# taz.de -- Neues Abtreibungsgesetz in Texas: Das ist nur der Anfang
       
       > Seit dem ersten September ist Abtreibung in Texas nahezu verboten. Das
       > von Schwarzen gegründete Afiya-Zentrum für Gesundheit stemmt sich
       > dagegen.
       
 (IMG) Bild: Downtown-Dallas: Eine Frau demonstriert für ihr Recht auf Abtreibung
       
       TEXAS taz | Wenn du über sechs Wochen bist, ist es zu spät für uns“, muss
       Quiana Arnold neuerdings oft sagen. Statt die hilfesuchenden Frauen an eine
       Klinik in Texas zu vermitteln, die Abtreibungen durchführt, schickt sie sie
       ins Internet. Wenn sie dort „[1][brauche Abtreibung“] eintippen und fündig
       werden, kann Quiana Arnold notfalls Geld auftreiben. Oder eine Adresse für
       die Übernachtung in Oklahoma, New Mexico oder Colorado vermitteln.
       
       Quiana Arnold arbeitet im Geburtenteam von Afiya in Dallas. Das
       Afiya-Zentrum, dessen Name an das Swahili-Wort für Gesundheit erinnert, ist
       das einzige von schwarzen Frauen geführte Gesundheitszentrum im Norden von
       Texas. Weiße Klientinnen hat Arnold nicht.
       
       Bei schwarzen Frauen und Mädchen im Großraum Dallas steht das Afiya-Zentrum
       im Ruf, Unmögliches möglich zu machen. Die Mitarbeiterinnen führen keine
       Eingriffe durch. Sie beraten. Für ihre Klientinnen vermitteln sie Hilfen
       bei Fruchtbarkeitsproblemen, Geburten und Abtreibungen; sie bieten Doulas
       an – nichtmedizinische, professionelle Begleiterinnen für Geburten,
       Fehlgeburten und das Lebensende. Sie organisieren sexuelle Aufklärung,
       Verhütung und sichere Räume für verfolgte Frauen. „Wir sind ein praktischer
       Fonds“, sagt Quiana Arnold, „wir schützen schwarze Frauen.“
       
       Aber seit dem 1. September sind selbst dem Afiya-Zentrum die Hände
       gebunden. „Traut schwarzen Frauen“, schrieben die Mitarbeiterinnen auf ein
       mehrere Quadratmeter großes Werbeplakat, das Anfang September längs der
       großen Verkehrsachsen in Dallas auftauchte, wo sonst Bibelsprüche und
       Slogans für Hypothekenbanken prangen: „Abtreibung ist Selbstfürsorge“. Es
       war ihr erster Protest gegen das neue Gesetz SB8, das am 1. September in
       Kraft getreten ist. Es verbietet fast alle Schwangerschaftsabbrüche in
       Texas nach der sechsten Woche. Weil über 85 Prozent aller Abtreibungen erst
       nach der sechsten Woche stattfinden, kommt es einem Verbot von Abtreibungen
       sehr nahe.
       
       Das Gesetz macht gewöhnliche Bürger zu Strafvollzugsorganen. Es fordert sie
       auf, Menschen anzuzeigen, die Abtreibungen unterstützen. Dabei hantiert es
       mit einem so weit gefassten Begriff von „Helfern und Unterstützern“, dass
       die Verfolgung viele treffen kann: von den Nahestehenden, die einer
       schwangeren Frau Informationen und Geld für eine Abtreibung geben, über den
       Taxifahrer, der sie in die Klinik fährt, bis zu dem Arzt, der den Eingriff
       durchführt. Den Denunzianten winken saftige Belohnungen, die bei 10.000
       Dollar Minimum anfangen. Zahlen müssen die Verurteilten. Für Afiya, das
       dank Spenden existiert, könnte eine Verurteilung nach SB8 das Ende
       bedeuten.
       
       Zu dem Risiko, denunziert und finanziell ruiniert zu werden, kommt hinzu,
       dass sich die Afiya-Mitarbeiterinnen auch individuell bedroht fühlen. “Wir
       sind bewegliche Ziele“, sagt Quiana Arnold. Sie arbeitet deswegen von einem
       ungenannten Ort aus – vor allem am Telefon und per Zoom.
       
       „Wir prüfen jede Person, mit der wir sprechen“, sagt Michelle Anderson, die
       Politikbeauftragte des Afiya-Zentrums. Die 51-Jährige ist eines der
       öffentlichen Gesichter des Afiya-Zentrums. Sie hat keine Angst vor
       schwierigen Themen. Als sie 2011 „Miss Plus America“ – eine Misswahl für
       runde Frauen – gewann, nutzte sie den Titel, um über ihre HIV-Infektion zu
       sprechen. Sie wollte die Stigmatisierung von HIV-positiven schwarzen Frauen
       beenden. Jetzt stellt sie für das Afiya-Zentrum das „System von
       Ungleichheiten“, mit dem schwarze Frauen konfrontiert sind, in den
       Vordergrund.
       
       „Wir erfahren Rassismus ab dem Moment, in dem wir den Uterus verlassen“,
       sagt sie. Das texanische Abtreibungsverbot ist für sie eine weitere
       Ausdrucksform der weißen Vorherrschaft. „Sie fürchten, dass sie in die
       Minderheit geraten“, sagt Michelle Anderson über die Drahtzieher des
       Gesetzes, „es geht ihnen darum, ihre Macht und den Status quo zu erhalten.“
       
       Manche [2][Pro-Choice-Aktivistinnen] in den USA haben neuerdings
       Bodyguards. Die hat Michelle Anderson nicht. Aber auch sie ist vorsichtig
       geworden. Sie reist nicht mehr allein.
       
       Abtreibungen in Texas im ersten Schwangerschaftsdrittel kosten im
       Durchschnitt 500 Dollar. Fast immer müssen die Frauen selbst zahlen, die
       meisten Krankenversicherungen in Texas dürfen diese Kosten nicht
       übernehmen. Die 1,4 Millionen Nichtversicherten in Texas – mehr als in
       jedem anderen Bundesstaat der USA – sind ohnehin auf sich gestellt.
       
       ## Gesetz lässt auch Kosten für Abtreibung steigen
       
       Mit dem neuen Gesetz vervielfachen sich die Kosten für eine Abtreibung ab
       der siebten Woche. Zusätzlich zu dem Eingriff müssen Frauen jetzt auch für
       Reisen, mehrtägige Lohnausfälle und Kinderversorgung während ihrer
       Abwesenheit aufkommen. „Das trifft braune und schwarze Frauen besonders
       hart“, sagt Michelle Anderson. Sie haben geringeres Einkommen, weniger
       Zugang zu Bildung und sind in der Gesundheitsversorgung benachteiligt.
       
       Das zeigt sich auch bei der Müttersterblichkeit. Eine Gesundheitsstudie im
       Auftrag des Gouverneurs von Texas im Jahr 2018 kam zu dem Ergebnis, dass
       schwarze Frauen in dem Bundesstaat mehr als doppelt so häufig während der
       Schwangerschaft oder unmittelbar danach sterben, als weiße. Für mehr als 14
       von 100.000 schwarzen Frauen in Texas endet eine Schwangerschaft mit dem
       Tod. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die meisten Todesfälle
       vermeidbar sind.
       
       „Rassistisch“, lautet auch der Befund von Yolanda Blue Horse über das neue
       Gesetz. Sie hat den Eindruck, dass ihr schon wieder jemand sagen will, was
       sie mit ihrem Körper zu tun und zu lassen hat. Die 49-Jährige aus dem Volk
       der Rosebud Sioux, die in Dallas lebt, fühlt sich durch SB8 an den
       Völkermord an den indigenen Einwohnern Amerikas erinnert: „Beim ersten
       Kontakt waren wir Millionen. Im 19. Jahrhundert waren nur noch 250.000 von
       uns übrig.“ Sie denkt auch an die Massensterilisationen von indigenen
       Frauen in den 60er und 70er Jahren. Und sie denkt an ihr eigenes
       traumatisches Erlebnis als kleines Mädchen.
       
       Seit SB8 in Kraft ist, gehen täglich Frauen mit ihrer persönlichen
       Geschichte in die Offensive. Manche berichten zum ersten Mal öffentlich,
       dass, wann und warum sie abgetrieben haben. Yolanda Blue Horse bricht ihr
       Schweigen über ihren Stiefvater, der sie als Kind sexuell belästigt hat. Es
       war Zufall, dass sie nicht schwanger geworden ist. „Natürlich brauchen wir
       Abtreibungen“, sagt sie, „gerade junge Mädchen, wie ich eines war, sind
       darauf angewiesen. Alles andere würde ihr Leben zerstören.“
       
       ## Gesetz gilt ausnahmslos – auch bei Vergewaltigung
       
       Das Gesetz macht auch in Fällen von Inzest und Vergewaltigung keine
       Ausnahme. Der republikanische Gouverneur von Texas, Greg Abbott, redet sich
       damit heraus, dass er die Vergewaltiger von den Straßen Texas vertreiben
       werde. Für die indigene Bürgerrechtlerin ist das „der idiotischste Satz,
       den je ein Mann gesagt hat“.
       
       „Abtreibung ist legal in Texas“ lautet die erste Botschaft auf der Webseite
       von Planned Parenthood in Dallas. Es ist ein trotziges Aufbäumen, dem lange
       Ausführungen über die zahlreichen Einschränkungen durch das neue Gesetz
       folgen.
       
       Planned Parenthood ficht das Gesetz vor Gericht an. Aber auch die größte
       Organisation für Familienplanung in den USA muss sich den neuen Realitäten
       in Texas beugen. Seit dem 1. September gehen noch mehr Anrufe bei ihr ein
       als gewöhnlich. Erstmals kommen auch Anfragen von Frauen, die noch gar
       keinen positiven Schwangerschaftstest haben, und vorsichtshalber einen
       Termin für eine Abtreibung reservieren wollen. Bei manchen ist ein Kondom
       beim Sex geplatzt. Andere sind Opfer von Gewalt geworden. In jedem Fall
       stehen sie unter Zeitdruck. Eine Schwangerschaft kann meist erst zum
       Zeitpunkt der ersten ausgefallenen Menstruation nachgewiesen werden. Danach
       bleiben nur zwei Wochen.
       
       Für Frauen mit geringem Einkommen sind die Beratungsstellen von Planned
       Parenthood quer durch Texas oft der einzige Ort, an dem sie medizinisch
       betreut werden. Fast alle Stellen haben Vorsorgeuntersuchungen,
       Mammogramme, Verhütung und Schwangerschaftstests im Programm. Aber
       Abtreibungen haben auch schon vor Ende August nur noch eine Handvoll
       Kliniken in Texas angeboten. Seit dem 1. September hat Planned Parenthood
       im Süden von Texas alle Abtreibungen – auch die im Frühstadium von
       Schwangerschaften – eingestellt. Im Norden sind die Zahlen drastisch
       gesunken. In Houston, der größten Stadt des Bundesstaates, wo vorher
       durchschnittlich 25 Abtreibungen pro Tag stattfanden, wurden an zehn Tagen
       im September nur 63 erfasst.
       
       Statt eigener Eingriffe bietet Planned Parenthood nun logistische Hilfen
       an. In Dallas hat die Organisation zwei „Patient Navigators“ eingestellt.
       Sie buchen Termine für Abtreibungen in anderen Bundesstaaten. Die Kliniken
       in den Nachbarbundesstaaten haben ihre Behandlungszeiten verlängert. Ein
       Teil des medizinischen Personals von Planned Parenthood Dallas ist zur
       Verstärkung nach New Mexico gegangen. In Oklahoma kommen schon mehr als die
       Hälfte der Patientinnen aus Texas.
       
       „Jeder Gynäkologe weiß, dass Abtreibung zur Gesundheitsversorgung von
       Frauen dazugehört“, sagt Autumn Keiser, Sprecherin bei Planned Parenthood
       in der texanischen Hauptstadt Austin. Aber die Gerichte in Texas haben
       ihrer Organisation bislang nicht einmal Gelegenheit gegeben, ihre Argumente
       bei einem Hearing zu erklären.
       
       Selbst die [3][Anfechtung des texanischen Gesetzes] durch den
       Bundesjustizminister führte nur zu einer kurzen Unterbrechung seiner
       Anwendung. Am 6. Oktober setzte ein Richter das Gesetz per einstweiliger
       Verfügung aus. Das Gesetz benutzt Tricks, um Frauen ein Recht zu entziehen,
       das ihnen seit 1973 zusteht, begründete er. Aber schon zwei Tage später gab
       ein anderes Gericht der Berufung durch die texanische Regierung statt.
       Damit war SB8 wieder in Kraft.
       
       Autumn Keiser ist optimistisch, weil in Washington erstmals seit Jahren
       wieder ein Präsident und eine parlamentarische Mehrheit sitzen, die
       „motiviert“ sind. Trotzdem fürchtet sie, dass Texas zu einer Zone von
       komplettem Abtreibungsverbot werden könnte. Im nächsten Schritt würde das
       Nachahme-Effekte quer durch den Süden und mittleren Westen der USA
       auslösen, wo ähnliche Gesetze bereits in den Schubladen liegen. Schwangeren
       Frauen aus diesen Staaten – flächenmäßig der größte Teil der USA – die eine
       legale Abtreibung suchen, bliebe dann nur die Reise in Staaten mit
       demokratischen Mehrheiten, die das Recht auf Abtreibung in Gesetze gefasst
       haben. Oder ins Ausland. Für Frauen sind das schlechte Nachrichten,
       resümiert Autumn Keiser: „Es bedeutet: weniger Möglichkeiten und höhere
       Kosten.“
       
       Die Männer und Frauen, die im sechsten Stock des Hilton Hotels in Austin
       zusammengekommen sind, sehen das anders. „2021 ist ein unglaublich gutes
       Jahr“, sagt der evangelikale Pastor Robin Steele, der den Benefiz-Abend der
       „Texas Alliance for Life“ mit einem Gebet eröffnet. „A-men“, kommt es
       zurück. An den runden Tischen sitzen Geschäftsleute, Priester, Nonnen und
       jede Menge texanische Republikaner. Die überwiegende Mehrheit der
       Teilnehmer ist weiß. Einige Frauen wiegen Babys auf den Armen. Alle Redner
       stellen sich mit der Zahl ihrer Kinder vor. Einer hat acht.
       
       „Seit dem 1. September retten wir jeden Tag 150 Babys“, sagt der texanische
       Vize-Gouverneur Dan Patrick. „Bravo“, rufen mehrere Hundert Tischgäste. Der
       Vizegouverneur muntert sie auf: „Jeder von Ihnen kann einen Doktor
       anzeigen.“ Nach ihm tritt der langjährige Chef der Vereinigung von
       Abtreibungsgegnern ans Mikrofon. Joe Pojman macht klar, dass SB8 nur der
       Anfang war: „Wir haben auch Gesetz Nummer 1280 durchgesetzt. Es tritt in
       Kraft, sobald das Oberste Gericht die schreckliche Entscheidung von 1973
       kippt.“ Das Gesetz verbietet jede Abtreibung „ab der Befruchtung“. Für Joe
       Pojman ist es keine Frage mehr, ob der oberste Gerichtshof in seinem Sinne
       entscheidet, sondern wann. Er bekommt stehenden Beifall.
       
       Der 62-Jährige Luftfahrtingenieur hat eine Weile für die Nasa in Houston
       gearbeitet. Aber Joe Pojmans Lebenswerk ist der Kampf gegen das Recht auf
       Abtreibung, das das Oberste Gericht im Jahr 1973 in einer
       Grundsatzentscheidung garantiert hat. Nach seiner Überzeugung beginnt das
       Leben „mit der Empfängnis“ und endet mit dem „natürlichen Tod“. Und das
       will er zum Gesetz des Landes machen. 1988 meldete er seine Organisation
       bei der texanischen Steuerbehörde an. Seither hat er die Politiker und die
       Medien in Texas bearbeitet. Und alljährliche Demonstrationen und Gebete
       „für das Leben“ vor dem Kapitol in Austin organisiert. Nach 33 Jahren wähnt
       er sich kurz vor dem Sieg. „Im nächsten Juni oder Juli können wir eine
       Entscheidung des Obersten Gerichtes erwarten“, verspricht er am
       Benefiz-Abend. Diese Veranstaltung findet am selben Tag statt wie die mehr
       als 600 Demonstrationen quer durch die USA, bei denen Frauen das Recht auf
       Abtreibung verteidigen.
       
       Die Männer und Frauen im Saal nennen sich „Lebensschützer“, wie die
       Gewalttäter, die in den 80er und 90er Jahren mit Sprengsätzen und
       Schusswaffen gegen Gynäkologen vorgingen. Aber sie pflegen einen anderen
       Stil. Sie gehen unverdeckt vor. Sind legalistisch. Und wissen, dass sie
       starke Mehrheiten in den Institutionen haben. Nicht nur in Texas, wo die
       Republikaner beide Kammern und das Gouverneursamt mit Supermehrheiten
       kontrollieren, sondern vor allen Dingen im Obersten Gericht, wohin
       Expräsident Donald Trump drei neue Richter geschickt hat, die das
       Grundsatzurteil von 1973 ablehnen.
       
       ## Die Arbeit von Planned Parenthood wird behindert
       
       Am Benefiz-Abend lassen sich Joe Pojman und republikanische Politiker aus
       Texas für ihre legislativen Erfolge feiern. Dazu gehört, dass Planned
       Parenthood in Texas sämtliche öffentlichen Mittel entzogen worden sind. Die
       Gelder sind an die „Alternativen zur Abtreibung“-Programme umgeleitet
       worden sind, die versuchen, Frauen zum Austragen ungewollter
       Schwangerschaften und eventuell zur Adoption zu überreden.
       
       Dazu gehört, dass der Sexualkundeunterricht an Schulen nur noch nach
       elterlicher Zustimmung stattfinden darf, und dass Lehrer in Texas
       angehalten sind, den Schülern Enthaltsamkeit vor der Ehe nahezulegen. Und
       dazu gehört, dass ungewollt schwangere Frauen in Texas, schon lange vor SB8
       alle möglichen Schikanen über sich ergehen lassen mussten, um eine
       Abtreibung zu bekommen: Sie müssen Ultraschallbilder anschauen, elektrische
       Impulse anhören und Texte lesen, die Falschinformationen verbreiten –
       darunter die Behauptung, dass ein Schwangerschaftsabbruch das Krebsrisiko
       erhöhe.
       
       In jahrzehntelanger Arbeit haben Gruppen wie die Texas Alliance for Life
       nicht nur Gesetze durchgesetzt. Sie haben es auch geschafft, der
       Abtreibungsdebatte ihre Ideen und ihre Worte aufzuzwingen. Sie haben
       Begriffe wie „Abtreibungsindustrie“ und „Töten“ populär gemacht, die
       suggerieren, dass die andere Seite von Geldgier und Mordlust getrieben ist.
       Sie haben das Stichwort „Herzschlaggesetz“ in Umlauf gebracht, obschon ein
       Embryo in der sechsten Woche noch kein Herz mit Klappen hat, das schlagen
       könnte. Und sie nennen Embryonen, die so groß wie Erbsen sind und weder
       Arme noch Beine haben, „Babys“. Der Vizegouverneur geht noch weiter. Er
       gibt ihnen eine Nationalität. „Wir retten kleine Texaner“, sagt er.
       
       Für Frauen, die selbst entscheiden wollen, ob sie ein Kind wollen, haben
       die Teilnehmer des Benefiz-Abends keine Empathie. Zu einer Schwangerschaft
       nach einer Vergewaltigung sagt Debra Damman, Geschäftsfrau und aktives
       Mitglied einer Pfingstler-Gemeinde achselzuckend: „Wir mögen es nicht
       geplant haben, aber Gott hat einen Plan.“ Für Joe Pojman sind
       Vergewaltigung und Inzest „schreckliche Verbrechen“. Aber er erkennt darin
       keine Rechtfertigung für Abtreibung: „Die Frau kann das Baby behalten oder
       zur Adoption freigeben.“
       
       Debra Damman gehört seit zwölf Jahren zu der Vereinigung. Ihr nächstes Ziel
       ist ein vollständiges Abtreibungsverbot in Texas. Aber selbst wenn es
       dieses geben sollte, will sie ihr Engagement fortsetzen. Sie betrachtet
       Texas als „Führer“: für die USA und die Welt. So sieht es auch Shawn
       Carney, der eine halbstündige Rede hält, um die Anwesenden zu mehr Spenden
       zu animieren. Das Spendenziel für den Abend sind 400.000 Dollar. Shawn
       Carneys Talent, Bibelzitate und Politisches zu verbinden, ist den
       Konservativen in Texas schon aufgefallen, als er noch Student war.
       Inzwischen ist Shawn Carney ein texanischer Exportartikel. Er organisiert
       gemeinsam mit evangelikalen Kirchen „40 Tage für das Leben“-Kampagnen,
       schreibt Bücher und tourt um die Welt.
       
       Aufgeklärte Frauen wehren sich gegen die Sprache, mit der Joe Pojman und
       seine Mitstreiter versuchen, Politik zu machen. „Wir leisten keinen
       Vorschub für rechte Rhetorik“, sagt Michelle Anderson vom Afiya-Zentrum in
       Dallas, „in der sechsten Woche ist ein Embryo ein Gewebe, das sich
       entwickelt.“ Aber in der Öffentlichkeit haben die Begriffe sich
       durchgesetzt.
       
       Selbst in Krankenhäusern in Texas ist das Thema Abtreibung tabu. „Natürlich
       verhindert das Gesetz keine Abtreibungen, es macht sie allenfalls
       unsicherer“, sagt die 29-jährige Krankenschwesternausbilderin Radiance Bean
       in Dallas. Aber sie hält es für unmöglich, das an ihrem Arbeitsplatz zu
       thematisieren. „Dann würde sofort ein Geldgeber drohen, seine Spenden
       zurückzuziehen.“ Im vergangenen Jahr ist die schwarze Ausbilderin schon
       einmal mit einem Thema, das ihr wichtig ist, gegen eine Wand gerannt. Sie
       wollte an der staatlichen Universitätsklinik in Dallas eine
       Unterrichtseinheit über Ungleichheiten in der medizinischen Betreuung von
       schwarzen und weißen Patienten anbieten. Die Personalabteilung gab ihr 30
       Tage, „um einen neuen Job zu suchen“.
       
       Im Texas des Jahres 2021 fühlt sich die gebürtige Irin Abigail Aiken
       gelegentlich an ihre Jugend in Nordirland erinnert. „Du kannst alles tun,
       bloß nicht schwanger werden“, hat ihre ansonsten liberale Mutter sie damals
       gewarnt. „In dem Fall könnte ich dir nicht helfen.“ Abtreibung war
       verboten. Junge Mädchen, die zu dem Zweck nach England reisten, schadeten
       dem Ruf der ganzen Familie.
       
       Heute lehrt die 37-jährige Abigail Aiken an der University of Austin. Sie
       hat Medizin und öffentliches Gesundheitswesen studiert, ihr
       Forschungsgebiet sind Abtreibung und Alternativen zu operativen
       Schwangerschaftsabbrüchen. Sie hat Studien über den Einsatz der
       Abtreibungspillen Misoprostol und Mifepristone bei selbst durchgeführten
       Abtreibungen in Europa gemacht. Ihr Ergebnis: „Sie sind sicher.“
       
       ## Abtreibungspille als Teil einer temporären Lösung
       
       Anfang September, als das Gesetz SB8 gerade in Kraft getreten war, gingen
       Frauen von der Organisation [4][Plan-C] mit einem kleinen Laster auf Tour
       durch konservative ländliche Gebiete in Texas. Über die Außenwand ihres
       Lasters flimmerte nonstop die Nachricht: „Periode verpasst? Dafür gibt es
       eine Pille.“ Gefolgt von der eigenen Webseite. Von dort aus werden
       Interessentinnen weiter an „[5][Aid-Access“] verwiesen, wo Frauen die
       Pillen nach einer Onlinekonsultation für 105 Dollar bestellen können.
       
       In den USA sind die Abtreibungspillen schon lange im Einsatz. Doch bislang
       geschah das fast nur unter medizinischer Kontrolle in Kliniken. Erst bei
       Beginn der Pandemie erlaubte die Medikamentenbehörde FDA – zunächst
       vorübergehend – einen Postversand. Im September schnellten die Anfragen bei
       Plan-C von ein paar Hundert pro Tag auf über 80.000 in der ersten
       Septemberwoche hoch. 30 Prozent kamen aus Texas.
       
       Die Republikaner in Texas haben bereits ein neues Gesetz verabschiedet, um
       die postalische Zustellung von Abtreibungspillen zu verbieten. Aber wenn
       Ärzte außerhalb von Texas Pillen verschreiben, die aus Europa oder Indien
       kommen, greift ihr Gesetz bislang nicht. Die Forscherin Abigail Aiken ist
       skeptisch, dass das Grundsatzurteil von 1973 im neuen Obersten Gericht der
       USA Bestand haben wird. Aber sie sieht die Pillen als Silberstreif: Wie
       einst in Irland könnten die Pillen in Texas, nach dem Quasiverbot von
       Abtreibungen, eine Lösung bieten.
       
       16 Oct 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://needabortion.org
 (DIR) [2] /Reproduktive-Rechte/!5778421
 (DIR) [3] /Abtreibungsrecht-in-den-USA/!5773731
 (DIR) [4] https://www.plancpills.org
 (DIR) [5] https://aidaccess.org/en/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dorothea Hahn
       
       ## TAGS
       
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