# taz.de -- Streit um UN-Hilfsgüter für Syrien: Russland will Idlib dichtmachen
       
       > Moskau droht, den letzten für UN-Hilfe offenen Grenzübergang ins syrische
       > Rebellengebiet zu schließen. Hilfsorganisationen warnen.
       
 (IMG) Bild: Im Fokus der Weltöffentlichkeit: der Grenzübergang Bab al-Hawa
       
       BERLIN taz | Mehrere hundert, teils über tausend Lastwagen passieren die
       türkisch-syrische Grenze bei Bab al-Hawa monatlich. Darauf geladen:
       Nahrungsmittel, Medikamente oder auch Desinfektionsmittel für Bedürftige in
       Syrien. Doch bald schon könnte Bab al-Hawa für einen Großteil dieser Hilfe
       dicht sein. „Leben hängen davon ab, Millionen von Leben“, warnt Sherine
       Ibrahim, die von der Türkei aus die Arbeit der Organisation Care
       koordiniert.
       
       Seit Wochen mobilisiert Care mit anderen Hilfsorganisationen, damit Bab
       al-Hawa offen bleibt. Denn damit auch die Vereinten Nationen bei der
       grenzüberschreitenden Hilfe aktiv werden dürfen, brauchen sie ein Mandat
       des Sicherheitsrats, das seit 2014 besteht und bis spätestens Samstag in
       New York verlängert werden muss. Doch Russland droht, sich quer zu stellen
       und es ersatzlos auslaufen zu lassen.
       
       Obwohl die Kampfhandlungen in Syrien weithin beendet sind, entziehen sich
       Idlib und Teile der angrenzenden Provinzen weiter der Kontrolle durch
       Syriens Regierung. In den Nicht-Regime-Gebieten im Nordwesten leben nach
       [1][UN-Angaben] rund 4 Millionen Menschen, davon 2,7 Millionen
       Binnenvertriebene und davon wiederum 1,7 Millionen in Flüchtlingslagern.
       „80 Prozent davon sind Frauen und Kinder“, sagt Ibrahim; der Bedarf in den
       Lagern sei besonders hoch.
       
       Alle Bedürftigen mit dem Nötigsten zu versorgen, ist ein logistisches
       Megaunterfangen. In Fachkreisen ist von einer
       [2][„Multimillionen-Dollar-Grenzarchitektur“] die Rede. Sollte diese
       wegbrechen, wären „mehr als eine Million Menschen von der Versorgung mit
       Nahrungsmitteln, Covid-19-Impfungen, medizinischen Gütern und weiterer
       humanitärer Hilfe abgeschnitten“, schreiben mehrere Hilfsorganisationen in
       einer gemeinsamen Warnung. Sie fordern, dass auch weitere Grenzübergange
       wieder für UN-Hilfe geöffnet werden.
       
       ## Lokale NGOs ausgetrocknet
       
       Die Hilfsarchitektur für Idlib muss man sich als mehrere übereinander
       geschichtete Lagen vorstellen: Ganz unten, in syrischen Dörfern und
       Städten, bieten lokale Organisationen beispielsweise medizinische
       Dienstleistungen an. Sie bekommen Geld oder Güter von einer international
       tätigen Hilfsorganisation oder direkt von UN-Organisationen, die die nötige
       Infrastruktur haben für Besorgung und Transport von Hilfsgütern, aber nicht
       den Zugang und die nötige Akzeptanz vor Ort.
       
       Sollte das UN-System nicht mehr funktionieren, würden kleine Organisationen
       gewissermaßen ausgetrocknet. Drei andere Grenzübergänge nach Syrien, über
       die die Regierung in Damaskus ebenfalls keine Kontrolle hatte, sind auf
       russisches Betreiben hin bereits geschlossen worden. Bab al-Hawa ist der
       letzte Übergang, über den die UN noch operieren können.
       
       Die russische Regierung argumentiert, die Situation in Syrien habe sich
       verändert, seit der UN-Sicherheitsrat 2014 beschloss, damals vier
       Grenzübergänge in syrische Rebellen-Gebiete zu öffnen, um die Menschen dort
       versorgen zu können. „Die syrische Regierung hat ihre Kontrolle über den
       größten Teil des Landes wiederhergestellt“, [3][heißt es] in einer
       Erklärung der russischen Vertretung bei den UN.
       
       Die grenzüberschreitende Hilfe verletze daher die Souveränität Syriens;
       alle nötigen Lieferungen müssten wieder über die Regierung in der
       Hauptstadt Damaskus abgewickelt werden. „USA beharren auf Verletzung der
       syrischen Souveränität“, [4][titelte] Russia Today kürzlich im Zusammenhang
       mit Bab al-Hawa.
       
       ## Vorwurf der Terrorhilfe
       
       Der Sender macht ein weiteres Argument stark, dessen sich auch die syrische
       und russische Regierung bedienen: So ließ Russia Today ausführlich Syriens
       Außenminister Faisal Mekdad zu Wort kommen. Der [5][argumentierte], die
       UN-Hilfe über Bab al-Hawa sei „ein weiterer Versuch, terroristischen
       Gruppen zu helfen und sie mit allen notwendigen Ressourcen zu versorgen, um
       den Terrorkrieg gegen Syrien zu verlängern.“
       
       Hintergrund ist, dass in Idlib eine undurchsichtige Lokalregierung
       herrscht. Sie ist der politische Arm der Islamistenmiliz Hai'at Tahrir
       al-Sham (HTS), die unter anderem von den USA als Terrororganisation
       gelistet wird. Auch die Türkei betrachtet HTS als solche, unterhält
       gleichzeitig aber gute Verbindungen zu der Miliz. HTS gibt sich
       mittlerweile gemäßigt, Teile der Gruppe sind aber aus dem syrischen Ableger
       von Al-Kaida hervorgegangen. HTS kontrolliert auf syrischer Seite den
       Grenzübergang Bab al-Hawa.
       
       In Idlib tätige Hilfsorganisationen sehen den russischen Vorschlag, die
       Hilfe komplett über Damaskus laufen zu lassen, jedoch nicht als gangbare
       Alternative. „Bis heute hat es keine erfolgreiche humanitäre Lieferung über
       die Trennungslinie nach Nordwestsyrien gegeben“, teilte das International
       Rescue Committee der taz mit. „Trotz Verhandlungen auf höchster Ebene wurde
       eine Lieferung nach Idlib, die von den UN im März 2020 vorgeschlagen wurde,
       noch nicht genehmigt.“
       
       8 Jul 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/nw_syria_and_rataa_situation_report_20210618_0.pdf
 (DIR) [2] https://www.atlanticcouncil.org/wp-content/uploads/2021/06/Syrian-Lives-in-Peril-The-Fight-to-Preserve-Syrias-Last-Humanitarian-Border-Crossing.pdf
 (DIR) [3] https://russiaun.ru/en/news/eov_110720
 (DIR) [4] https://de.rt.com/der-nahe-osten/119763-korridor-bab-al-hawa-usa/
 (DIR) [5] https://www.rt.com/news/527671-syrian-idlib-humanitarian-aid/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jannis Hagmann
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Syrien
 (DIR) Schwerpunkt Syrienkrieg
 (DIR) Idlib
 (DIR) Russland
 (DIR) Türkei
 (DIR) Schwerpunkt Syrienkrieg
 (DIR) Wladimir Putin
 (DIR) Syrien
 (DIR) Schwerpunkt Syrienkrieg
 (DIR) Schwerpunkt Syrienkrieg
 (DIR) Türkei Syrien
 (DIR) Syrien
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
 (DIR) Schwerpunkt Syrienkrieg
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Hilfslieferungen nach Syrien: Fatale Abhängigkeit
       
       Um dringende Hilfsmittel nach Syrien liefern zu können, braucht es die
       einstimmige Zustimmung des UN-Sicherheitsrats. Das hat unsägliche
       Konsequenzen.
       
 (DIR) Auf Youtube gesperrtes RT Deutschland: Reichlich Tinnef
       
       Nachdem Youtube die Kanäle von RT Deutschland gelöscht hat, reagiert
       Russland mit Drohungen. Doch Präsident Putin braucht den Westen.
       
 (DIR) Psychische Kriegsfolgen in Syrien: Die Wunden sind noch frisch
       
       In den meisten Teilen Syriens wird nicht mehr gekämpft. Doch viele Menschen
       leiden unter den psychischen Folgen von Gewalt und Vertreibung.
       
 (DIR) UN-Hilfen für Idlib: Hunger und Macht
       
       Die UNO und Russland haben sich geeinigt: Sechs Monate noch können
       Hilfsgüter nach Syrien gebracht werden – über einen einzigen Grenzübergang.
       Das ist kein Erfolg.
       
 (DIR) UN-Hilfe für Syrien: Ein Kompromiss für Idlib
       
       Der UN-Sicherheitsrat hat eine Lösung gefunden. Der letzte für UN-Hilfe
       offene Grenzübergang bleibt offen. Doch das Thema bleibt ein Politikum.
       
 (DIR) UN-Hilfskoordinator über Idlib-Einsatz: „Wir hätten gern mehr Zugänge“
       
       Die UN würden mit Syriens Machthaber Assad kooperieren, um Hilfe nach Idlib
       zu bringen. Doch die Konfliktparteien müssten mitmachen, sagt
       UN-Koordinator Mark Cutts.
       
 (DIR) Präsidentschaftswahl in Syrien: Schöne Fassade
       
       Baschar al-Assad lässt sich in einer Scheinprozedur wiederwählen.
       Syrer*innen im Ausland und der Westen spotten darüber.
       
 (DIR) Vertrieben in Syrien: Der Himmel über Idlib
       
       Ali Abdallah ist halbseitig gelähmt, doch aufgeben will er nicht. Er
       züchtet Tauben. In den Lagern spendet die Aufzucht der Tiere den Menschen
       Trost.
       
 (DIR) 10 Jahre Bürgerkrieg in Syrien: Schaut auf Nordsyrien!
       
       Mit dem Arabischen Frühling kam in Syrien der blutige Krieg des Regimes
       gegen das Volk. EU und USA sollten die neuen Entwicklungen nicht
       ignorieren.