# taz.de -- Neues Album von Geoff Muldaur: Dem Erbe verpflichtet
       
       > „His Last Letter“ von US-Künstler Geoff Muldaur führt tief hinein in die
       > Geschichte von Jazz, Blues und Folk. Zudem bringt es Vergessenes ans
       > Licht.
       
 (IMG) Bild: Geoff Muldaur studiert die Partitur einer Komposition für „His Last Letter“
       
       Die Urszene dieser Musik findet in New Orleans statt, dem Geburtsort des
       Jazz. Seine Hebammen sind Rhythmen, die Sklaven aus Afrika einst mit in die
       Neue Welt gebracht haben, wohin sie brutal verschleppt worden waren und wo
       erst die subversive Kommunikation mit Musik ihr Leben erträglicher
       gestaltete.
       
       Als Nabelschnur dient der Mississippi, mythenumrankter Fluss, der die
       afroamerikanische Musik auf dem Hauptstrom zunächst ins ganze Land und
       schließlich hinaus in die Welt spült. Längst ist Jazz, genau wie Blues und
       Folk, von seinen Wurzeln abgenabelt und in den USA als national heritage
       klassifiziert. In diesem Prozess sind seine schwierigen, von Rassismus
       begleiteten Geburtsumstände verloren gegangen.
       
       Deren Nachwehen, die moralische Panik, die Jazz bei den Konservativen
       auslöst, ist 1962 noch zu spüren. Es ist eine Begebenheit aus jenem Jahr,
       mit der der US-Singersongwriter Geoff Muldaur auch „His Last Letter“
       beginnen lässt, sein neues Album, für das er 17 Blues-, Jazz- und
       Folkstandards in delikaten Fassungen und eine Eigenkomposition aufbietet.
       
       ## Per Anhalter zum Friedhof
       
       Nach durchzechter Nacht in den Jazzclubs von New Orleans beschließt
       Muldaur, 19-jährig, an einem Morgen im Februar 1962 von New Orleans per
       Anhalter nach Texas zu reisen, um das Grab des Bluessängers Blind Lemon
       Jefferson zu pflegen. Eine Schnapsidee? Um diesen Gefallen bittet Jefferson
       seine HörerInnen ausdrücklich in dem Song [1][„Black Horse Blues“] aus den
       späten 1920ern Jahren: „There’s one kind of favor I ask of you/ Please see
       that my grave is kept clean.“
       
       Dass ein Weißer aus dem Norden mehr als 40 Jahre später den Text wörtlich
       nimmt und im segregierten Süden das Grab eines Schwarzen pflegen will,
       mutet 1962 ungewöhnlich an. Obwohl die Bürgerrechtsbewegung zu jener Zeit
       bereits viele Demarkationslinien der white supremacy überschritten hatte,
       war diese Art von Solidaritätsbekundung zu jener Zeit nicht ungefährlich.
       
       Was Geoff Muldaur heute retrospektiv mit seiner Version von „Black Horse
       Blues“ anstellt, ist mehr als nur Grabpflege, er ruft damit nicht nur die
       wirkmächtige Musik von einst und ihren Schöpfer in Erinnerung, sondern auch
       eine Geschichte, die inzwischen in Vergessenheit geraten ist: Wie weiße
       US-AmerikanerInnen in den 1960er Jahren Blues-Pioniere in den Südstaaten
       wieder ausfindig gemacht und, so sie noch am Leben waren, zum Performen
       ihrer Songs reaktiviert hatten.
       
       ## Gegenwartsversessen, geschichtsvergessen
       
       Typisch für die USA, die sich wenig um ihre jüngere Vergangenheit scheren,
       in dem – so wie Geoff Muldaur es macht – das Engagement Einzelner oft
       lebenswichtig für das Wohl der ganzen Gemeinschaft ist. Das
       gegenwartsversessene Land hat eine gewalttätige Geschichte um [2][die
       Diskriminierung der Schwarzen], bis heute schwingen diese Kapitel von
       Unrecht und Ausgrenzung im Alltag mit.
       
       Zu was dieses Erbe verpflichtet, darüber tobt ein erbitterter Streit. In
       Muldaurs Musikauswahl verschwimmt die Colorline, gibt es weder
       Ghettobildung noch Zuschreibungen sonstiger Art. Alle KomponistInnen stehen
       auf gleicher Ebene. Es zählt die Schönheit ihrer Songs und die Fähigkeit,
       mit ihnen Zeiten und Grenzen zu überwinden.
       
       Dass sich so jemand wie Geoff Muldaur fremd fühlt im Klima der
       gesellschaftlichen Polarisierung, wie es in den USA auch nach Trump anhält,
       nimmt nicht Wunder. In Holland hat er eine „Ersatzfamilie“ gefunden, wie er
       schreibt. Die Musik für das gesamte Album hat Muldaur 2020 in Holland mit
       OrchestermusikerInnen und der in England lebenden (und geadelten)
       afroamerikanischen Opernsängerin Lady Claron McFadden eingespielt.
       
       ## Der Klang eines Fagotts
       
       Eigens dafür hat er neue Arrangements komponiert, ihre Partituren sieht man
       auf Fotos im Booklet. Den Wunsch hegte er seit seiner Kindheit, als er zum
       ersten Mal ein Fagott im Konzertsaal gehört hat. Zu jedem Lied hat Muldaur
       umfangreiche „Track Notes“ verfasst, steuert Fakten und Anekdoten zur
       Genese der Songs bei, wie und wann er selbst bei seinen Trips durch die USA
       der 1960er und 1970er Jahre auf die Musik und ihre Komponisten gestoßen
       ist. So wird „His Last Letter“ zu einer Art klingendem Reisetagebuch zu den
       historischen Stomping Grounds der vielfältigen US-Musikkultur, ihrer Songs,
       zu den Menschen, die sie ersonnen haben.
       
       „Manche unterrichteten als LehrerInnen, andere leisteten
       Gewerkschaftsarbeit, wieder andere waren Anstifter oder einfach musikalisch
       talentierte Energiebündel“, steht im Buch „Baby, Let me Follow you Down“,
       das die Folkszene an der US-Ostküste der frühen 1960er dokumentiert. Zu ihr
       zählen spätere Stars wie Joan Baez und Bob Dylan und eben Geoff Muldaur,
       auf den wahrscheinlich alle im Zitat genannten Attribute zutreffen.
       
       Anders als [3][Baez und Dylan] ist Muldaur hierzulande nie über den Status
       eines Geheimtipps hinausgekommen, obwohl er viele tolle Folkalben
       eingespielt hat, zuerst als Mitglied der Jim Kweskin Jug Band, dann als
       Solist, auch an der Seite seiner Exfrau Maria Muldaur und mit vielen
       anderen KollegInnen. Wer sein Werk noch nicht kennt, jetzt wäre ein Anlass,
       es zu entdecken.
       
       ## Pioniere des Jazz
       
       Sich in einer mit Unterbrechungen nun schon 60 Jahre währenden Karriere im
       harten US-Musikbiz mit den Songs zu beschäftigen, die ihn inspiriert haben,
       gehört für einen Freigeist selbstverständlich mit dazu. 2003 nahm sich
       Muldaur in dem Album „Private Astronomy“ bereits des Werkes von Jazzpionier
       Bix Beiderbecke an.
       
       Auch auf „His Last Letter“ ist mit „Betcha I Getcha“ eine scheppernde
       Beiderbecke-Nummer enthalten, die swingt, genau wie Bigband-Songs von Fats
       Waller und Duke Ellington, Countryblues von Dock Boggs und Jimmie Rodgers,
       dem „Singin’ Brakeman“ genannten Eisenbahner, dessen [4][„Blue
       Yodel“]-Songs in den USA in den 1920ern auf Schellacks im Laden verkauft
       wurden, zusammen mit einem Pfund Butter und zwölf Eiern. Muldaur hat
       Rodgers „Prairie Lullaby“ im Gepäck, das er einst seiner Tochter zum
       Einschlafen vorsang.
       
       Er selbst ist aufgewachsen im biederen New Jersey der späten 1940er und
       1950er, wo die Schellacks seines älteren Bruders Charlie das Fenster zu
       einer anderen Welt waren. Als Jugendlicher ist er selbst in die Clubs von
       Manhattan ausgebüchst, um den Sound aus der Nähe zu erleben. Der Jazz der
       1950er hat ihn geprägt. „Sein Geist ist erfüllt von Bebop“, wie es in
       „Baby, Let me Follow you Down“ heißt und diesen rastlosen, immens kreativen
       Charakter beschreibt.
       
       ## Literarisches Milieu
       
       Muldaur studiert nicht nur die Songs, er liest viel, ist in den 1960ern in
       einem Milieu unterwegs, in dem auch Richard Fariña und Thomas Pynchon
       verkehren. Bei seinen Aufenthalten in New Orleans entdeckt er die Werke von
       Tennessee Williams, von dem er in „His Last Letter“ drei Gedichte vertont,
       im federnden Walzer-Sound der Blaskapellen: „Der Second Line Beat von New
       Orleans ist in diese Texte miteingeschrieben.“
       
       Geoff Muldaur wird immer Freak bleiben, ein klassischer Hippie war er nie,
       dafür ist er zu wenig gefühlig. Das macht „His Last Letter“ besonders, denn
       die Orchesterfassungen der Songs katapultieren sich durch ihre süffigen
       Arrangements und die Raffinesse der beteiligten MusikerInnen aus jeglicher
       Sentimentalität.
       
       12 Sep 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.youtube.com/watch?v=3IUflb6qCXQ
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       ## AUTOREN
       
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