# taz.de -- Wiederentdeckung einer Fotografin: Fester Blick, ohne Retusche
       
       > 2015 tauchte der Nachlass der einst erfolgreichen Fotografin Gerty Simon
       > auf. Nun sind ihre Werke in der Berliner Liebermann-Villa zu sehen.
       
 (IMG) Bild: Renée Sintenis, fotografiert von Gerty Simon um 1929 (Ausschnitt)
       
       Manchmal lässt sich die Bekanntheit einer Person an banalen Dingen ablesen,
       dem Wikipedia-Eintrag zum Beispiel. Gerty Simon verfügt nämlich nicht mal
       über einen deutschsprachigen Eintrag, nur in der englischsprachigen
       Wikipedia wird die gebürtige Deutsche aufgeführt. Doch das kann sich ja
       noch ändern, immerhin ist in der Berliner Liebermann-Villa am Wannsee
       momentan die erste Ausstellung Simons in Deutschland seit ihrer Flucht vor
       den Nazis nach Großbritannien zu sehen.
       
       Simon, geboren 1887 in Bremen, durchlief für eine jüdische Frau im
       Zwischenkriegsdeutschland eine außergewöhnliche Karriere. Auf
       Porträtfotografie spezialisiert, hatte Simon die Großen der Weimarer
       Republik vor der Kamera; darunter Albert Einstein, Max Liebermann und
       [1][Käthe Kollwitz]. Ihre Bilder wirken trotz oft förmlicher Posen privat:
       Man meint, das Vertrauen, das die Fotografierten in Simon hegten, auf ihren
       Gesichtern gespiegelt zu sehen.
       
       So etwa bei [2][dem französischen Bildhauer Charles Despiau:] Dieser blickt
       in die Kamera weniger posierend als zuhörend, als sei sein Gesichtsausdruck
       mitten im Gespräch eingefangen. Großartig auch Lady Clark, Ehefrau des
       britischen Kunstkritikers Kenneth Clark, die auf ihrer Fotografie stark und
       feminin zugleich wirkt, mit einem nur locker um die Schultern geschwungenen
       Schal träumerisch zur Seite schaut, als gelten die gesellschaftlichen
       Konventionen der 1930er Jahre für alle anderen, nur nicht für sie.
       
       Platz hätte es gegeben für mehr Fotos in der Ausstellung, doch man hat in
       der Liebermann-Villa unter Direktorin Lucy Wasensteiner mehr Wert auf die
       Bildkompositionen gelegt. So hängen gleich eingangs geisterhaft weiße Hände
       eingerahmt, vermutlich die des Pianisten Georg Grünberg, neben dem
       konzentriert lesenden Mathematiker Richard von Mises und einer Nahaufnahme
       von [3][Lotte Lenya], die ihren herausfordernden Blick direkt auf die
       Kamera richtet.
       
       ## Markante Nase im Profil
       
       Simon lässt ihren Modellen viel Raum, sie selbst zu sein, das Bild selbst
       zu bestimmen. Die [4][Bildhauerin Renée Sintenis] verwandelt sich auf ihrem
       Foto dadurch beinahe zu einer Skulptur, so betont scharf wirkt die markante
       Nase im Profil, so alabasterfarben ihre glatte Haut. Simon – und das
       unterscheidet sie etwa von [5][Lotte Jacobi, die, ebenfalls eine
       erfolgreiche jüdische Fotografin der 20er Jahre,] in vierter Generation
       einer Fotografenfamilie entstammte – hat keine fotografische Ausbildung
       absolviert.
       
       Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb war sie karrierebewusst, eröffnete
       ein eigenes Fotostudio und baute schnell ein Netzwerk zu Politikern,
       Wissenschaftlern und Künstler:innen auf. Ihre erste Einzelausstellung
       gab sie im Jahr 1928 bei sich zu Hause und konzipierte ein Jahr später die
       Schau „Geistiges Berlin, geistiges Paris“, wo sie ihre Porträts aus
       Frankreich und Deutschland gegenüberstellte.
       
       Simon erntete viel Lob in der Presse, und selbst der Vorwurf, sie weigere
       sich, jegliche Form von Retuschen vorzunehmen, klingt doch eher nach einer
       Anerkennung ihrer Fotokünste. Für die Überlieferung dieser Kritiken hat
       Simon selbst gesorgt. Vor ihrer Emigration nach London sammelte die
       Berlinerin alle Presseerwähnungen, übersetzte einige sogar ins Englische
       und sortierte sie mit Sorgfalt.
       
       ## „Feindliche Ausländer“
       
       So gelangten die fast hundert Jahre alten Artikel 2015 zusammen mit ihren
       Fotografien an die Wiener Holocaust Library, der ihr gerade verstorbener
       Sohn, Bernd Simon, seinen Nachlass vermachte. Dort wunderte man sich nicht
       wenig, dass sich zwischen den Dokumenten des erfolgreichen Geschäftsmannes
       der komplette fotografische Nachlass seiner heute in Vergessenheit
       geratenen Mutter befand.
       
       2019 veranstaltete daher die Wiener Library die erste Ausstellung Simons,
       die 1970 in Großbritannien gestorben ist, nach über neunzig Jahren. Als
       Fotografin war Simon in ihrer neuen Heimat nur kurz aktiv. Ihre Spuren
       verlaufen sich nach 1936, wahrscheinlich zog sie sich wegen des
       aufziehenden Krieges aus der Öffentlichkeit zurück.
       
       Ihr Mann und ihr Sohn wurden 1940 als „feindliche Ausländer“ inhaftiert,
       wie es damals vielen deutschen Exilanten widerfuhr. Doch die Familie bekam
       schließlich die britische Staatsbürgerschaft, und so lebte Gerty Simon wohl
       eher zurückgezogen in einem Londoner Vorort. Das ist schade: Simon, die auf
       einem Foto so hintergründig lächelt, die Haare lose zusammengebunden, eine
       Zigarette zwischen den Lippen, hätte vielleicht gerade in ungezwungeren
       Zeiten Impulse zur Portätfotografie beizutragen gehabt.
       
       16 Aug 2021
       
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