# taz.de -- Tori Amos über Trump, Musik, Missbrauch: „Das Trauma kann zurückkommen“
       
       > US-Popstar Tori Amos hat ein neues Album veröffentlicht. In dem Song „29
       > Years“ thematisiert die Sängerin und Pianistin ihre eigene
       > Vergewaltigung.
       
 (IMG) Bild: Tori Amos lässt sich mit Musik an Wunschorte beamen
       
       taz: Tori Amos, wie groß war im vergangenen Jahr Ihre Sorge, dass Donald
       Trump eine zweite Amtszeit bekommen könnte? 
       
       Tori Amos: Die Sorge war angebracht. Sie trieb nicht nur mich um. Es ging
       dabei um ein großes Missverständnis. Das hat die US-Innenpolitikexpertin
       und Journalistin Sarah Kendzior, die mit ihrer Kollegin Andrea Chalupa den
       [1][Podcast „Gaslit Nation“] betreibt, gut in Worte gefasst. Sie erklärte,
       dass die Leute fälschlicherweise angenommen haben, sie hätten bei der
       Präsidentschaftswahl 2020 lediglich die Entscheidung zwischen zwei alten
       Männern. Dabei war diese Wahl eigentlich eine Abstimmung über zwei
       Regierungssysteme. Entweder für den Fortbestand der Demokratie oder für das
       Entstehen eines autoritären Regimes. Streng genommen hat Kendzior in
       Hinblick auf Trumps Amtsauffassung sogar den Begriff Plutokratie verwendet,
       er erscheint mir allerdings zu vage. Wie dem auch sei: Wie es [2][nach der
       Wahl Anfang Januar weiterging], war noch schockierender, als alle
       Prognosen.
       
       Sie meinen den Sturm auf das Kapitol in Washington am 6. Januar? 
       
       Genau. Wenn der Präsidentschaftskandidat verliert, den ich gewählt habe,
       betrübt mich das zwar, dennoch glaube ich weiter an die Regierungsform
       Demokratie und akzeptiere das Wahlergebnis, statt deshalb die Niederlage
       anzuzweifeln. Aber viele republikanische Wähler:innen haben genau das
       getan. Beim Sturm auf das Kapitol waren Trump-Anhänger:innen willens, die
       Grundfesten der Demokratie niederzutrampeln – aufgepeitscht von
       eigennützigen Politikern. Nicht nur Trump allein hatte zuvor Stimmung gegen
       das amtliche Wahlergebnis gemacht, das taten auch andere prominente
       Konservative. Was wiederum zu verabscheuungswürdigen Szenen in Washington
       führte. Spätestens da wurde mir klar: Ich muss dieser dort zum Ausdruck
       gekommenen Negativität etwas entgegensetzen.
       
       Und was war Ihre Idee? 
       
       Ich habe damals beschlossen, neue Songs zu komponieren, die die
       Polarisierung atmosphärisch aufnehmen und auflösen. Fast alle
       Amerikaner:innen hatten Anfang 2021 genug von den furchtbaren
       Schlagzeilen aus Washington. Also sagte ich mir: Was wir brauchen, ist ein
       Zaubertrank. Die Menschen müssen dieses Elixier aufsaugen, es soll sie an
       ihren Wunschort transportieren. Wenn sich zum Beispiel jemand nach dem
       [3][Meer] sehnt, bringe ich sie mit meinen Liedern dorthin. Ich weiß, dass
       das funktioniert. Denn seit meiner Kindheit beame ich mich durch Musik
       anderswohin.
       
       Für dieses Konzept haben Sie bereits fertiggestellte Stücke wieder
       verworfen. Warum? 
       
       Weil ich realisiert habe, dass dieses Material nicht die richtige Energie
       besitzt. Ich will mit meiner Musik vorwärts gehen. Ich sehne mich nach
       Regeneration. Darum hörte ich auf Musen, die mir rieten: Du musst dich mit
       deinen Songs aus dem Schlamassel ziehen. So entstand „Metal Water Wood“,
       das Auftaktlied für mein neues Album „Ocean to Ocean“.
       
       Mit dem Titel „Flowers burn to Gold“ erinnern Sie an Ihre Mutter, die vor
       zwei Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls gestorben ist. 
       
       Es gab während des Lockdowns oft Tage, an denen ich meine Mutter gern
       gehört hätte. Einfach ihre Stimme hören. Sie hatte die Gabe, in jeder
       Situation das Richtige zu sagen. Wenn Champagnerkorken knallen und ein
       Feuerwerk den Himmel erleuchtet, finden viele Leute die passenden Worte.
       Laufen die Dinge dagegen nicht so gut, wird die Ansprache oft schwierig. Da
       ist man auf Menschen angewiesen, die einen aus dem Tief wieder herausholen
       und das Gefühl geben, wir schaffen das schon.
       
       Ist das Ihrem Mann Mark Hawley während der Pandemie nicht gelungen? 
       
       Doch, doch. Es war gut für mich, in dieser diffizilen Zeit einen Briten und
       seinen trockenen Humor um mich zu haben. Mark versteht es nämlich, dadurch
       jedem Missstand zu trotzen.
       
       Sie selbst sind dagegen mit dem Song „29 Years“ ans Eingemachte gegangen
       und haben sich Ihrer Vergewaltigung erneut gestellt. 
       
       So eine Erfahrung ist traumatisch, das Trauma kann immer wieder
       zurückkommen. Die Frage ist: Wie reagiere ich darauf? Geht plötzlich alles
       verloren, was ich mir im Laufe der Jahre erarbeitet habe? Reagiere ich mit
       Selbstbestrafung? Oder bestraft man andere? Es wird kompliziert, wenn man
       seinem Gegenüber Dinge sagt, die man nicht mehr zurücknehmen kann. Deshalb
       haben wir Amerikaner:innen eine Grundregel: Erst mal bis zehn zählen,
       bevor man spricht. Vielleicht betrachtet man die Sache dann aus einer
       anderen Perspektive.
       
       Sie sind Mitbegründerin der Notruf-Hotline RAINN, die in den USA Opfer
       sexueller Gewalt unterstützt. Gingen während der Coronakrise mehr Anrufe
       ein als früher? 
       
       Während des Coronalockdowns nahm der Missbrauch von Minderjährigen
       dramatisch zu. Das Problem war, dass die Opfer nicht vor den Tätern
       flüchten konnten. Sie saßen zu Hause fest und waren ihren Peinigern
       ausgeliefert. Viele Anrufe kamen erst, als der Lockdown gelockert wurde.
       Vorher hatten die Jugendlichen gar keine Chance, uns überhaupt zu
       kontaktieren.
       
       Viele Teenager wurden in dieser Zeit ungewollt schwanger. Macht es die
       Dinge schlimmer, dass in Texas nun selbst bei Inzest und Vergewaltigung
       Abtreibungen ab der sechsten Woche verboten sind? 
       
       Auf jeden Fall. Das ist eine drakonische Entscheidung. In der Konsequenz
       gehört der Körper einer Frau nicht mehr ihr selbst, sie kann nicht länger
       über ihn bestimmen. Was steckt hinter diesem Plan? Und was soll aus all den
       ungewollten Babys werden? Einige kommen in Pflegefamilien. Aber was
       passiert mit den anderen? Eigentlich müssten diejenigen, die gegen eine
       Abtreibung sind, 18 Jahre für sie zahlen.
       
       Das Thema Missbrauch greifen Sie auch in Ihrem Buch „Widerstand“ auf. 
       
       Wie der Titel sagt: Wir müssen uns tyrannischen Machtstrukturen
       widersetzen. Einige Leute streben nach absoluter Macht. Sie ist ihr
       Aphrodisiakum, nein, besser: ihre Sucht. Sie wollen permanent mehr Macht,
       nie kriegen sie genug. Gerade solche Politiker:innen versuchen uns mit
       Versprechungen wie „Ich mache das für euch“ einzulullen. Da gilt es,
       wachsam zu bleiben und gründlich zu recherchieren: Wie spricht jemand? Was
       tut er? Wo liegt die Diskrepanz zwischen Worten und Taten? Man sollte nie
       aus den Augen verlieren, was jemanden motiviert und welche Konsequenzen
       sein Handeln hat.
       
       Sie schauen nicht nur Politiker:innen auf die Finger, sondern
       beobachten genau, wie es um die Gleichberechtigung in der US-Musikindustrie
       bestellt ist. Wie würden Sie die gegenwärtige Situation einschätzen? 
       
       Vor mehr als 25 Jahren war ich schon der Meinung: Niemand kann mir meinen
       Platz streitig machen, wenn ich ganz ich selbst bin. Auf der spirituellen
       Ebene stimmt das durchaus. Gleichwohl regiert im Musikgeschäft nach wie vor
       Ungerechtigkeit. Bei den meisten Festivals treten deutlich mehr Männer als
       Frauen auf. Wenn es deshalb weniger Auftrittsmöglichkeiten gibt, entwickelt
       sich zwangsläufig ein Konkurrenzkampf unter Musikerinnen. Ich denke, das
       ist vom Patriarchat so gewollt. Darum müssen Frauen aufpassen, gegen wen
       oder was sie sich stellen. Wir sollten uns fragen: Wie lösen wir Konflikte?
       Wie können wir Veränderungen herbeiführen? Zumindest sehe ich gerade bei
       der jüngeren Generation, dass sie unermüdlich auf einen Umbruch pocht.
       
       Heißt das, Billie Eilish hat es heute leichter als Sie früher? 
       
       Keine Ahnung, ich kenne ja nicht [4][ihren Plattenvertrag]. Tatsache ist:
       Erfolgreiche Musikerinnen werden nach wie vor angefeindet. Ich bekam früher
       Drohbriefe und wurde von den Medien attackiert. Heute machen die Kommentare
       in den sozialen Medien jungen Künstlerinnen das Leben schwer. Hinzu kommt:
       Sobald eine Frau auf dem Weg nach oben ist, wird sie von der
       Musikmaschinerie ausgebeutet. Mit dem Ziel, möglichst viel Geld mit ihr zu
       verdienen. Nachhaltige Karrieren sind inzwischen selten geworden. Umso
       wichtiger ist es, dass Musikerinnen die Motivation der Menschen um sie
       herum genau beleuchten. Einige wollen ihnen helfen, sich künstlerisch zu
       verwirklichen. Andere interessiert einzig der Profit.
       
       31 Oct 2021
       
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