# taz.de -- Rückzug vom Rest der Welt: Im Schneckenhaus
       
       > Wir sind erschöpft, passen nicht mehr gut auf. Über eine Krise, vor der
       > sich nicht mal die wohlhabendste Parallelgesellschaft verstecken kann.
       
 (IMG) Bild: Wer müde ist, kann kaum wach bleiben – geschweige denn wachsam
       
       Es gibt zwei Varianten einer kleinen Welt. Die erste ist die, in der ich
       aufwachsen durfte – auch, weil ich das Glück des richtigen Ausweisdokuments
       hatte. Diese Welt ist klein, weil sie Distanzen überbrückbar macht: Du
       steigst in ein Flugzeug und bist in acht Stunden bei deiner Familie, du
       lernst, was dich mit Menschen verbindet, die du nie getroffen hast, und was
       Ostwind von Westwind unterscheidet.
       
       Du findest Worte zwischen Sprachen für Zustände, die dir bisher
       unbeschreiblich erschienen. Dein Leben wird voller und weiter, als du es
       allein jemals zustande gebracht hättest, weil fast alles sich in deinen
       Radius hineinbewegt. Du trägst diese kleine Welt in deiner Manteltasche.
       Und nein, sie ist längst nicht gerecht, aber es fühlt sich ein bisschen so
       an, als könnte sie auf dem Weg dahin sein.
       
       Die zweite Variante der kleinen Welt ist gefährlich. Das ist die Welt, die
       sich zurückzieht vor dem Rest, die ihre Rollläden runterlässt und große
       Spiralen aus Stacheldraht auf Mauern legt. Die sich selbst abschließt und
       dich in ihr. Sie sickert in unseren Alltag, tröpfchenweise. Ich schenke ihr
       zu wenig Aufmerksamkeit, fürchte ich, ich passe nicht mehr gut genug auf.
       Ich lese keine Nachrichten, weil ich längst weiß, dass die Welt schlimm
       ist.
       
       Ich treffe den Nachbarn im Treppenhaus, er trägt den Biomüll nach unten,
       aber er weiß nicht, wo er seine Erschöpfung entsorgen soll. Wer müde ist,
       kann kaum wach bleiben, geschweige denn wachsam. Unter solchen Umständen
       hat Nationalismus extrem gute Chancen, genau wie das, was er mit sich
       zieht.
       
       Ich lese [1][eine Studie über Nationalismus in Pandemiezeiten], die
       feststellt, dass die wohl beunruhigendste Welt nach Corona eine wäre, in
       der nationale und ideologische Grenzen deckungsgleich sind. Dass
       Nationalismus und ideologische Spaltung zu mehr Feindseligkeiten führen
       würden und die globalisierte Welt dann kaum noch Überlebenschancen hat.
       
       Ich schreibe eine Einkaufsliste und ich schreibe eine
       Weihnachtsgeschenkliste und ich schreibe auf einen Zettel: Angela Merkel
       fordert im Kampf gegen die vierte Welle einen „[2][Akt nationaler
       Solidarität“]. Nationale Solidarität gegen eine globale Pandemie. Noch
       immer gibt es keine Patentfreigabe der Impfstoffe und keinen international
       abgestimmten Plan zur Virusbekämpfung.
       
       Dafür singt Lou Bega für „Grenzschützer“ in Polen, Südafrika wird für die
       Meldung von Omikron bestraft, in Sachsen stehen Rechtsextreme mit Fackeln
       [3][vor dem Wohnhaus einer Politikerin], die neue Regierung kuschelt mit
       der Bild-Zeitung – diese Dinge hängen zusammen, sie schließen die falschen
       Türen und reißen die gefährlichsten weit auf. Innerhalb von Landesgrenzen
       und darüber hinaus. Während wir mitten in Krisen stehen, vor denen sich
       nicht mal die wohlhabendste Parallelgesellschaft verstecken kann.
       
       Ich krame jetzt nach der Welt in meiner Manteltasche und finde ein leeres
       Schneckenhaus.
       
       7 Dec 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://link.springer.com/article/10.1007/s11366-020-09696-2#Sec12
 (DIR) [2] /Merkels-letztes-Bund-Laender-Treffen/!5816080
 (DIR) [3] /Opferberater-ueber-Corona-Angriffe/!5817191
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lin Hierse
       
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