# taz.de -- Die Wahrheit: Der Phil-Collins-Virus
       
       > Mit seinen fiesen Balladen hätte der ehemalige Genesis-Sänger nicht nur
       > beinahe die Musik, sondern auch langjährige Kneipenbekanntschaften
       > zerstört.
       
       Als Raimund sein Handy auf die Theke legte, schaltete er versehentlich den
       Player an. „Das ist ja ‚Against all odds‘!“, rief Luis: „Du hörst Phil
       Collins?!“
       
       „Äh …“, machte Raimund, „ich …“ – „Ich fass es nicht!“, sagte Luis und
       zitierte im Predigerton einen der ungezählten Vorträge, die Raimund uns in
       den letzten Jahrzehnten gehalten hatte: „Phil Collins hat Genesis zerstört!
       Phil Collins hat die Musik zerstört! Phil Collins hat das Glück auf diesem
       Planeten zerstört!!!“
       
       „Ja, ja, ich hab das immer gesagt“, stotterte Raimund, „aber Rudi hat mir
       neulich erzählt, dass das gar nicht stimmt. In Wahrheit war wohl Tony Banks
       der Mistkerl, der Genesis zu einer Schunkelband gemacht hat. Außerdem sind
       die Songs von Phil Collins doch gar nicht so schlecht …“
       
       Luis schnappte nach Luft. „Bist du irre?! Die Sachen sind schrecklich! Die
       Einzigen, die in den Achtzigern gute Musik gemacht haben, waren die Talking
       Heads!“
       
       „Und Tina Turner!“, sagte eine Stimme hinter uns. Es war Rudi, der
       Blödmann, der sich wie immer lautlos ins Café Gum rein- und an uns
       rangeschlichen hatte. Luis schien vollends aus den Pantinen zu kippen.
       
       „Ti … Tö …?“, keuchte er: „Du hast sie ja nicht mehr alle! Das ist
       klanggewordene Folter, der Soundtrack eines Jahrzehnts, in dem die
       Hoffnungen der Achtundsechziger gestorben sind und Kohl, Thatcher, Reagan
       der Menschheit den Neoliberalismus brachten! Musik für Mädchen mit
       Dauerwelle und Jungs in Sakkos mit Schulterpolstern, die heute in
       Reihenhäusern leben und feuchte Augen kriegen, wenn der Gute-Laune-Sender,
       den sie immer hören, ‚We don’t need another hero‘ spielt, weil sie das an
       einen warmen Abend im August 85 erinnert, an dem sie mit ihrer Clique ins
       Freibad von Groß Deppenstedt eingestiegen sind und unerhörterweise nackt
       gebadet haben!“
       
       „Was spricht denn gegen Reihenhäuser?“, sagte Rudi: „Wenn die Nachbarn nett
       sind und man ab und zu zusammen grillt?“ – „Außerdem haben wir im August 85
       das Haus in der Agnesstraße besetzt, und ich hatte eine ziemlich gute Zeit
       mit Rita Reichel“, sagte Raimund. „Die übrigens auch eine Dauerwelle trug
       und Tina Turner gut fand“, sagte Rudi. „Ja“, sagte Luis, „und dann ja auch
       mit einem Popper abgezogen ist, weil sie lieber zur Mehrheit gehören und
       irgendwann mal ein Reihenhaus kaufen wollte, statt eine Bruchbude im
       Stadtzentrum zu besetzen.“
       
       „Ja, ist es denn so schlecht, zur Mehrheit zu gehören?“, sagte Rudi, und
       Raimund wiederholte mechanisch: „Genau, ist das denn so schlecht?!“ Er
       starrte Rudi an, der die Augen weit aufgerissen hatte und hypnotisch die
       Pupillen rollte.
       
       „Jetzt reicht’s!“, schnaufte Luis. Er schnappte sich das Handy und zog
       Raimund hinter sich her, und als wir draußen waren, sagte er: „Wir löschen
       jetzt erst mal den Phil-Collins-Mist, und dann behandeln wir die arme Seele
       mit einer doppelten Dosis Zappa. Vielleicht können wir unseren Freund noch
       retten.“
       
       7 Dec 2021
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Joachim Schulz
       
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