# taz.de -- Ziviler Ungehorsam bei Klimaprotesten: Die Helden von morgen
       
       > Für viele Klimaaktivist*innen ist ziviler Ungehorsam notwendig, ihre
       > Kriminalisierung nehmen sie in Kauf. Die Geschichte könnte ihnen Recht
       > geben.
       
 (IMG) Bild: „Die letzte Chance etwas zu ändern“: Lou Winters und Jassin Braun von Sand im Getriebe Berlin
       
       BERLIN taz | Ziviler Ungehorsam ist en vogue in der Klimaschutzbewegung.
       Schüler*innen von Fridays for Future (FFF) schwänzten monatelang
       freitags die Schule (und würden es wohl noch tun, wenn Corona nicht wäre),
       Aktivist*innen von Ende Gelände (EG) besetzen Braunkohletagebaue und
       gefährdete Wälder, Rebell*innen von Extinction Rebellion (XR) blockieren
       Straßen, kleben sich an Partei- und Konzernzentralen. Mit der
       angekündigten „Massenblockade“ auf der A100 durch Sand im Getriebe (SiG) am
       Samstag kommt ein neuer Zielort für Proteste hinzu: Autobahnbaustellen.
       
       Dass immer mehr unbescholtene Bürger*innen es wagen, die Schwelle des
       erlaubten Protests zu übertreten und den Konflikt mit dem Gesetz suchen,
       hat zwei Gründe. Da ist zum einen die Bedrohung durch die Klimakrise, die
       existenzielle Angst vor einer globalen Vernichtung von Leben und
       Lebensräumen, die aus Sicht der Aktivist*innen sofortiges Handeln
       erfordert. „Wir sind mitten drin in der Klimakatastrophe, dies ist die
       letzte Chance etwas zu ändern“, sagt Lou Winters, Sprecherin der Berliner
       Gruppe von SiG.
       
       Hinzu kommt der Frust, dass legale Protestformen nichts geändert haben.
       „Die Politik versagt, handelt nur im Interesse von Konzernen. Darum müssen
       wir mit unseren Körpern dafür sorgen, dass etwas passiert“, glaubt Winters.
       Ähnlich sieht es Tino Pfaff, Sprecher von XR: „Seit 40 Jahren reden wir
       über die Bedrohungen durch die Klimakrise. Menschen demonstrieren,
       schreiben Petitionen – nichts hat gewirkt.“ Darum müsse man mit
       „symbolischen Aktionen“ wie Straßenblockaden „größtmögliche Aufmerksamkeit
       für das Thema erzielen“.
       
       Mit den verschiedenen Formen des zivilen Ungehorsams (ZU) greift die
       Klimabewegung auf eine seit der Antike bekannte Praxis zurück, die immer
       wieder erfolgreich war. Die prominentesten Beispiele jüngeren Datums sind
       wohl die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung und der indische
       Unabhängigkeitskampf von Mahatma Gandhi.
       
       „Generell ist ziviler Ungehorsam legitim, weil demokratischer Fortschritt
       in den seltensten Fällen aus dem politischen System selbst heraus
       geschieht. Meist bedarf es dazu 'radikaler’ Proteste“, erklärt Robin
       Celikates, Philosoph mit einem Lehrstuhl für praktische Philosophie an der
       Freien Universität. „Ob ZU im konkreten Einzelfall tatsächlich
       gerechtfertigt ist, kann nur die demokratische Öffentlichkeit entscheiden.“
       
       ## Ohne „radikalen“ Protest keine Veränderung
       
       Auch SiG und XR berufen sich auf historische Beispiele wie die
       Arbeiter*innenbewegung. „Ohne bewusste Übertretung von Gesetzen gibt es
       keine Veränderung“, ist Jassin Braun, Aktivist von SiG, sicher. Die
       Tatsache, dass vor wenigen Wochen das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) das
       Klimaschutzgesetz der Bundesregierung als unzureichend verworfen hat, ist
       für ihn kein schlagendes Gegenargument. „Das Urteil ist ein Erfolg der
       Klimabewegung und des zivilen Ungehorsams von Gruppen wie Ende Gelände.“
       
       Celikates stimmt zu: „Ohne massenhafte Klimaproteste hätte es dieses Urteil
       zumindest nicht jetzt und in dieser Form gegeben.“ Mehr noch: Da nun alles
       auf die politische Umsetzung des Gerichtsurteils ankomme, „braucht es
       weiterhin politischen Protest und Aktivismus“.
       
       Um damit bei der Mehrheitsgesellschaft zu punkten, betonen die meisten
       Gruppen ihren gewaltlosen Charakter. Denn in den westlichen Demokratien ist
       es weitgehend Konsens, dass ZU gewaltfrei zu sein hat. Celikates sieht dies
       anders: Warum, fragt er, sollten Proteste gegen massives Unrecht, die
       Sachbeschädigung, minimale Gewalt zur Selbstverteidigung oder gegen die
       eigene Person umfassen, per se unvereinbar sein mit zivilem Ungehorsam?
       
       Tino Pfaff erklärt, bei XR sei es der „größte Konsens“ in den allermeisten
       Gruppen, dass man keine Gewalt anwende, „auch nicht gegen Dinge“. Bei SiG
       gibt es den „Aktionskonsens, dass von uns keine Eskalation ausgeht“, betont
       Winters.
       
       Auf die Frage, wie sie es mit Sachbeschädigung halte – ob etwa der
       Kabelbrand vor einen Tagen an der Tesla-Baustelle in Grünheide, zu dem sich
       eine „Vulkangruppe“ bekannte, legitimer ziviler Ungehorsam sei – antwortet
       Winters sibyllinisch: „Die Klimabewegung lebt von der Vielfalt der Mittel.“
       Und: SiG stehe in der Tradition von Ende Gelände: „Wir gehen an die Orte
       der Zerstörung.“ Soll heißen: Man zerstört nicht selbst, sondern zeigt auf
       das, was andere – Kohlekonzerne, die Autobahn GmbH – zerstören.
       
       Zentral ist die Gewaltfrage in der juristischen Auseinandersetzung. Wie
       Celikates erklärt, kann laut Bundesgerichtshof und BVerfG schon eine
       Straßenblockade „Nötigung mit Gewalt“ sein. Dagegen stehe allerdings das
       Recht auf Versammlungsfreiheit, „so dass Richter und Staatsanwälte diesen
       Weg nicht gehen müssen.“
       
       ## Verfahren werden meist eingestellt
       
       Tatsächlich sind Verurteilungen wegen Nötigung nach Straßenblockaden eher
       selten, so die Erfahrung von Lukas Theune. Der Rechtsanwalt hat mehrfach
       Klimaaktivisti*innen vor Gericht verteidigt, etwa von XR, die bei der
       „Rebellion Wave“ 2019 in Berlin Kreuzungen blockiert haben. Meist habe es
       Anklagen wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte gegeben, sagt er;
       dies aber nur für Aktivist*innen, die sich angekettet hatten, etwa an
       Fahrzeuge – nicht für diejenigen, „die nur auf der Straße saßen“. Die
       meisten dieser Verfahren seien wegen Geringfügigkeit eingestellt worden.
       „Manche Richter haben auch gesagt, sie würden es honorieren, dass sich
       junge Leute dafür einsetzen, dass es den Planeten noch eine Weile gibt.“
       
       Auch Tino Pfaff von XR nimmt wahr, dass das Verständnis von
       Richter*innen für die Motive von Klimaaktivist*innen zunimmt:
       „Aber da ist noch Luft nach oben.“
       
       ## Prozesse politisieren
       
       Für seine Organisation seien Gerichtsverhandlungen ein wichtiger Teil der
       politischen Arbeit, erzählt er. „Wir versuchen, die Prozesse zu
       politisieren.“ Manche Aktivist*innen brächten sachverständige Zeugen,
       etwa Wissenschaftler, mit, die das Gericht über die Klimakrise
       beziehungsweise bestimmte Teilaspekte aufklären. „Oft wissen die Richter
       vorher wenig darüber.“
       
       Für die taz hat Pfaff viele Gerichtsprozesse gegen XR-Aktivist*innen der
       letzten zwei Jahre gesichtet. Im Zuge der „Rebellion Wave“ 2019 in Berlin
       etwa gab es nach seiner Liste 30 Anklagen, alle wegen Widerstands gegen
       Vollstreckungsbeamte. Davon wurden bislang 14 Verfahren eingestellt, die
       meisten gegen Auflagen, sprich: Zahlung einer Geldstrafe von ein paar
       hundert Euro. Eine* Aktivist*in wurde verurteilt zur Zahlung einer
       Geldstrafe von 1.350 Euro, eine* wurde freigesprochen.
       
       Was es bislang nicht gab in Deutschland, wohl aber in der Schweiz Anfang
       diesen Jahres, ist ein Freispruch wegen „rechtfertigenden Notstands“
       (Paragraf 34 StGB). Der Paragraph besagt, dass man nicht rechtswidrig
       handelt, wenn man eine Straftat begeht, um damit einen größeren Schaden von
       sich oder anderen abzuwenden.
       
       Ein Schweizer Bezirksrichter hatte mit Bezug auf das Schweizer Pendant zu
       Paragraf 34 StGB elf Klimaktivist*innen der Bewegung Lausanne Action
       Climat freigesprochen, die in einer Bankniederlassung in Lausanne Tennis
       gespielt hatten. Hintergrund: Die Bank wirbt mit dem Tennisstar Roger
       Federer und investiert nach Ansicht der Aktivist*innen in
       klimaschädliche Projekte und Unternehmen.
       
       Der Richter befand, das Vorgehen der Protestierenden sei „notwendig und
       angemessen“ gewesen: [1][„Die Aktion sei der einzige wirksame Weg gewesen,
       um die Bank zu einer Reaktion zu bewegen und um die notwendige
       Aufmerksamkeit von den Medien und der Öffentlichkeit zu erhalten.“]
       
       Mit dem „rechtfertigenden Notstand“ versuchen Anwält*innen von
       Klimaaktivist*innen – so auch Lukas Theune – immer wieder, zivilen
       Ungehorsam vor Gericht zu begründen. Bislang sind Richter in Deutschland
       diesem Argument aber nicht gefolgt. Wenn sie Angeklagte freisprechen, dann
       zumeist wegen Geringfügigkeit. So war es etwa in einem Fall vor dem
       Heidelberger Amtsgericht im Mai 2020 sein, von dem [2][die
       Rhein-Neckar-Zeitung berichtet].
       
       Dort sprach ein Richter neun XR-Aktivist*innen frei, die im Jahr zuvor eine
       Brücke in der Stadt blockiert hatten. Dadurch wurden Autofahrer*innen
       für rund 20 Minuten an der Weiterfahrt verhindert, was die
       Staatsanwaltschaft als Nötigung ansah.
       
       Dagegen argumentierte der Amtsrichter, dass das Anliegen, für Klimaschutz
       zu werben, legitim sei, zumal es mit einer Straßenblockade unmittelbar an
       Autofahrer addressiert sei – Fußgänger*innen und Radfahrer*innen
       konnten passieren. Deshalb und wegen der kurzen Dauer der Blockade „war die
       Sache für mich nicht verwerflich“, soll der Richter laut Zeitungsbericht
       gesagt haben.
       
       Auch Celikates weiß von Urteilen gegen Klimaaktivist*innen, bei denen
       Richter*innen Verständnis zeigten für die Motive der Angeklagten und
       „milde“ urteilten. Es gebe aber auch das Gegenteil: „Manche meinen, man
       müsse zivilen Ungehorsam noch härter bestrafen, weil sich die
       Aktivist*innen ja über das demokratisch zustande gekommene Gesetz
       stellen.“
       
       ## Druck auf Aktivist*innen durch Zivilklagen
       
       Michèle Winkler vom Grundrechtekomitee kann jedenfalls keinen Trend
       erkennen, dass Gerichte verständnisvoll über Klimaaktivist*innen
       urteilen. Im Gegenteil, sie sieht Aktivist*innen aufgrund des Risikos
       von Zivilklagen durch Konzerne unter Druck. Diese arbeiteten mit
       Unterlassungserklärungen, die Aktivst*innen unterschreiben müssen, die
       einmal bei einer Besetzung polizeilich identifiziert wurden. „Bei
       Zuwiderhandlung drohen ihnen drakonische Vertragsstrafen von mehreren
       tausend bis zehntausend Euro“, erklärt sie.
       
       Bislang seien alle Prozesse, mit denen sich Aktivist*innen gegen solche
       Erklärungen wehrten, verloren gegangen. Winkler: „Diese Strategie greift um
       sich: RWE hat es vorgemacht, dann kamen die Kohlekonzerne in der Lausitz
       und im Leipziper Land, jetzt macht es der Fleischkonzern Tönnies nach.“
       
       Celikates warnt ebenfalls vor der Illusion, dass die Adressaten von
       Klimaprotesten nicht alles unternehmen würden, um die Bewegung zu
       kriminalisieren. „Die Konzerne haben enorme Druckmittel und Ressourcen.
       Auch Teile der Politik werden alles versuchen, um deren Interessen zu
       verteidigen.“ So stünden die Besetzer*innen von Ende Gelände ja schon
       als „Linksradikale“ im Verfassungsschutzbericht.
       
       Gut möglich also, dass es der Klimabewegung so ergeht wie früheren
       Bewegungen des zivilen Ungehorsams. Oft war es nämlich so, sagt Celikates:
       „Zu ihrer Zeit wurden sie als Terroristen bezeichnet. Für uns heute sind
       sie Helden.“
       
       5 Jun 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.nzz.ch/schweiz/klimaaktivisten-wegen-protest-bei-der-credit-suisse-verurteilt-ld.1533574
 (DIR) [2] https://www.rnz.de/nachrichten/heidelberg_artikel,-nach-brueckenblockade-freispruch-fuer-heidelberger-klima-rebellen-_arid,513198.html
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Susanne Memarnia
       
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