# taz.de -- LGBTQ-Kampagne in Russland: Peinlicher Kotau
       
       > In Russland hat sich ein Supermarkt offensiv für die Vielfalt von
       > Familien eingesetzt – und so Liberale wie Konservative gegen sich
       > aufgebracht.
       
 (IMG) Bild: WkusWill-Laden in Russland
       
       MOSKAU taz | Russlands Einzelhandelskette WkusWill gibt sich stets offen.
       Offen für regionale Produkte, offen für kleine naturnahe
       Hersteller*innen, offen auch für ausgefallene Lebensmittel. In den Läden
       finden sich – in grüner Schrift ausgezeichnet– frische Waren von heimischen
       Bauern, hier gibt es getrocknete Bananen als Snacks und auch mal Tee als
       Paste auf einem Holzlöffel.
       
       Nun wollte sich WkusWill auch offen für unterschiedliche Lebensformen
       zeigen – kein einfaches Unterfangen in einem Land, in dem ein gesetzliches
       „Verbot der Homosexuellenpropaganda“ angeblich Jugendliche schützt und in
       dem die Verfassung die Ehe als „Bund zwischen Mann und Frau“ festlegt.
       
       Dass die Lage in Russland kompliziert ist, war auch den
       Marketingexpert*innen von WkusWill bewusst. Sie sicherten sich ab:
       „Seien Sie vorsichtig“, schrieben sie über ihre Werbekampagne zum
       sogenannten Pride Month, wie er auch im Westen zur Unterstützung von LGBTQ+
       gepflegt wird.
       
       Gemäß russischen Gesetzesanforderungen setzten sie auf ihrer Webseite und
       in sozialen Netzwerken über ihre „Familienrezepte des Glücks“, mit denen
       sie sich für die Vielfalt von Familien einsetzen wollten, den Zusatz „18+“.
       Sie empfahlen, „die Vor- und Nachteile vor dem Lesen des Textes abzuwägen“.
       
       Es folgte die Vorstellung verschiedener Familien: „Aljona und ihr Hund
       Caesar“ samt einer Mango als Lieblingsprodukt, Mutter Kira mit ihren
       Kindern Anja und Wera und ihrem ersten WkusWill-Produkt Milch, die
       Großfamilie von Oxana und Alexei auf einem beigen Sofa – soweit war dies
       offenbar alles akzeptabel in den Augen der russischen Mehrheit.
       
       Unter der Überschrift „Volles Matriarchat“ [1][stellten allerdings die vier
       Frauen Juma, Mila, Alina und Ksjuscha den WkusWill-Mut auf den Kopf]. Juma
       ist eine russische LGBTQ+-Aktivistin. Alina und Ksjuscha wollen heiraten.
       Die Veganerinnen berichteten über ihr Leben als Mülltrennerinnen, erzählten
       über Tierschutz und Kochen mit Freunden in der Küche. Lächelnd
       präsentierten sie Hummus als ihr Lieblingsprodukt und stiegen aus dem Text
       aus mit dem Spruch: „Familie ist, wenn sich alle umarmen.“
       
       ## Unternehmen sprach von einem „Fehler“
       
       Zum ersten Mal setzte sich eine große russische Marke damit so offen für
       LGBTQ+ ein. Die Ladenkette wurde zum Helden progressiver
       Großstädter*innen – und zur Zielscheibe konservativer Aktivist*innen.
       Sie griffen WkusWill-Mitarbeiter*innen an; einer veröffentlichte sogar die
       Adresse der vier porträtierten Frauen, es folgten Morddrohungen.
       
       Dann folgte die Ernüchterung in Form eines peinlichen Kotaus der
       Unternehmungsführung: Die „Familienrezepte“ nahm WkusWill von der Seite.
       Stattdessen findet sich dort nun ein Brief des Gründers der Kette. Andrei
       Kriwenko spricht von einem „Fehler“, der „Ausdruck der Unprofessionalität
       einzelner Mitarbeiter“ sei.
       
       „Wir wollen unsere Kunden jeden Tag mit frischen und leckeren Produkten
       versorgen und nicht Artikel veröffentlichen, die politische und soziale
       Ansichten widerspiegeln“, heißt es darin. Elf Top-Manager*innen haben den
       Brief mit unterzeichnet.
       
       Die Reaktion war ein feiges Einknicken vor wild gewordenen chauvinistischen
       Traditionalist*innen im Land und die Abwälzung von Verantwortung auf
       Untergebene. Insgesamt war die Aktion eine Imagekatastrophe für WkusWill,
       das dieses Jahr einen Börsengang in den USA geplant hatte.
       
       Menschen bringen nun WkusWill-Produkte zurück in den Laden, filmen sich
       dabei und laden die Aufnahmen in den sozialen Netzwerken hoch. Sie kleben
       Plakate an die Ladentüren: „Wir sind kein Fehler“, steht darauf.
       Konservative wie Liberale rufen nun zum Boykott auf.
       
       Die Grenzen der Toleranz sind schmal in einem Land, in dem alles „nicht
       Traditionelle“ zum politischen Ausschluss führt. „Traditionelle russische
       geistig-moralische Werte“ hat Russlands Präsident Wladimir Putin jüngst
       auch in die nationale Sicherheitsstrategie festschreiben lassen.
       
       Es ist die Angst vor den „Sünden“ aus dem bewunderten wie verschmähten
       Westen und auch eine Angst vor den eigenen Bürger*innen, die das Leben
       leben, wie sie es für richtig halten. Mit Gewalt halten sich manche an den
       Traditionen fest, Gewalt, die sie für legitim halten, weil sie „Werte“
       vertreten, die oft nur hohle Phrasen sind.
       
       10 Jul 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://twitter.com/AliceBota/status/1411720294952312836?s=20
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Inna Hartwich
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Russland
 (DIR) Kolumne Stadtgespräch
 (DIR) Schwerpunkt LGBTQIA-Community
 (DIR) Russland
 (DIR) Schwerpunkt LGBTQIA-Community
 (DIR) Queer
 (DIR) Kolumne Frau ohne Menstruationshintergrund
 (DIR) Wahlen
 (DIR) Viktor Orbán
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) LGBT in Russland: Gefängnis für die Liebe
       
       Ein russischer Journalist im Exil hat geheiratet und sich geoutet. Er setzt
       damit ein Zeichen gegen Putins Anti-LGBT-Kampagne.
       
 (DIR) LGBT*-Rechte in Israel: Wie bunt ist die Wüste?
       
       In einer Kleinstadt in der Negev-Wüste hetzt der Bürgermeister gegen
       Schwule und Lesben. Die versuchen, den Konflikt nicht eskalieren zu lassen.
       
 (DIR) Marzahn Pride am 17. Juli: „Das bunte Miteinander“
       
       Der Marzahn Pride zieht zum zweiten Mal durch den Stadtbezirk, in dem der
       größte Teil der russischsprachigen Bevölkerung Berlins lebt.
       
 (DIR) Regenbogen versus Reichkriegsflagge: Farben bekennen
       
       Die Zustimmung für die queere Community wächst, und gleichzeitig sinkt die
       Hemmschwelle zur Hetze. Der Regenbogen darf nicht überschattet werden.
       
 (DIR) Parlamentswahl in Ex-Sowjetrepublik: Der Missionar von Moldova
       
       Moldovas Sozialisten-Chef Igor Dodon gratuliert Ungarns Premier Orbán zum
       Anti-LGBTQ-Gesetz. Damit macht er vor den Wahlen erneut klar, was er
       vorhat.
       
 (DIR) Anti-LGBTQ-Gesetz in Ungarn: Orbáns riskantes Pokern
       
       Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán zieht sein antiqueeres Gesetz trotz
       Protest der EU durch. Er braucht es, um die Opposition im Land zu spalten.