# taz.de -- Türkische Lederbranche: Schutzlos schuften für Schuhe
       
       > Die Jobs in der türkischen Lederindustrie sind schlecht bezahlt und
       > desolat. Das zeigt eine Studie der Nichtregierungsorganisation Südwind.
       
 (IMG) Bild: Viele syrische Flüchtlinge, wie der Anwalt M. Tebani, finden Arbeit in der türkischen Lederbranche
       
       ISTANBUL taz | Echtes Leder ist weltweit ein Luxusgut. Teure Taschen und
       Jacken oder schicke Lederschuhe haben in Zeiten von Plastik und Kunstleder
       ihren Preis. In krassem Kontrast dazu stehen die Arbeitsbedingungen der
       Menschen, die diese Luxusgüter herstellen. Neben Italien, wo sich die
       Herstellung hochpreisiger Lederschuhe in Europa noch halten konnte, hat
       sich die Produktion längst in Länder wie Bangladesch, [1][Indien], Mexiko
       oder die Türkei verlagert. Kaum jemand kontrolliert, unter welchen
       Bedingungen die Menschen dort die Luxusgüter für die Reichen der Welt
       herstellen.
       
       Die deutsche Nichtregierungsorganisation (NGO) „Südwind“ hat jetzt in
       Zusammenarbeit mit türkischen Partnern [2][eine Studie über die Bedingungen
       der „LederarbeiterInnen“] in dem Land vorgelegt. Die Türkei hat
       traditionell einen starken Textilsektor, von dem der Lederbereich ein
       Spezialsegment ist. Angefangen von der Herstellung des Rohleders über die
       Verarbeitung zu Jacken und Handtaschen bis hin zu Schuhen sind in der
       Türkei alle Bereiche der Lederverarbeitung vertreten. Die ökonomische
       Bedeutung der Lederbearbeitung in der Türkei nimmt zu. Mittlerweile ist das
       Land der fünftgrößte Produzent von Lederschuhen weltweit.
       
       Die Arbeit in der Lederindustrie wird von der ILO, der internationalen
       Arbeitsorganisation, als 3- D-Arbeit definiert. Was sich so modern anhört,
       bedeutet nach englischem Akronym „Danger, Dirty and Difficult“, also
       gefährlich, schmutzig und schwierig. Die NGO Südwind hat, verteilt über das
       ganze Land, 35 ArbeiterInnen ausführlich befragen lassen. Darunter waren
       Frauen und Männer, obgleich die Lederindustrie von Männern dominiert ist,
       sowie Türken und Migranten und Eltern, deren Kinder in der Lederindustrie
       arbeiten müssen.
       
       Insgesamt sind die Jobs miserabel bezahlt, kaum jemand bekommt mehr als den
       Mindestlohn von 2.300 Lira, das sind knapp 230 Euro. Nur einer der
       Befragten hatte einen regulären Vertrag, alle anderen arbeiteten ohne
       formelle Vereinbarung und damit ohne jede Absicherung. Nach Informationen
       der Lederarbeitergewerkschaft Deriteks können sich die Bezieher des
       Mindestlohns aber noch glücklich schätzen. Der größte Teil bekommt weniger,
       denn dieser Teil der Menschen, die in den zumeist kleinen Klitschen, in
       denen oft maximal zehn Leute arbeiten, sind Migranten, die zum Überleben
       jeden Job annehmen müssen.
       
       ## Kaum Arbeitsschutz
       
       Doch nicht nur der Lohn ist schlecht. Auch die Arbeitsbedingungen sind
       miserabel. In der Lederbearbeitung wird gesundheitsgefährdende Chemie
       verwendet, doch Arbeitsschutz ist weitgehend unbekannt. Für uns, sagte eine
       der befragten Frauen, ist es völlig normal, dass es am Arbeitsplatz stinkt,
       laut ist und die Arbeit an den Maschinen auch gefährlich sein kann.
       Schutzmaßnahmen gibt es aber in der Regel nicht.
       
       Wer sich fragt, wo die mittlerweile [3][knapp vier Millionen syrischer
       Flüchtlinge in der Türkei] eigentlich ihren Lebensunterhalt verdienen,
       bekommt durch die Studie eine Antwort. Im traditionellen
       Lederbearbeitungsbezirk Geditepe in Istanbul sind nach Angaben des
       Gewerkschaftssprechers mittlerweile 80 Prozent der Beschäftigten
       Flüchtlinge, meistens aus Syrien, aber auch aus Afghanistan oder dem Irak.
       Alle diese Leute arbeiten informell, für einen Hungerlohn von oft nicht
       einmal 100 Euro im Monat. Der Lohn wird wöchentlich bar bezahlt, manchmal
       gibt es aber auch gar nichts.
       
       Mit den Syrern, die seit 2015 als Kriegsflüchtlinge ins Land strömen, hat
       sich die Lederproduktion nach Gewerkschaftsangaben um 50 Prozent erhöht.
       Die meisten Arbeitsplätze für die Flüchtlinge finden sich in den
       Kleinmanufakturen, die als Subunternehmer für größere Firmen arbeiten.
       Türkische ArbeiterInnen wurden aus dem Geschäft verdrängt, weil sie
       wenigstens den Mindestlohn fordern würden, die Migranten machen es aus der
       Not auch weit billiger, klagt die Gewerkschaft.
       
       Dies ist ein Grund, warum sich in der Türkei das Klima gegenüber den
       Flüchtlingen drastisch zum Schlechteren verändert hat. Die Wirtschaftskrise
       und zusätzlich die Pandemie haben zu einer hohen Arbeitslosigkeit gerade
       unter den unqualifiziert Beschäftigten geführt. Da sind die Flüchtlinge
       eine echte Konkurrenz. Daran ändert auch die Unterstützung, die die EU der
       Türkei für die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Flüchtlinge zahlt,
       wenig. Es ist bestenfalls ein Tropfen auf den heißen Stein.
       
       15 Oct 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Indische-Lederindustrie/!5744142
 (DIR) [2] https://www.suedwind-institut.de/files/Suedwind/Publikationen/2021/2021-21%20Factsheet%20Leder%20T%C3%BCrkei_fin.pdf
 (DIR) [3] /Gefluechtete-in-der-Tuerkei/!5766619
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jürgen Gottschlich
       
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