# taz.de -- Lehren vor dem EM-Finale: Wie Little England groß wurde
       
       > Dem Finaleinzug der „Three Lions“ ist eine Öffnung des britischen
       > Fußballs vorausgegangen. Internationale Einflüsse helfen dem Team.
       
 (IMG) Bild: Harry Kane, Phil Foden und ihre Schnelligkeit
       
       England steht zum ersten Mal seit 1966 wieder im Finale eines großen
       Turniers. Verdient, auch wenn viele meiner Gesprächspartner dies nicht
       wahrhaben wollen. Und auch [1][nicht wirklich überraschend]. Ich habe ein
       bisschen den Eindruck, dass man die Engländer einfach nicht loben darf. Bei
       den Italienern ist das anders. Auch mir gefallen die Italiener besser.
       Trotzdem frage ich mich: Warum sind die Leute bei einem Lob für die
       Engländer angestochen?
       
       Die einfachste Erklärung: Rivalitäten können noch so alt sein – sie sind
       unsterblich. Vielleicht kommen wir auch nicht damit klar, dass der Fußball
       des Rivalen nicht mehr den von uns fleißig gepflegten Klischees entspricht.
       Dass wir also registrieren müssen: Wir haben gepennt. Nicht nur den eigenen
       Fußball betreffend, sondern auch die Entwicklung im Land des Rivalen. Dass
       uns diese notorisch rückständigen Engländer überholen – geht gar nicht.
       Ganz gleich, wie schlecht unsere aktuelle Mannschaft ist. Nicht die
       Engländer! Das wäre die ultimative Demütigung.
       
       Dass die Engländer ihre Elfmeter nicht mehr versemmeln, ist nicht schön. Es
       ist auch nicht schön, dass sie gegen uns in Wembley nicht mehr verlieren.
       Und dass sie jetzt einige technisch richtig gute Kicker in ihren Reihen
       haben, die dazu auch noch schnell und bissig sind, irritiert uns ebenfalls.
       Dieses Bissige fehlt ja den Draxlers, Brandts, Sanés und Co. So wie den
       deutschen Nachwuchsleistungszentren, in denen die Zöglinge der
       Mittelschicht dominieren, die Biografien eines Marcus Rashford oder Kalvin
       Phillips fehlen. Ein eigenes Thema.
       
       Das Ganze erinnert etwas an Debatten, die ich 1988ff bezüglich der
       Niederländer und der „holländischen Schule“ erlebt habe. Die Niederländer
       hatten technisch bessere Spieler und Rinus Michels als Trainer. Aber die
       Niederländer gewannen keine Titel, hatten die WM-Finals 1974 und 1978
       verloren. 1988 aber wurden sie Europameister – ausgerechnet auf deutschem
       Boden. Im Halbfinale hatte die Elftal die Auswahl des DFB mit 2:1 besiegt.
       Mein Nachbar, ungefähr 30 Jahre älter, hatte hierfür eine einfache
       Erklärung: Die spielten unfair, die hätten ja Schwarze eingesetzt.
       
       ## Englischer Fußball und holländische Schule
       
       Als Jugendtrainer habe ich mich damals etwas an der „holländischen Schule“
       orientiert. Durfte man machen – aber nur so lange man nicht erzählte, dass
       es die „holländische Schule“ war. Und schon gar nicht durfte man sagen:
       „Wir können von den Niederländern lernen!“ Das grenzte an Landesverrat.
       
       Ich bin von 1995 bis 2017 regelmäßig mit Jugendmannschaften auf die
       britische Insel und zu renommierten internationalen Jugendturnieren in
       Nordirland gefahren, wo etwa der Nachwuchs von Manchester United, Chelsea
       und Liverpool auflief. Wir spielten gut mit. Einmal durften wir am Training
       des Gegners teilnehmen. Der Kern des Programms bestand darin, dass sich
       zwei Spieler den Ball zunächst über eine Distanz von zehn Metern zuspielten
       und schließlich über die volle Breite des Platzes. Die Plätze? Schief,
       holprig und tief, was die englischen Spieler zum langen Ball erzog. Solche
       Plätze versprachen vor allem mit physisch starken Spielern Erfolg. Schon
       die Trainer sahen aus, als kämen sie aus dem Rugby.
       
       Zehn Jahre später, 2014, spielten unsere U15 und unsere U17/2 gegen einen
       Verein aus Lewisham, einem Ort vor London. Das Geläuf bestand nun aus
       Kunstrasen, was uns sehr entgegen kam. Was mir gegenüber 1995 auch noch
       auffiel: In den Teams des Gastgebers dominierten Jugendliche aus den
       „ethnischen Minderheiten“. Unsere Jungs errangen klare Siege. Die Gastgeber
       bewunderten unser präzises Kurzpassspiel. Wir sollten ihnen Übungen
       schicken. Außerdem erwogen sie eine Bildungsreise nach Deutschland, um mehr
       über die „deutsche Fußballschule“ zu erfahren.
       
       Ein Jahr zuvor, 2013, waren wir mit unserem Topteam (B1) erneut zum „Super
       Cup Northern Ireland“ gereist. Mit einem guten Abschneiden war nun nichts
       mehr, was auch – aber nicht nur – an unserem Team lag. Wir waren
       beeindruckt von den Fortschritten der nordirischen und englischen Teams.
       Kämpferisch waren sie uns schon immer überlegen gewesen, aber nun waren sie
       auch technisch und taktisch brillant. Bei einem Abendessen kamen wir mit
       den Jugendtrainern von Southampton ins Gespräch. Engländer. Auf meine
       Frage, was sie vom spanischen Trainer-Input im englischen Fußball halten,
       kam die überraschende Antwort: “Das ist super. Das war dringend notwendig.
       Wir lernen!“
       
       2017 spielten wir mit einigen Teams in Manchester gegen den Nachwuchs eines
       besseren Amateurklubs, wie schon 2014 auf einem Kunstrasenfeld, die man nun
       immer häufiger in England sah. Unsere Teams waren durchaus leistungsstark,
       gehörten in ihren Altersklassen zu den besten im Fußballkreis. Aber die
       Engländer schraubten sie auseinander – mit Technik, Tempo und einer
       positiven Aggressivität.
       
       ## Löw, Guardiola und Gareth Southgate
       
       [2][Gareth Southgates „Three Lions“] spielen bei dieser EM nicht die Sterne
       vom Himmel. Ähnlich wie Frankreich 2018 beschränkt sich England auf
       unspektakulären „Turnierfußball“. Southgate zog damit eine Lehre aus der
       Halbfinalniederlage gegen Kroatien bei der WM 2018. Gegen Dänemark kam
       Grealish rein – und musste zur zweiten Halbzeit der Verlängerung wieder
       raus, als der Coach von einem 4-3-3 auf ein 3-4-3 (also das
       „Löw'sche-System“…) umstellte, um den Vorsprung über die Zeit zu bringen.
       Großartige Kicker wie Sancho, Bellingham, Rashford schmorten auf der Bank,
       Pep Guardiolas Lieblingsspieler Foden durfte nur 25 Minuten mitkicken.
       England stellt das jüngste Team bei diesem Turnier. Und damit – anders als
       Deutschland – eines mit Zukunft.
       
       Auch wenn er bislang nur einen Schuss passieren ließ: Der Schwachpunkt des
       Teams ist Keeper Jordan Pickford, der häufig den Ball in die gegnerische
       Hälfte oder ins Seitenaus prügelt und damit einen gediegenen Spielaufbau
       erschwert. Wenn Béla Réthy behauptet, die Innenverteidiger Harry Maguire
       und John Stones würden noch „englischen Fußball“ spielen, da sie sich aufs
       Verteidigen beschränken, aber kaum etwas zum Spielaufbau beitragen, hat das
       viel mit dem Torwart zu tun.
       
       Apropos „englischer Fußball“: Etwa 50 Prozent des Kaders besteht aus
       Spielern, die Vorfahren in ehemaligen britischen Kolonien haben –
       vielleicht mit ein Grund, warum im Stadion das imperialistische „Rule
       Britannia! Britannia rule the waves“ von Neil Diamonds Schnulze „Sweet
       Caroline“ verdrängt wird.
       
       Ganz abgesehen davon, dass diesem Britannia ein Auseinanderbrechen droht.
       Fünf Spieler hätten sich auch für die Republik Irland entscheiden können.
       Declan Rice bestritt sogar zunächst drei A-Länderspiele für die Iren. Jack
       Grealish spielte noch für die irischen Nachwuchsteams, einschließlich der
       U21. Harry Kanes Vater stammt aus Galway, wo zwei seiner Cousinen ein
       erfolgreiches Irish Folk-Duo bilden. Und Harry Maguire hätte sowohl für
       Nordirland wie für die Republik Irland auflaufen können. Hinzu kommen
       Spieler mit Wurzeln in der Karibik: Kalvin Phillips, Marcus Rashford,
       Raheem Sterling, Kyle Walker, Tyrone Mings. Bukayo Sakas Eltern stammen aus
       Nigeria, Reece James und Jude Bellingham haben ebenfalls einen
       afrikanischen Background.
       
       Die englische Nationalmannschaft war die erste in Europa, die Colin
       Kaepernicks Kniefall-Protest gegen den Rassismus kopierte. Das hatte auch
       mit der eigenen Betroffenheit zu tun. Ein Teil der englischen Fans
       quittierte dies anfangs mit Pfiffen.
       
       Sollten die „Three Lions“ das Finale gewinnen, wird ihr keinefalls
       „ur-englischer“ Charakter Boris Johnson nicht daran hindern, den ersten
       Titel seit 1966 als Beleg dafür zu feiern, dass der „Brexit“ funktioniert.
       EUROPAmeister ohne die EU! Das ist für solche Leute politisch noch schöner
       als der WM-Titel. „Little England“-Nationalisten, die im Übrigen zuerst bei
       Länderspielen sichtbar wurden, werden noch einen Schritt weitergehen und
       behaupten, es ginge auch ohne Schotten, Waliser und Nordiren.
       
       Der Autor ist Fußballhistoriker (u.a. „Trainer! Die wichtigsten Männer im
       Fußball“, 2021, und „Ausgespielt? Die Krise des deutschen Fußballs“, 2019,
       beide im Werkstatt-Verlag). Beim TuS Altenberge ist er in der Jugendarbeit
       aktiv.
       
       9 Jul 2021
       
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