# taz.de -- Debatte um albanisches Baudenkmal: Auf die Geschichte klettern
       
       > In Albaniens Hauptstadt Tirana wird um ein Baudenkmal gestritten. Einst
       > sollte es Diktator Enver Hoxha ehren, heute ist die „Pyramide“ ein
       > beliebter Treffpunkt.
       
 (IMG) Bild: Soll neugestaltet werden: die für den ehemaligen Diktator Enver Hoxha errichtete „Pyramide“
       
       Wer sich in Tirana abends mit Freund*innen verabredet, trifft sich an der
       „Pyramide“. Nur wenige hundert Meter vom zentralen Skanderbegplatz und dem
       heutigen Ausgehviertel Blloku entfernt, steht dieses brutalistische
       Gebilde: Die nach oben zulaufenden Betonschrägen übersät mit Graffiti, die
       Mamorfliesen, die sie einst bedeckten, längst verschwunden. Wohin, weiß
       niemand genau. Eine Fensterfront ist zersplittert und gibt kaum den Blick
       ins Innen frei. Draußen klettern Jugendliche die Schrägen hinauf, denn von
       oben ist der Blick über die albanische Hauptstadt fantastisch.
       
       Nach Jahren des Verfalls haben im Februar dieses Jahres zumindest im Innern
       die Aufräumarbeiten begonnen. Denn [1][das niederländische Architekturbüro
       MVRDV] hat ambitionierte Pläne präsentiert für eine Neugestaltung des wohl
       bekanntesten Gebäudes in Albanien – und eines der umstrittensten.
       
       Erbaut wurde die „Pyramide“, wie sie von Tiranas Bewohner*innen wegen
       ihrer spitz zulaufenden Form genannt wird, zur Erinnerung an den 1985
       verstorbenen [2][Diktator Enver Hoxha]. Während seines 46 Jahre anhaltenden
       kommunistischen Regimes hatte er das Land komplett von der Außenwelt
       abgeschottet, ließ die Bürger*innen systematisch überwachen und steckte
       sie in Arbeitslager. Bis zu 10.000 Menschen verschwanden auf diese Weise,
       viele davon bis heute spurlos.
       
       Hoxhas Tochter Pranvera hatte die Pyramide entworfen, 1988 wurde sie mit
       einer überdimensionalen Marmorstatue des ehemaligen Diktators im Innern
       eröffnet – zu einer Zeit, als Albanien eines der ärmsten Länder der Welt
       war. Die Menschen lebten von mageren Essensrationen mit einem Kilo Fleisch
       pro Monat für eine vierköpfige Familie. Um diesen Schrein zu besuchen,
       wurden Menschen aus allen Landesteilen in die Hauptstadt kutschiert.
       
       ## Nachtclub oder Nato-Büro
       
       Doch nicht lange: Drei Jahre nach der Eröffnung stürzte im Februar 1991
       eine verzweifelte Meute eine andere Hoxha-Statue auf dem nahen
       Skanderbegplatz: Es war der Beginn des Endes der Diktatur, die Hoxhas
       Nachfolger Ramiz Alia genauso erbarmungslos weitergeführt hatte. In
       Albanien wurden keine Mauern gestürmt wie in der DDR, sondern Statuen im
       ganzen Land gestürzt. Das ebnete den Weg zur ersten demokratischen Wahl und
       zur Verfassung der Republik Albanien am 19. April 1991.
       
       Danach wollten viele nichts mehr wissen von dieser Zeit – und auch nicht
       von den architektonischen Überbleibseln. Viele Gebäude wurden abgerissen,
       andere, wie die Villa des ehemaligen Diktators in Tirana, dem Verfall
       preisgegeben, fast so, als hoffe man, dass sich die Vergangenheit und mit
       ihr der ganze Schrecken von selbst zersetzt.
       
       Die „Pyramide“ war nach 1991 mal Radiostation, mal Nachtclub, mal Nato-Büro
       während des Kosovokriegs 1999. Jede Regierung präsentierte neue Pläne, die
       meisten davon politisch motiviert. Im Jahr 2010 etwa wollte der damalige
       Premier Sali Berisha das Gebäude abreißen, um die Pläne seines Vorgängers
       zu durchkreuzen. Heftiger Widerstand von ehemaligen politischen Gefangenen
       und Bürger*innen verhinderte das.
       
       Bei dem Architekturbüro MVRDV, das die Regierung des [3][Premiers Edi Rama]
       nun mit der Umgestaltung betraut hat, sei man sich der „bewegten und
       umstrittenen Vergangenheit“ des Gebäudes bewusst, so Architekt Winy Maas.
       „Wir versuchen, den Menschen das Gebäude zurückzugeben“, sagt Maas der taz.
       „Dafür werden wir die Struktur radikal öffnen, sodass es ein wahrhaft
       öffentliches Gebäude wird.“ Laut den Plänen wird die zersplitterte
       Glasfront weichen, der Blick ins Innere freigelegt.
       
       Künftig sollten Treppenstufen zur Spitze der Pyramide hinaufführen, damit
       sie alle Menschen besteigen können, nicht nur die Waghalsigen. Im Inneren
       können Jugendliche mit der internationalen Bildungs-NGO Tumo kostenlos
       etwas über Programmieren oder Musikmachen lernen. Auch das umliegende
       Areal, das mit seinen 12.000 Quadratmetern heute brach liegt, wird mit
       Cafés, Studios und Klassenzimmern einbezogen. „Fast wie ein Dorf“, hofft
       Maas.
       
       ## Vorbelasteter Staatsapparat
       
       Auf die Frage, welche Rolle die Erinnerung an die Verbrechen des
       kommunistischen Regimes bei den Entwürfen spielt, antwortet der Architekt:
       „Als MVRDV blicken wir immer in die Zukunft und darauf, was als nächstes
       kommt.“
       
       Enriketa Papa wäre es lieber, Albanien würde erst einmal zurückblicken. „In
       Albanien fehlt eine öffentliche Erinnerungspolitik“, sagt die Professorin
       für Geschichte an der Universität Tirana. Gesellschaft und Politik hätten
       sich nicht genug mit den Verbrechen während der Diktatur
       auseinandergesetzt. Bis heute gelten Tausende als vermisst, viele politisch
       Verfolgte hätten keine oder kaum Entschädigung erhalten, so Papa. Die
       Sichtung der Geheimdienstakten hat gerade erst begonnen, und auch im
       Schulunterricht kommt diese Zeit so gut wie nicht vor.
       
       Doch die fehlende Aufarbeitung verwundert nicht, wenn man sich die
       Vergangenheit vieler amtierender Politiker*innen oder
       Staatsbediensteter ansieht, die auch schon im Kommunismus an der Macht
       waren. Eine Aufarbeitung der Geschichte des Staatsapparats gab es nach dem
       Ende der Diktatur in Albanien nicht. Und eine Aufarbeitung heute würde
       ihnen nur selbst schaden.
       
       Laut Papa gibt es in ganz Albanien bis heute keine Mahnmale und nur zwei
       öffentliche Museen zu dieser Zeit. „Das ist nicht genug“, findet sie. „Wir
       riskieren, dass Kinder und Jugendliche in der,Pyramide' künftig zwar etwas
       über Technologie lernen, aber nichts über die Verbrechen, die mit diesem
       Gebäude in Verbindung stehen.“
       
       ## Politische Aufarbeitung ist nötig
       
       Auch Gezim Peshkëpia hätte sich einen schlichten Ort für die
       Auseinandersetzung mit der Geschichte gewünscht. Der 81-Jährige ist in
       Tirana geboren und saß wegen „Propaganda“ für acht Jahre in der Haftanstalt
       Ballsh, wie viele in seiner Familie. Sein Vater wurde zusammen mit anderen
       Intellektuellen hingerichtet, vor Kurzem erst wurde die
       Manush-Peshkëpia-Straße in Tirana nach ihm benannt.
       
       1990 floh er wie so viele über die Deutsche Botschaft nach Soest in
       Nordrhein-Westfalen. „Wer diese in Europa beispiellose Diktatur erlebt hat,
       wird sich dort immer daran erinnern“, sagt Peshkëpia über die „Pyramide“.
       Doch am wichtigsten erscheint ihm eine politische Aufarbeitung, „so wie die
       Naziverbrecher nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Anklagebank saßen“.
       
       In einer Umfrage unter Bekannten zeigt sich, dass auch junge Menschen, die
       nicht unter der Hoxha-Herrschaft aufgewachsen sind, eine weitere
       Auslöschung der Erinnerung fürchten. Schließlich hat sich Tirana in den
       letzten Jahren rasant gewandelt: Rund um den Skanderbegplatz türmen sich
       heute charakterlose Hotel- und Bürokomplexe, neben der „Pyramide“ sind aus
       der kommunistischen Zeit nur der Kongresspalast, der Kulturpalast und das
       Nationalmuseum erhalten geblieben.
       
       ## Die „Pyramide“ hinunterrutschen
       
       Auch [4][das Nationaltheater aus der italienischen Besatzungszeit wurde im
       vergangenen Jahr über Nacht und trotz massiver Protests abgerissen]. Nun
       soll dort ein weiterer Shoppingkomplex entstehen. Eine andere Bekannte
       erinnert sich aus ihrer Kindheit an Rockkonzerte in der „Pyramide“ und
       hofft, dass das Gebäude bald eine Funktion bekommt, anstatt zu verrotten.
       
       Auch wenn sich das Äußere der „Pyramide“ laut den Plänen der Architekten
       verändern wird, eine Sache bleibt erhalten: Zumindest eine Schräge wird
       nicht mit Stufen verbaut, sie hinunterzurutschen bleibt möglich.
       
       Der Kommunismus ging in Albanien vor 30 Jahren zu Ende. Die Vergangenheit
       ist hier noch frisch, man sieht sie im Parlament und den Gesichtern jener
       Menschen, die die Arbeitslager überlebt haben. Auch Deutschland hat nach
       dem Nationalsozialismus Zeit gebraucht, um einen Umgang mit der Schuld zu
       finden, und tut es immer noch (wie die Kontroverse über die
       Wehrmachtsausstellung Anfang der 2000er zeigte). Doch immerhin gelangte
       Deutschland rasch wieder zu Wohlstand, während Albanien von
       Arbeitslosigkeit, Korruption und dem Exodus der jungen Generation gelähmt
       bleibt. Da erscheint auch die Benennung der Manush-Peshkëpia-Straße als
       wichtiger Schritt.
       
       17 May 2021
       
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