# taz.de -- Nach Morden von Würzburg: Erklärungswut nach der Tat
       
       > Systematische Analysen von Amoktaten sind rar und geschehen viel zu
       > selten. Sie könnten jedoch auch häusliche Gewalt verhindern helfen.
       
 (IMG) Bild: Blumen am Tatort in Würzburg
       
       Untersuchungen über Amokgeschehen und die Motive der Täter gibt es in
       Deutschland seit 1913. Damals tötet der Hauptlehrer [1][Ernst Wagner]
       zunächst seine Familie mit einem Dolch und danach im Nachbardorf mit
       Schusswaffen 8 Personen, 12 verletzte er schwer. Wagner litt an
       Wahnvorstellungen, ähnlich wie Anders Breivik, der Täter von Oslo und
       Utøya, dessen Bombenanschlag und Schüssen fast 80 Menschen zum Opfer
       fielen. Breivik sah sich als „Vollstrecker einer großen Sache“ und wollte
       „sein Volk“, vermeintlich bedroht vom muslimischen Bevölkerungswachstum,
       „erlösen“.
       
       Ein 24-jähriger Mann in Würzburg [2][tötete am vergangenen Freitag
       Menschen], die ihm nichts getan hatten. Der Hergang der Bluttat macht es
       schwierig, trennscharf zu erkennen, ob es ein Anschlag oder eine Amoktat
       war. Das ist von einiger Wichtigkeit, weil der junge Mann als geduldeter
       Bürgerkriegsflüchtling nicht zur einheimischen Gesellschaft gehörte, dieser
       aber auf fürchterliche Weise die Schuld an seinem Elend aufbürdet. Dass er
       Flüchtling ist, gibt der Tat eine politische Bedeutung.
       
       Welchem Wahn der Täter von Würzburg ausgesetzt war, werden vielleicht die
       psychiatrischen Gutachten zeigen. [3][Ob damit ein islamistischer
       Dschihadwahn einherging, wissen wir noch nicht]. Die Fremdheit des
       Würzburger Täters und seines schrecklichen Verhaltens wird durch die
       mögliche Verbindung zum Dschihad zu einer für uns nicht nachvollziehbaren
       „religiösen“ Gewaltbereitschaft. Die Tat erhält eine besonders befremdende,
       ja – im eigentlichen Sinn abstoßende – Dimension eines Verbrechens.
       
       Systematische Analysen von Amoktaten sind Mangelware. Sie geschehen zu
       selten, beispielsweise gemessen an der Zahl der Tötungsdelikte, die
       Ehemänner oder Ex-Partner an Frauen begehen und die in unserem Land
       durchschnittlich jeden dritten Tag passieren. Bei denen gibt es – im
       Unterschied zu Würzburg und anderen Vorfällen – deutliche Vorgeschichten
       und Warnhinweise.
       
       Amok wird nicht einheitlich definiert, aber ein gemeinsames Merkmal ist,
       dass unbekannte Opfer wahllos ermordet werden. In der Zeit vor den Taten
       werden im Nachhinein unmittelbare „Auslöser“ entdeckt. Meistens sind das
       persönliche Kränkungen oder subjektiv wahrgenommene Bedrohungslagen.
       
       ## Keine Planung der Tat
       
       In Würzburg gab es offenbar keine Planung der Tat. Sie erfolgte in einem
       hochgradig erregten Zustand. Liegen bei Tätern Wahnvorstellungen zugrunde,
       so müssen diese keine Referenz in der Wirklichkeit haben – und können, weil
       sie realitätsfern sind, von außen auch nicht nachvollzogen werden. Häufiges
       aggressives Verhalten wie Angriffe und Drohungen gegen andere Personen
       können ernste erste Signale für Amoktaten sein. Im Würzburger Fall gab es
       solche Hinweise. Sie wurden aber in dem Obdachlosenheim, in dem der Täter
       lebte, nicht ausreichend erkannt.
       
       Hätten Sicherheitskräfte die Tat verhindern können? Etwa 5 Prozent der
       Einsätze von Spezialeinsatzkräften der Polizei erfolgen wegen psychisch
       erkrankter, gewalttätiger oder bedrohlich agierender Personen. Im
       Würzburger Fall hätten Sondereinheiten der Polizei nur dann einschreiten
       können, wenn sie sich zufällig im selben Kaufhaus aufgehalten hätten.
       
       Viele, aber nicht alle Amoktäter sind oder waren psychisch krank. Der Täter
       von Würzburg war in der Zeit vor der Bluttat psychisch auffällig [4][und
       wurde in die Psychiatrie eingewiesen]. Mit Blick auf Selbst- oder
       Fremdgefährdung wurde jedoch die psychische Verfassung des jungen Manns von
       den dortigen Ärzten so beurteilt, dass man ihn nicht gegen seinen Willen im
       Krankenhaus behalten konnte.
       
       Hätte ihn die Polizei nach den aggressiven Vorfällen in den
       Obdachloseneinrichtungen, in denen Streit alltäglich vorkommt, als
       islamistischen „Gefährder“ einschätzen sollen? Auf welcher Grundlage? Auch
       jetzt, nach intensiven Durchsuchungen und Befragungen, gibt es wenig
       handfeste Hinweise, außer seinen „Allahu akbar“-Rufen bei den Angriffen,
       und dem, was er nach seiner Festnahme geäußert haben soll.
       
       Die Tat eines anderen jungen Manns, der damals hundertprozentig zu seiner
       Gesellschaft gehörte, bedeutete für die Geschichtsschreibung des Amoks in
       den USA einen Wendepunkt. Der Amoklauf des [5][Ex-Marine Charles Whitman]
       an der Universität Austin in Texas mit fast 20 Toten und 45 Verwundeten
       geschah 1966 im tiefen Frieden. Die Hochschule ist eine der schönsten
       US-Universitäten, Austin eine friedliche Stadt. In diesen Frieden brach
       eine militärische Handlung gegen Menschen ein, die kein Verschulden trifft,
       die – wie in Würzburg – zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort sind.
       
       Der Ausdruck Amok hat sich inzwischen verselbstständigt und wird bei uns in
       der Berichterstattung auch benutzt, wenn Familienväter die Frau, die
       Kinder, das Au-pair-Mädchen und die Tante, die zufällig zu Besuch ist,
       töten, weil das Geschäft bankrott ist, das Haus und das Auto nicht bezahlt
       werden können.
       
       ## Was zuhause geschieht, ist nicht öffentlich
       
       Aber das ist nicht öffentlich, es findet im Haus statt. „Familientragödie“
       ist dafür ein äußerst irreführender Ausdruck. Der Schock trifft den
       sozialen Nahraum, die nahestehenden Familienangehörigen, die Nachbarschaft
       und manchmal das ganze Dorf oder den Stadtteil.
       
       Taten wie in Würzburg treffen, gleichgültig wie sie definiert werden, die
       Gesellschaft, in der sie geschehen. Sie lösen Unverständnis und einen
       Schockzustand aus. Unsere Ohnmachtsgefühle gegenüber solcher Grausamkeit,
       vor allem die Erklärungswut der Medien und „Experten“, setzen stets eine
       Kette von Ursachenvermutungen und Schuldzuweisungen in Gang.
       
       Würden wir dies bei den oben erwähnten Gewaltvorfällen in der Familie, bei
       der sogenannten häuslichen Gewalt mit ihrer hundertfach höheren Opferzahl
       mit ähnlicher Akribie betreiben, gäbe es vielleicht weniger tödliche
       Eskalationen im trauten Heim.
       
       30 Jun 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Psychotherapeut-ueber-Amoklaeufe/!5166365
 (DIR) [2] /Messerangriff-in-Wuerzburg/!5783162
 (DIR) [3] /Messerangriff-in-Wuerzburg/!5779054
 (DIR) [4] https://www.spiegel.de/panorama/justiz/kriminalbeamte-fordern-mehr-psychiatrische-betreuung-a-17a6e86f-8546-4c83-81db-96a29b8eb712
 (DIR) [5] https://de.wikipedia.org/wiki/Charles_Whitman
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Joachim Kersten
       
       ## TAGS
       
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