# taz.de -- Rückkehr des Klassenbegriffs: Klasse ohne Kampf
       
       > Wer heute Klasse sagt, meint meist Klassismus. Von links gibt's Kritik:
       > Wenn die Zugehörigkeit zur Klasse nur angenehmer wird, schafft niemand
       > sie ab.
       
 (IMG) Bild: Auch auf der Straße sieht man „Klasse“ wieder öfter: Transparent am 1. Mai in Hamburg
       
       HAMBURG taz | Scheele Blicke bekam noch vor ein paar Jahren, wer ernsthaft
       von Klasse sprechen wollte, von einer Klassengesellschaft, gar vom
       Klassenkampf; wer den 1. Mai noch – oder wieder – „Kampftag der
       Arbeiter:innenklasse“ nannte. Altbacken oder nassforsch wirkte das, aus der
       Zeit gefallen, fern der Wirklichkeit.
       
       Aber spätestens seit Didier Eribons Bestseller „Rückkehr nach Reims“ wird
       das Sprechen über Klassenfragen, über soziale Herkunft und Diskriminierung
       aufgrund der sozialen Position nicht nur im Feuilleton ernst genommen. Und
       das Krisen-Brennglas Corona hat der Diskussion über eine „Rückkehr der
       Klasse“noch mal Nachdruck und neue Aspekte verschafft: „[1][Corona als
       Klassenfrage]“ hieß unser Schwerpunkt dazu in der taz nord am vergangenen
       Wochenende.
       
       Worum es dabei vor allem geht, macht ein Blick in diese Zeitung in den
       vergangenen Wochen deutlich: nicht um kommunistischen Klassenkampf, sondern
       um Klassismus, also – analog zum Rassismus und Sexismus – um
       Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft, um Ausschluss und
       Aufstiegschancen. Eine [2][persönliche Geschichte vom sozialen Aufstieg]
       konnte man da lesen, eine [3][Rezension des neuen Sammelbandes „Klasse und
       Kampf“], einen Bericht über die Initiative „Arbeiterkind.de“, die sich
       [4][gegen Klassismus im Bildungssystem] wendet, und, und, und. Alle paar
       Tage ein Text.
       
       Was hinterm neuen Interesse an der Klasse steckt, was es für wen bedeutet –
       und was in der Diskussion fehlt –, darüber wird leidenschaftlich
       gestritten. Für Irritation sorgte etwa Ende vergangenen Jahres ein
       [5][Tweet des Zeit-Feuilletonisten Lars Weisbrod]: „Wie viele
       Arbeiterkinder braucht man, um eine Glühbirne zu wechseln? 15. Einer
       wechselt die Glühbirne, die anderen 14 kriegen Kolumnen über ‚Klassismus‘
       bei Vice.“Nicht nur Proletenkinder fanden das nicht witzig, weil eben:
       klassistisch, abschätzig, herablassend. Und Weisbrod [6][ruderte im
       Gespräch] mit taz-Kollege und „[7][Postprolet“-Kolumnist Volkan Ağar]
       später zurück: Ja, so werfe man Marginalisierten vor, von ihrer
       Marginalisierung zu profitieren.
       
       ## Klassenkampf für Softies?
       
       Denn in den Redaktionen, auch in dieser, sieht es jenseits der
       Klassismus-Kolumnen ja anders aus: Journalist:innen kommen immer noch
       meist aus akademischen Familien, rein kommt man über bestenfalls mies
       bezahlte Praktika – und also nur, wer sich das leisten kann, und also:
       wenig Kinder aus Arbeiter:innenfamilien.
       
       Ein Problem, dass in den Redaktionen ja auch niemand bestreiten wird. Aber
       diskutiert wird dort gerade vor allem, ob eine solche Sensibilisierung für
       Klassenaspekte bloß ein „[8][Klassenkampf für Softies]“ ist. Das Argument:
       Ein bisschen Klassenbewusstsein mag das ja schaffen, aber sonst sei diese
       Wiederkehr der Klasse ein Tiger, der sich auf der individuellen,
       mikropolitischen Ebene die Zähne ausbeißt. [9][Nicht viel mehr als
       Sensibilisierungsworkshops und Coachings kämen da heraus].
       
       Oder wie es das linke Medienkollektiv Lower Class Magazine in einem Tweet
       ausdrückt: Der „feine Unterschied“ zwischen „postmodernem
       Klassismusblablabla“ und der „Klassenlinken“ sei, dass für Erstere das
       Problem sei, „dass Migrant*innen für Putzkäfte gehalten werden“, für
       Letztere aber, dass sie „als Putzkräfte gehalten werden“.
       
       In der taz hat Isolde Charim vor einem Monat den Fokus auf Fragen des
       sozialen Aufstiegs und der Diskriminierung kritisiert: Während auch in der
       ursprünglichen Definition des Begriffs Klassismus beim US-Ökonomen Chuck
       Barone die Diskriminierung von sozialen Gruppen und von Individuen aufgrund
       ihrer Zugehörigkeit zu diesen Gruppen zwei zentrale Aspekte seien, falle
       der dritte und wesentliche Aspekt, die Unterdrückung durch das ökonomische
       System, in der derzeitigen Wiederkehr der Klassismus-Debatte unter den
       Tisch.
       
       Die Klassenfrage werde so beschnitten und zu einer [10][Frage bloßer
       Identitätspolitik]: „Die Klasse wird zur Identität und der Klassismus zur
       identitätspolitischen Ausgrenzung.“ Und Identitätspolitik sei
       Anerkennungspolitik, die „Utopie des Klassismus-Diskurses“ deshalb nicht
       die Abschaffung des Kapitalismus, sondern bloß: „eine glückliche
       Unterschicht, glücklich, weil man sie nicht mehr so nennen darf?“
       
       Ein zahnloser Tiger also, diese „Wiederkehr der Klasse“ als
       Klassismus-Trend? Eine für die herrschenden sozialen Zustände ganz und gar
       ungefährliche, für den Kampf für ihre Umwälzung hingegen höchst gefährliche
       Angelegenheit, weil sie den gerechten Furor der Unterdrückten in einen
       großen gesellschaftlichen Sensibilisierungskurs kanalisiert, damit die
       Ausbeutung sich für die Betroffenen doch wieder nur ein bisschen besser
       anfühlt?
       
       Den ganzen Schwerpunkt der taz nord zum 1. Mai lesen Sie in der taz am
       Wochenende am Kiosk oder [11][hier].
       
       29 Apr 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Neue-Impf-Priorisierung-gefordert/!5763368
 (DIR) [2] /Geschichte-vom-sozialen-Aufstieg/!5762513
 (DIR) [3] /Sammelband-Klasse-und-Kampf/!5763204
 (DIR) [4] /Berliner-Freiwilligenmesse-nur-digital/!5763060
 (DIR) [5] /!5748471/
 (DIR) [6] /taz-Diskussion-Being-Arbeiterkind/!vn5748764
 (DIR) [7] /Kolumne-Postprolet/!t5711964
 (DIR) [8] https://www.zeit.de/kultur/2021-04/klassismus-ijoma-mangold-lars-weisbrod-soziale-ungleichheit-umverteilen-klassenkampf
 (DIR) [9] https://www.zeit.de/2021/09/klassismus-diskriminierung-soziale-herkunft-gesellschaft
 (DIR) [10] /Wiederkehr-des-Klassismus/!5756958
 (DIR) [11] /e-kiosk/!114771/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Robert Matthies
       
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