# taz.de -- Netflix-Serie „Katla“: Unter dem Ascheregen
       
       > In der Nähe eines isländischen Vulkans geschehen unerklärliche Dinge. Die
       > Netflix-Serie „Katla“ von Baltasar Kormákur ist großes Kino.
       
 (IMG) Bild: Tief unter dem Gletscher regt sich was in der Serie „Katla“
       
       Zum Großteil unter Lockdown-Bedingungen drehte der isländische Regisseur
       und Produzent Baltasar Kormákur letztes Jahr in seinem Filmstudio in der
       Nähe von Reykjavík eine achtteilige Serie für Netflix. [1][„Katla“, benannt
       nach dem gleichnamigen Vulkan], gehört zum Besten, wenn es nicht überhaupt
       das Beste ist (neben dem ganz anders gearteten [2][„Damengambit“]), was
       sich derzeit auf dem Streamingdienst finden lässt. Erleichtert wurden die
       Dreharbeiten sicherlich dadurch, dass viele Szenen im Freien spielen. Auch
       ist der Cast überschaubar.
       
       Es gibt keine Massen- und fast keine Gruppenszenen, denn der Handlungsort,
       das Städtchen Vík in der Nähe des Katla, ist evakuiert worden. Die wenigen
       verbliebenen Menschen leben unter einem permanenten leichten Ascheregen,
       seit ein Jahr zuvor ein Vulkanausbruch begann, der schier nicht enden will.
       Damals verschwand eine junge Frau spurlos, Ása, lange verzweifelt gesucht
       von ihrer Schwester Gríma, die unter dem Verlust schließlich psychisch
       zusammenbrach.
       
       Nach wie vor weigert Gríma sich hartnäckig, die Gegend zu verlassen,
       versieht weiter den Wetter- und den Rettungsdienst und betreibt mit ihrem
       Mann einen Bauernhof. Auch Grímas Vater Thor lebt noch im Ort, allein mit
       vielen Katzen in einer großen Werkstatt. Es ist sein Leben, das als Erstes
       gründlich ins Wanken gerät, als eines Tages eine junge Frau in der Nähe des
       Vulkangletschers gefunden wird. Sie ist nackt, von Kopf bis Fuß mit einer
       Schicht aus Vulkanschlacke bedeckt, spricht Schwedisch und behauptet, im
       örtlichen Hotel zu arbeiten und Thor zu kennen.
       
       Die Hotelbesitzerin erinnert sich, dass wirklich eine Schwedin namens
       Gunhild im Hotel gearbeitet habe – allerdings sei das zwanzig Jahre her.
       Dem Polizisten Gísli gelingt es, jene Gunhild ausfindig zu machen. Sie lebt
       mit ihrem zwanzigjährigen Sohn in Schweden und macht sich sofort nach
       Gíslis Anruf auf den Weg nach Island, wo sie alsbald der Frau
       gegenübersteht, die aussieht wie ihr eigenes, jüngeres Ich …
       
       ## Ein folgenreiches Gedankenexperiment
       
       Das ist nur das erste Kapitel einer Reihe unerklärlicher Erscheinungen.
       Während im Folgenden das plötzliche Wiederauftauchen von Grímas
       totgeglaubter Schwester zwar unfassbar, aber nicht völlig abwegig
       erscheint, lassen sich andere Neuzugänge kaum rational herleiten. Als der
       Wissenschaftler Darri, der am Vulkan forscht, unerwartete Gesellschaft in
       Gestalt eines Kindes bekommt, das seinem verstorbenen Sohn bis aufs Haar
       gleicht, gerät er in Panik und setzt damit ein zerstörerisches Geschehen in
       Gang …
       
       Es macht nichts, dass die Grundidee dieser Serie aus „Solaris“ übernommen
       wurde, Andrei Tarkowskis Film von 1972 nach der Romanvorlage von Stanislaw
       Lem. (Explizite Credits scheint es nicht zu geben, aber dass Kormákur
       selbst diese Inspiration allzu bewusst ist, zeigt sich auch in der
       beiläufig bedeutungsvollen Art, mit der immer wieder Pferde ins Bild
       gebracht werden.)
       
       Kormákur hat ein landschaftliches Setting gefunden, in dem Lems
       folgenreiches Gedankenexperiment ebenso gut funktioniert wie auf einem
       Raumschiff fern der Erde, und seine Charaktere haben andere Geschichten
       miteinander.
       
       Das Spiel der Projektionen, das Menschen sowohl hilft als auch erschwert,
       miteinander und mit sich selbst umzugehen, treibt „Katla“ noch etwas
       weiter. Vor allem haben die aus den Gedanken der anderen generierten neuen
       Menschen auf der Erde weitaus mehr Wirkungsmacht als im Weltall und sind in
       der Lage, in das Leben der „echten“ Menschen einzugreifen – im Guten wie im
       Bösen.
       
       Die durch Projektion entstandenen Personen interagieren auch miteinander,
       das Doppelgängerprinzip wird auf die Spitze getrieben, und die echten
       Menschen werden durch die Konfrontation mit den Vulkangeborenen vor so
       manche ethisch schwierige Entscheidung gestellt.
       
       ## Bilder von hintergründiger Poesie
       
       Einige Handlungselemente bringen ein hohes Schockpotenzial mit, dem
       Kormákur jedoch an keiner Stelle nachgibt. Die Erzählung bleibt allzeit ein
       langer ruhiger Fluss, und die Bilder, die sie mitbringt, sind von
       hintergründiger Poesie.
       
       Es sind leise, aber psychologisch zwingende und schicksalhaft
       unausweichliche Dramen, die sich vor so grandioser wie trostloser
       landschaftlicher Kulisse abspielen. Die Fleischwerdung ihrer Gedanken
       zwingt die Menschen dazu, sich ihren inneren Qualen aktiv zu stellen, und
       so schmerzhaft das auch sein mag, hat es im Endeffekt auch reinigende,
       vielleicht sogar heilende Wirkung.
       
       Die allgegenwärtige „Natur“ ist eine, in der weit und breit nichts wächst,
       in der Kühe nie den Stall verlassen dürfen und das Heu von weither
       transportiert werden muss. Die Farben dieser desolaten (Seelen-)Landschaft
       changieren in allen Schattierungen von Grau bis Anthrazit, richtig hell
       wird es nie, und die Menschlein in ihren gepanzerten Geländefahrzeugen
       wirken ameisenhaft klein in der Weite.
       
       Oft wünscht man sich weit weg vom Sofa in einen Kinosaal, denn die
       überwältigende Ästhetik vieler Bilder kommt auf dem heimischen Fernseher
       kaum zum Tragen – vor allem im „basic“ Netflix-Modus, der mit diffizilen
       Farbabstufungen nicht zurechtkommt und sich dann aufs Verpixeln verlegt.
       
       16 Jul 2021
       
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