assoziationen
       zuarbeitet: Da wird ja geschnitten von der einen Kameraperspektive zur
       anderen, und so bietet sich das Stück denkbar anders dar, als es das täte
       von einem echten Sitzplatz aus im echten Haus.
       
       Freilich: Mit dem zur Ansicht genutzten Gerät steht und fällt dann
       wiederum, ob Details wahrgenommen werden oder nicht. So sah der Rezensent
       [3][der Hannoverschen Allgemeinen] ein schönes, wenn auch nur vielleicht
       entscheidendes: „Allein wenn die Sänger weit den Mund öffnen, kann man
       erkennen, dass hier kein Schwarz-Weiß-Film läuft: Ihre Mundhöhlen schimmern
       in lebendigem Rot.“
       
       Was lebendig sei und was vielmehr längst tot, was real und was nur
       eingebildet: Das sind ja die Fragen, die diesen Stoff durchziehen. Spuken
       auf Bly Manor nun die Geister des einstigen Personals, die den Kindern
       Flora (Weronika Rabek) und Miles (Jakob Geppert) erscheinen? Oder bildet
       sich das die hinzugekommene Gouvernante (Sarah Brady) schlicht ein, ehe
       sie, zunehmend der Realität abhanden kommend, vielmehr selbst zur
       Kindsmörderin wird? Diese nie aufgelöste Ambivalenz stiftet wohl den Reiz,
       seit [4][„The Turn of the Screw“] 1898 zuerst in Fortsetzungen in einer
       Zeitschrift erschien.
       
       ## Stumme erhalten Stimme
       
       Es gibt Interpret_innen, die im Transfer auf die Bühne einen Verlust an
       eben dieser Offenheit und Schwebe erkannt haben: James hatte die beiden
       (möglicherweise) jenseitigen Gestalten stumm gelassen – für Britten ganz
       offensichtlich keine Option. Sein Quint (Sunnyboy Dladla) und die ihm zum
       Opfer gefallene Miss Jessel (Barno Ismatullaeva) haben Stimmen, und sie
       singen Text.
       
       „Britten hat sich in Abweichung zu Henry James dafür entschieden, Jessel
       und Quint als Figuren mitagieren zu lassen“, so Regisseur Karaman [5][im
       Programmheft]. „Aber die Verschleierung bleibt“: Britten und seine
       Librettistin übernehmen ja, dass wir sämtliche Handlung nur vermittelt
       vorgeführt bekommen, fußend auf jenen Aufzeichnungen in verblasster
       Frauenhandschrift.
       
       Wer will, kann aus mancher inszenatorischen Entscheidung weitere Indizien
       machen für die eine oder andere Lesart – also die der existierenden, reale
       Wirkung entfaltenden Gespenster oder vielmehr jene des zunehmenden
       Realitätsverlustes der Erzählerin: Wenn aus Floras „doll“ – im Libretto –
       nun eine creepy Bauchrednerpuppe wird: Ist dann nicht vielleicht auch der
       Kindsverderber Quint nur ein Objekt, dem die Gouvernante ihr höchst eigenes
       Böses sozusagen einflüstert?
       
       Aber, alles Detektivische beiseite gelassen: Eine vielleicht gerade allzu
       naheliegende Ebene harrt noch ihrer Ausdeutung: Da geht es ja um Kinder,
       die zuhause erzogen werden sollen, isoliert von Gleichaltrigen in ihrem
       abgeschiedenen Haus – ist [6][dieser Britten] schlicht eine, ja: die
       Corona-Oper?
       
       28 Apr 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Bremen-eroeffnet-Musiktheater-Saison/!5237013
 (DIR) [2] https://staatstheater-hannover.de/de_DE/programm-staatsoper/livestream-the-turn-of-the-screw.1298871
 (DIR) [3] https://www.haz.de/Nachrichten/Kultur/Region/Staatsoper-Hannover-Premiere-von-Benjamin-Brittens-The-Turn-of-the-Screw-ueberzeugt-auch-im-Internet
 (DIR) [4] /!1120981/
 (DIR) [5] https://doc.culturebase.org/dox/0/d/0/1/f/0d01f92a29bec93b977f058bc5264c6760819c34e4a0e5.33171279.pdf
 (DIR) [6] /!287282/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Alexander Diehl
       
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