# taz.de -- Globale Allianzen der neuen Rechten: Predigt von ganz rechts
       
       > Evangelikale und Rechtsradikale vernetzen sich, von Brasilien bis nach
       > Niedersachsen. Im Zentrum der Allianz steht auch ein AfD-Politiker.
       
       Wie eine Festung ragt der Salomon-Tempel zwischen den Hochhäusern der
       brasilianischen Metropole São Paulo empor. Es scheint, als wolle er sich
       einen Wettstreit mit den angrenzenden Wolkenkratzern liefern. Alt gegen
       Neu. Tradition gegen Moderne. Die Megakirche wurde 2014 als
       originalgetreuer Nachbau des Jerusalemer Tempels von König Salomo feierlich
       eingeweiht. Der gigantische weiße Klotz ist größer als die Kathedrale von
       São Paulo: 55 Meter hoch, Platz für 10.000 Gläubige, eigener
       Hubschrauberlandeplatz. Der Tempel ist allerdings mehr als ein Gotteshaus.
       Er ist der in Beton gegossene Machtanspruch der brasilianischen
       Evangelikalen.
       
       Am 28. März 2021 läuft ein rundlicher Mann über den von Palmen und goldenen
       Säulen gesäumten Vorplatz des Salomon-Tempels. Begleitet wird er von sechs
       Personen in schicker Kleidung. Ein Video zeigt, wie der Mann durch einen
       Nachbau des Offenbarungszeltes spaziert. Wie er religiöse Artefakte
       bestaunt. Wie er vor einem siebenarmigen Leuchter in ein Mikrofon spricht.
       An diesem Ort sehe er, dass das Wort Gottes lebendig sei. Er spricht von
       einer „Kälte des Evangeliums“ in Deutschland. Und davon, dass Brasilien ein
       Vorbild sei, um den Glauben in Europa wiederzubeleben.
       
       Der Mann in dem Video ist Waldemar Herdt, 58, Bundestagsabgeordneter der
       AfD. Ende März reiste er nach Brasilien, traf sich mit
       Politiker*innen und Pastor*innen, besuchte Firmen und Kirchen. Was
       macht ein deutscher Abgeordneter mitten in der Coronapandemie in
       Brasilien? Die Antwort auf diese Frage führt zu einem Mann, der ein
       Netzwerker der christlichen Rechten ist. Zu bibeltreuen Gruppen, die
       weltweit Bündnisse schmieden und versuchen, Menschenrechte umzudefinieren.
       Und zu einer deutschen Partei, die verstärkt den Austausch mit
       rechtsradikalen Kräften in Brasilien sucht.
       
       ## In Niedersachsen laufen die Fäden zusammen
       
       Neuenkirchen-Vörden, 30 Kilometer nördlich von Osnabrück. Eine Landstraße
       schlängelt sich durch den verschlafenen Ort. Die Rasenflächen vor den
       Häusern sind ordentlich gemäht, Deutschlandfahnen wehen im Wind, auf einer
       Weide stehen ein paar Kühe. Etwas außerhalb des Ortes liegt ein riesiges
       Grundstück, das mit einer Mauer und Bäumen abgeschirmt ist. Ein Schotterweg
       führt zu dem Haus, in dem Waldemar Herdt mit seiner Familie lebt. Es ist
       Ende Juli. Nachdem zuvor zwei Interviews in Berlin spontan abgesagt wurden,
       hat der AfD-Politiker sich zu einem Treffen bei ihm zu Hause bereit
       erklärt.
       
       Im Eingangsbereich des großen Hauses begrüßt ein Schild die Besucher*innen:
       „Gott segne dieses Haus / und alle, die da gehen ein und aus.“ Sonst wirkt
       das Haus eher modern. Ob der Reporter zu Mittag essen will? Seine Frau habe
       etwas vorbereitet. Nein, wirklich nicht? Dann führt Herdt in einen
       geräumigen Raum mit gekacheltem Boden. Hinter fünf Bildschirmen ist der
       erwachsene Sohn des Politikers beschäftigt, er nimmt Anrufe für das
       familieneigene Speditionsunternehmen entgegen. Eine breite Fensterfront
       gibt Ausblick auf den riesigen Garten. Trampolin, Schaukel,
       Veranstaltungszelt. Ein Husky tollt an einer Leine.
       
       Vor dem Interview muss Herdt noch schnell einige Nachrichten und Anrufe
       beantworten. Es geht um Armenien, Griechenland, Usbekistan. Man soll
       merken: Bei Waldemar Herdt laufen viele Fäden zusammen. Brasilien sei
       besonders gewesen, schwärmt Herdt, der aus Kasachstan stammt, mit
       russischem Akzent. Er trägt ein Poloshirt mit dem Aufdruck „Herdt
       Baukonzept“, die Lesebrille klemmt auf dem Kopf.
       
       Der Plan, nach Brasilien zu reisen, sei 2019 auf dem Prayer Breakfast im
       Weißen Haus in Washington entstanden. Einmal im Jahr kommen in der
       US-amerikanischen Hauptstadt auf Initiative einer konservativen
       christlichen Organisation Politiker und religiöse Gruppen aus der ganzen
       Welt zusammen. Das Treffen gilt als wichtige Lobbyveranstaltung
       christlicher Interessengruppen in den USA. Einige katholisch, viele
       evangelikal, nicht wenige fundamentalistisch. Auch der ehemalige
       US-Präsident Donald Trump sprach dort. „Es war keine Rede eines
       Präsidenten“, sagt Herdt begeistert, „es war eine Predigt.“
       
       4.500 Menschen nahmen im Jahr 2019 an der Veranstaltung teil, vor allem
       Politiker*innen, aber auch Pastor*innen und Unternehmer*innen. Zehn
       Abgeordnete reisten aus Deutschland an. Herdt kam dort auch mit
       brasilianischen Abgeordneten ins Gespräch. Mit wem genau, will er nicht
       verraten. Was er aber sagen will: „Beim Prayer Breakfast musste ich
       feststellen, dass nicht nur ich persönlich, sondern die ganze AfD keine
       Beziehung zu Lateinamerika hat.“ Das sollte sich bald ändern. Im Juli
       dieses Jahres reiste auch AfD-Politikerin Beatrix von Storch nach
       Brasilien. Doch der wichtigste Politiker dieser neuen AfD-Allianz heißt
       Waldemar Herdt.
       
       ## Herdt und die russischen Staatsmedien
       
       In Deutschland steht Herdt nur selten im Fokus. Dabei ist er ein viel
       beschäftigter Mann. Er ist Mitglied des Auswärtigen Ausschusses und des
       Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe, gehört mehreren
       internationalen Gremien des Bundestages an. Er sitzt im Gemeinderat von
       Neuenkirchen-Vörden.
       
       Googelt man seinen Namen in kyrillischen Buchstaben, erhält man tausende
       Treffer: Waldemar Herdt äußert sich in russischen Staatsmedien. Zum
       Klimawandel, zur Flutkatastrophe, zur Ukraine, zum Impfen, zur Migration,
       zu Nord-Stream 2, zur EU. Fast wöchentlich kommt er zu Wort. Gelegentlich
       wird er live in die Hauptnachrichtensendung zugeschaltet. Ein Ende 2020
       erschienener Nato-Bericht zu russischen Einflussoperationen in Deutschland,
       der der taz und dem ARD-Politikmagazin „Kontraste“ vorliegt, die für diese
       Recherche kooperiert haben, benennt ihn als einen der wichtigsten
       Schlüsselakteure für die Verbreitung von kremltreuen Narrativen über
       Deutschland.
       
       Herdt ist 1993 nach Deutschland zugewandert. Er ist als Russlanddeutscher
       in Kasachstan aufgewachsen, wurde zum Agraringenieur ausgebildet, war
       Leiter einer LPG. In Niedersachsen ist er seit 2004 als Bauunternehmer
       tätig. Bevor er zur AfD fand, engagierte er sich in der Partei Bibeltreuer
       Christen. Bis Anfang des Jahres war er Sprecher des Regionalverbands Nord
       der „Christen in der AfD“. „Es sind die Werte der Bibel, die mir meinen Weg
       weisen“, schreibt er auf seiner Homepage.
       
       Im Gespräch gibt sich Herdt als perfekter Christ und liebevoller Opa, der
       in der niedersächsischen Provinz sein persönliches Paradies erschaffen hat.
       Das Anwesen gehörte einst dem Unternehmer Anton Pohlmann, den man
       „Hühnerkönig“ nannte, weil er mit Geflügel Millionen machte. Am Rande das
       Grundstücks gackern noch ein paar Hühner. Eigentlich wollte Herdt hier ein
       Mehrgenerationenhaus errichten. Doch der Gemeinderat stellte sich quer,
       lehnte das Projekt ab.
       
       Herdt ist ein Mann, der viel von „Menschlichkeit“ redet. Der immer wieder
       betont, die Familie sei das Wichtigste. Der sich als Kriegsgegner
       inszeniert. Herdt ist nicht der klassische AfD-Hetzer. Und dennoch: Er
       spricht von „Klimahysterie“ und sagt, dass das „kollektive Schuldgefühl“
       den Deutschen die Würde nehme. Immer wieder warnt er vor einem „neuen
       Modell für die Gesellschaft“. Er redet von „Genderismus“, „normalen
       Familien“ und davon, dass wir bald in „Sodom und Gomorrha“ landen könnten.
       Damit ist er ganz auf Linie mit der evangelikalen Szene.
       
       Herdts religiöse Heimat ist ein zweistöckiger Bau mit blaugetönten
       Scheiben, an einer stark befahrenden Straße gelegen, unweit des Osnabrücker
       Hauptbahnhofs. „Evangelische Freikirche Lebensquelle“ steht am Eingang,
       darüber ein Kreuz. Sonst wirkt das Gebäude unauffällig, wenig sakral. Herdt
       engagiert sich aktiv im Gemeindeleben der evangelikalen Kirche. Die
       „Lebensquelle“ gehört zu den russlanddeutschen Pfingstgemeinden. Diese
       betreiben in der Regel keine kritische Bibelexegese. Das heißt: Was in der
       Bibel steht, gilt als gottgegeben und wird nicht hinterfragt. Besonders in
       Westdeutschland wurden die evangelikalen Gemeinden verschiedener
       Ausrichtungen stark vom Zuzug der Aussiedler seit den 1980er Jahren
       geprägt.
       
       ## Die gefährlichen Prediger der Pfingstbewegung
       
       Der Religionswissenschaftler Martin Radermacher von der Universität Bochum
       ist Experte für Evangelikalismus. Er hat Varianten dieser Glaubensrichtung
       erforscht. „Die Pfingstbewegung geht davon aus, dass das biblische
       Pfingsterlebnis die Menschen auch heute treffen kann: Der Heilige Geist
       fährt dann in einen Menschen, manchmal kommt es dann zu Phänomenen wie
       ‚Zungenreden‘ – die Gläubigen reden dabei in anderen Sprachen oder
       Sprachen, die es zwar nicht gibt, die aber als göttliche Eingebung
       aufgefasst werden“, erklärt Radermacher. Auch Wunderheilungen und
       Dämonenaustreibungen gehörten dazu. Schätzungen gehen davon aus, dass diese
       besondere konfessionelle Ausrichtung in Deutschland etwa 60.000 Mitglieder
       hat.
       
       Die „Lebensquelle“ hat einen eigenen Youtube-Kanal, die Videos sind
       professionell produziert. In den Gottesdiensten spielen Bands christliche
       Popmusik. Die Musiker sehen aus wie durchschnittliche junge Erwachsene.
       Dreitagebart, Ohrringe, H&M-Hemden. Ihre Auftritte sind emotional, beinahe
       rührselig: „Du hast für mich den Tod besiegt. Danke, Jesus.“ Vor der Bühne
       wird getanzt, geklatscht, Hände werden in die Luft gereckt. „Danke, Jesus.
       Danke, Jesus“.
       
       Viele Gemeinden orientierten sich heute an US-amerikanischen
       Ausdrucksformen, sagt Radermacher. „Sie entwickelten attraktive
       Gottesdienste mit moderner Musik, die auch neue Mitglieder anzogen. Dabei
       geht es viel um Gemeinschaftserlebnisse und Emotionen.“ Viele Gemeinden
       verzeichnen einen wachsenden Mitgliederzulauf. Die „Lebensquelle“ ist
       allerdings nicht unumstritten. Ihr wurde vorgeworfen, sogenannte
       Konversionstherapien zur „Heilung von Homosexualität“ und fragwürdige
       Suchttherapien durchzuführen.
       
       Manchmal kommen Gastprediger nach Osnabrück. Auch ihre Auftritte sind auf
       Youtube dokumentiert. Einer von ihnen ist Alexey Ledyaev aus Lettland. Auch
       seine Auftritte sind hochemotional. Er flüstert, raunt, schreit, kann die
       Gläubigen in tranceähnliche Zustände predigen. In Riga führt er die „New
       Generation Church“, er ist bekannt für aggressiv homophobe Auftritte.
       Waldemar Herdt bezeichnet ihn als „Freund“. Ledyaev war 2017 einer der
       ersten Gäste des damals frisch gewählten AfD-Bundestagsabgeordneten. Bei
       der Wahl zum Europäischen Parlament im Jahr 2019 unterstützte der lettische
       Prediger offensiv die Kandidaten der rechts-konservativen,
       russlandfreundlichen Centra Partija (Zentrumspartei). Der deutsche
       Abgeordnete Waldemar Herdt kandidierte damals auf Platz zwei der lettischen
       Partei für das Parlament in Brüssel.
       
       In diesem Rahmen trat er auch bei einer Wahlkampfveranstaltung auf, die der
       Prediger im Namen der Organisation „Watchmen on the Wall“ veranstaltete.
       Die Watchmen sind ein gemeinsames Projekt von Ledyaev und dem
       rechtsradikalen, fundamentalistischen US-amerikanischen Prediger Scott
       Lively. In einer Predigt Ledyaevs zur Gründung der Watchmen heißt es, LGBT
       versuchten eine „Diktatur der Homosexualität“ zu errichten, die Watchmen
       sollten die Gesellschaft vor der „Kultur des Todes“ verteidigen und
       Politiker unterstützen, die ihre Werte teilen.
       
       Lively ist Koautor des Buches „Pink Swastika“, das Homosexuelle für den
       Holocaust verantwortlich macht. Anfang August rief er seine
       Anhänger*innen in einer Videobotschaft auf, in den Untergrund zu gehen.
       Obwohl er bei einer Veranstaltung der Watchmen in Riga im November 2018
       zusammen mit Lively als umjubelter Stargast auftrat, gibt Waldemar Herdt
       auf Nachfrage von taz und „Kontraste“ an, ihn zwar irgendwie zu kennen,
       sich aber nur vage erinnern zu können. Besser erinnern kann sich Herdt an
       seine Gesprächspartner in Brasilien. Das größte Land Lateinamerikas spielt
       für die christliche Rechte eine immer wichtigere Rolle.
       
       ## Die Brasilien-Allianz
       
       Im größten katholischen Land der Welt haben evangelikale Kirchen seit
       Jahren regen Zulauf und stellen bereits 31 Prozent der Bevölkerung. Laut
       Berechnungen werden die Evangelikalen hier im Jahr 2032 die Mehrheit
       stellen. Ähnlich wie in den USA gibt es riesige, hochmoderne
       Prestigebauten, so wie den Salomon-Tempel in São Paulo. An fast jeder
       Straßenecke finden sich aber auch kleine Kirchen. Oft reichen ein paar
       Plastikstühle und ein Mikrofon mit Boxen für die lautstarken Predigten. Mit
       ihren Heilsversprechen, charismatischen Pastor*innen und spektakulären
       Gottesdiensten haben die Kirchen gerade in den vom Staat vernachlässigten
       armen Randgebieten großen Zulauf.
       
       Früher stand für die Kirchen die Vorbereitung auf die Wiederkehr des
       Messias im Fokus. Politik wurde als „zu weltlich“ betrachtet. Heute nehmen
       sie direkten Einfluss auf Politiker*innen und treten als
       „Weltveränderer“ auf. Im Parlament in Brasília gibt es einen
       Zusammenschluss strenggläubiger Abgeordneter, viele Abgeordnete sind
       Pastor*innen: sonntags predigen, montags abstimmen. Das hat auch den
       AfD-Mann Waldemar Herdt beeindruckt. „In Brasilien kann man den Glauben
       ausleben, ohne gesellschaftlichen Gegendruck zu fühlen“, sagt Herdt.
       
       Im Vorfeld des Wahlkampfs im Jahr 2018 suchte die evangelikale Elite die
       Nähe zur neuen Rechten, vor allem zu einem Mann: Jair Messias Bolsonaro.
       Der heutige Präsident ist eigentlich katholisch, ließ sich aber
       medienwirksam im Jordan taufen, war umjubelter Stargast bei evangelikalen
       Veranstaltungen und wurde von Promi-Pastor Silas Malafaia mit seiner
       dritten Ehefrau vermählt.
       
       Es ist eine mächtige Allianz mit immer mehr Einfluss. Ministerin für
       Frauen, Familie und Menschenrechte ist Damares Alves, eine Pastorin und
       bekannte Anti-Abtreibungs-Aktivistin. Im August 2020 sorgte sie für
       Aufsehen, weil ihr Ministerium religiöse Fundamentalist*innen dabei
       unterstützt hatte, eine 10-Jährige an einer Abtreibung zu hindern, nachdem
       sie durch Vergewaltigung schwanger geworden war.
       
       Neben der Ablehnung von Schwangerschaftsabbrüchen verbindet Evangelikale
       und die neue Rechte auch der Kampf gegen LGBT. Dafür suchen sie auch
       verstärkt den Kontakt ins Ausland. „Sie wollen aus ihrer Agenda ein
       globales Thema machen“, sagt die Anthropologie-Professorin Christina Vital,
       die seit vielen Jahren über Evangelikale forscht. „Dafür verbinden sie sich
       mit zahlreichen Kräften in der ganzen Welt und agieren in internationalen
       Netzwerken.“ Brasilianische Evangelikale haben laut Vital direkte
       Verbindungen in das Weiße Haus. Kontakte nach Europa gebe es bisher aber
       wenige, schon gar nicht nach Deutschland. Will Waldemar Herdt das ändern?
       
       Herdt traf zahlreiche Pastor*innen und evangelikale Politiker*innen
       in Brasilien. Ein Treffen mit Präsidentensohn Eduardo Bolsonaro, ebenfalls
       evangelikal, war geplant, konnte aber wegen einer Urlaubsreise nicht
       stattfinden. Dafür fand ein Treffen mit dem Gospelsänger und ehemaligen
       Bürgermeister Rio de Janeiros Marcelo Crivella statt, der bis Februar wegen
       Korruptionsvorwürfen unter Hausarrest stand. Doch besonders ein
       Gesprächspartner hatte es in sich: Marco Feliciano. Abgeordneter,
       hochrangiges Regierungsmitglied und Pastor. Er ist das wahrscheinlich
       wichtigste Bindeglied zwischen den Freikirchen und der Politik. Und er ist
       hochumstritten. Mehrfach äußerte er sich rassistisch und homofeindlich.
       Herdt sagt dazu nur: „Man kann jeden mit Dreck beschmieren.“ Außerdem habe
       er vorher keine genaue Recherche über seinen Gesprächspartner gemacht.
       
       Waldemar Herdt ist nicht der einzige AfD-Politiker, der Verbindungen nach
       Brasilien sucht. Am 28. Oktober 2018, Wahltag in Brasilien, ziehen im
       ganzen Land Menschen durch die Straßen. Jubel, Feuerwerk, Partystimmung.
       Der rechtsradikale Jair Messias Bolsonaro war wenige Stunden zuvor zum
       Präsidenten gewählt worden. Der Obmann der AfD im Auswärtigen Ausschuss,
       Petr Bystron, bezeichnete Bolsonaro noch am gleichen Tag als „aufrechten
       Konservativen“ und erklärte: „Die konservative Revolution hat damit auch
       Südamerika erreicht.“
       
       Auch andere Politiker*innen bejubelten den Wahlsieg des Mannes, der im
       Wahlkampf damit drohte, politische Gegner zu erschießen, und Fotos von
       Folterknechten in seinem Büro hängen hat. Zum Beispiel Christian Blex. Der
       AfD-Abgeordnete des nordrhein-westfälischen Landtags, der dem mittlerweile
       aufgelösten „Flügel“ zugerechnet wird, hat familiäre Beziehungen nach
       Brasilien, ist oft im Land. „Rein persönlich“, wie er gegenüber der taz
       betont. Als Innenpolitiker wolle er sich nicht in ausländische Politik
       einmischen. Über Bolsonaros Wahl habe er sich dennoch gefreut. Der sei ihm
       sympathisch, weil er den „Klimaunsinn“ ablehne und die „Coronapanik“
       nicht mitmache. Und die Kritik an Bolsonaro? Es sei klar, dass seine
       Positionen dem „linken Mainstream“ nicht gefallen. Blex habe angeregt, eine
       Parlamentariergruppe Brasilien im Landtag zu gründen, dies sei aber
       gescheitert. „Vielleicht dann in der nächsten Legislaturperiode“, sagt er.
       
       Ein weiterer AfD-Politiker mit Verbindungen nach Brasilien ist der
       Thüringer Landtagsabgeordnete Torben Braga. Der 30-Jährige war
       Pressereferent der deutsch-national völkischen „Deutschen Burschenschaft“.
       Er gilt als politischer Ziehsohn von Björn Höcke. Braga ist in Brasilien
       geboren und aufgewachsen, ging in Rio de Janeiro zur Schule. Er hat gute
       Chancen, im September über die thüringische Landesliste in den nächsten
       Bundestag einzuziehen. Auch Braga jubelte in den sozialen Medien über den
       Wahlsieg Bolsonaros, gibt sich im Interview aber zurückhaltender. Als
       „national und konservativ denkender Mensch“ seien Hoffnungen mit Bolsonaro
       verknüpft, der Ton des ehemaligen Fallschirmjägers sei aber nicht seiner.
       Und die Hetze gegen Minderheiten? Bolsonaro erklärte schließlich, lieber
       einen toten als einen schwulen Sohn zu haben, er beschimpfte Schwarze
       rassistisch, sagte zu einer Abgeordneten, dass sie nicht einmal verdiene,
       vergewaltigt zu werden. Braga sagt, er kenne die Zitate nicht und könne
       sich deshalb nicht dazu äußern.
       
       ## Kampf gegen Abtreibungen und LGBT-Rechte
       
       Ende Juli dieses Jahres tauchte schließlich ein Foto in den sozialen Medien
       auf, das eine braungebrannte, fröhlich lächelnde Frau im Arm von Präsident
       Bolsonaro zeigt. [1][Es ist Beatrix von Storch]. Von Storch traf in
       Brasilien noch weitere einflussreiche Politiker*innen, darunter den Sohn
       des Präsidenten, den Abgeordneten Eduardo Bolsonaro. Er nimmt eine wichtige
       Rolle in der Regierung ein, pflegt viele Kontakte zu rechten
       Politiker*innen im Ausland und gilt als inoffizieller Außenminister.
       Von Steve Bannon, dem ehemaligen Chefstrategen Donalds Trumps, wurde
       Eduardo Bolsonaro zum Lateinamerika-Chef von „The Movement“, einem
       geplanten internationalen rechten Netzwerk, berufen. Im Vergleich zum
       Besuch von Waldemar Herdt löste der Besuch von Beatrix von Storch, der
       Enkelin von Hitlers Finanzminister, eine riesige Empörung in Brasilien aus.
       Vor allem jüdische Gruppen und Menschenrechtsorganisationen kritisierten
       das Treffen scharf. Das Holocaust-Museum in der südbrasilianischen Stadt
       Curitiba sprach von einer Belastung „für den Aufbau einer kollektiven
       Erinnerung an den Holocaust in Brasilien und für unsere eigene Demokratie“.
       
       Wie Herdt war auch von Storch Vertreterin der christlich-konservativen
       Strömung der AfD. Dort sammelten sich Vertreter*innen verschiedener
       christlicher Konfessionen: Freikirchen, Anglikaner, Gegner*innen des
       amtierenden Papstes und vorkonziliare Katholiken. Ihre Haltung steht oft in
       scharfer Abgrenzung zu den offiziellen Positionen der katholischen und
       evangelischen Kirche. Das Leitmotiv dieser religiösen Rechten ist die
       Verteidigung dessen, was sie sich unter einem „christlichen Abendland“
       vorstellen: der Kampf gegen Abtreibungen und LGBT-Rechte, der Einsatz für
       traditionelle Familienbilder als allgemeingültige Norm und die Abwehr einer
       vermeintlichen „Islamisierung“.
       
       Die AfD stellte zudem mehrere Kleine Anfragen über die
       Entwicklungszusammenarbeit mit Brasilien. „Das ist ein Deckmäntelchen, um
       der Bolsonaro-Regierung einen demokratischen Anstrich zu verpassen“, meint
       die SPD-Politikerin Yasmin Fahimi, Vorsitzende der Deutsch-Brasilianischen
       Parlamentariergruppe im Bundestag. „Viele problematische Themen werden
       nicht angesprochen.“
       
       Warum gerade Brasilien? Viele Themen verbinden die Rechtsaußenpartei mit
       der Bolsonaro-Regierung. Klima- und Coronapolitik, Antikommunismus,
       Ablehnung des UN-Migrationspaktes. Aber vor allem geschlechter- und
       familienpolitische Fragen sind für beide Seiten extrem wichtig.
       Analyst*innen aus Brasilien vermuten, dass Brasilien nach der Abwahl von
       Donald Trump eine neue führende Rolle für die christliche Rechte zukommen
       könnte. Einiges spricht dafür, dass der AfD-Politiker Waldemar Herdt ein
       zentraler Netzwerker dieser internationalen konservativ-christlichen
       Allianz ist. Denn Herdt gründete 2019 eine Organisation, bei der offenbar
       vieles zusammenlaufen soll.
       
       ## Menschenrechtsgremien als Einfallstor
       
       Moskau im Sommer 2019: Die Staatsduma der Russischen Föderation hat
       eingeladen, zum zweiten Mal findet das „Internationale Forum zur
       Entwicklung des Parlamentarismus“ statt. Die angereisten Gäste treffen sich
       in der Kongresshalle des Welthandelszentrums. Der Parlamentspräsident,
       Außenminister Lawrow und sogar Präsident Putin persönlich halten Reden. Der
       Kreml versucht mit dieser Veranstaltung russlandfreundliche
       Parlamentarier*innen zu vernetzen und Multiplikator*innen für
       die Ziele russischer Außenpolitik zu gewinnen. „Parlamentarische
       Demokratie“ nennt man solche Inszenierungen in Moskau. Auch Waldemar Herdt
       ist nach Moskau gereist. Auf eigene Initiative, ohne Auftrag des
       Bundestages. Herdt hat eine Idee, die er dort im Fernsehkanal der Duma
       präsentieren darf: die Gründung einer „alternativen
       Menschenrechtskommission“. Gegenüber der taz erklärt er das so: „Ich habe
       festgestellt, dass alle Menschenrechtsorganisationen einen
       links-genderistischen Touch haben. Komplett. Die konservative Seite ist
       überhaupt nicht vertreten. Wir brauchen eine interparlamentarische
       Kommission auf der Basis christlich-konservativ-patriotischer Werte.“
       
       Und tatsächlich beschließt die AfD-Bundestagsfraktion wenige Monate später,
       im Dezember 2019, die Gründung der „Interparlamentarischen
       Menschenrechtskommission“ (IPMK) – unter Vorsitz von Waldemar Herdt. Sie
       solle sich, so schreibt die AfD in einer Pressemitteilung, um „die von der
       links-grünen Ideologie verdeckten klassischen Menschenrechte“ kümmern.
       Inzwischen seien Parlamentarier*innen und Expert*innen aus 30
       Ländern Mitglied geworden, so Herdt. Die USA, Portugal, Serbien, Russland,
       Weißrussland, Kasachstan, die Mongolei und eben neuerdings Brasilien seien
       vertreten. Man erarbeite Resolutionen, die dann in Gesetzesinitiativen
       eingehen würden. Die IPMK hat trotz Corona bereits verschiedene
       Veranstaltungen durchgeführt. Unter anderem eine Onlinekonferenz zum Thema
       Extremismus, wo russische Duma-Abgeordnete und Aktivist*innen,
       US-amerikanische Prediger und der unter Trump amtierende Sonderbotschafter
       für Religionsfreiheit Sam Brownback zusammentrafen.
       
       Das Thema Menschenrechte und die Besetzung von Positionen in
       menschenrechtsrelevanten Gremien ist weltweit zu einer Art Einfallstor für
       die christliche Rechte geworden. So auch in Brasilien. Dort wurde 2013
       Marco Feliciano, Herdts Gesprächspartner, zum Vorsitzenden der
       Menschenrechtskommission im Abgeordnetenhaus gewählt. „Er kam nicht zu
       diesem Posten, weil er zuvor in dem Bereich gearbeitet hatte, sondern weil
       er LGBT-Themen stoppen wollte“, sagt die Anthropologin Christina Vital. Der
       Fuchs habe damals den Hühnerstall übernommen. Auch die evangelikale
       Ministerin Damares Alves versucht, eine neue Definition von Menschenrechten
       zu etablieren. Und AfD-Mann Herdt? Für ihn bedeuten Menschenrechte vor
       allem drei Dinge: „Recht auf Leben, Recht auf Arbeit, Recht auf Glauben“,
       sagt er im Interview.
       
       Das ist allerdings nur ein Bruchteil dessen, was das Grundgesetz und die
       Allgemeine Erklärung der Menschenrechte beinhalten. Das Deutsche Institut
       für Menschenrechte, die unabhängige nationale Menschenrechtsinstitution
       Deutschlands, schlug bereits im Juni in einer ausführlichen Studie zur AfD
       Alarm. Sie kam zu dem Ergebnis, dass die AfD aus
       menschenrechtstheoretischer Sicht Positionen vertrete, die [2][„nicht auf
       dem Boden des Grundgesetzes“] stehen.
       
       Der umtriebige Waldemar Herdt tritt dieses Jahr nicht erneut zur Wahl für
       den Bundestag an. Er hatte bei der ersten Aufstellungsversammlung zwar
       kandidiert, wurde allerdings nicht gewählt. Dass mit seinem Abgang auch die
       von ihm angestoßenen Projekte einschlafen, ist jedoch fraglich. Klar ist:
       Auf die Kontakte, die er geknüpft hat, werden auch die nachfolgenden
       Mitglieder der neuen AfD-Fraktion zurückgreifen können. Das IPMK-Gremium
       solle fortgeführt werden, betont er im Interview.
       
       Herdt selbst will zumindest in nächster Zeit weiterhin als Sprecher der
       IPMK auftreten. Im kommenden Januar sei zudem eine Konferenz im Deutschen
       Bundestag geplant. Dazu sind auch Gesprächspartner*innen aus Brasilien
       geladen. Und Waldemar Herdt hat bereits ein neues Projekt: eine europäische
       Stiftung, die „European Christian Coalition“. Eine Homepage gibt es schon.
       
       20 Aug 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Antifa-Berlin-Brasil/!5792271
 (DIR) [2] https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/publikationen/detail/nicht-auf-dem-boden-des-grundgesetzes
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andrea Becker
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