# taz.de -- Antroposophie und das Impfen: Der Zweifel wächst trotz Wissen
       
       > Unter Anthroposoph:innen gibt es viel Skepsis gegenüber den
       > Corona-Impfungen. Aber gilt das auch für anthroposophische Ärzt:innen?
       
 (IMG) Bild: Goetheanum in Dornach in der Schweiz, monumentaler Entwurf von Rudolf Steiner
       
       Eine Gruppe, die in der Debatte über das Impfen besonders in den Fokus
       rückt, sind die anthroposophischen Ärzt:innen. Die Medizin ist neben der
       Pädagogik und der Landwirtschaft eines der drei Hauptgebiete, mit denen
       sich Anthroposoph:innen beschäftigen. In offiziellen Statements
       sprechen sich die jeweiligen Institutionen für die Corona-Impfung aus. Die
       Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte Deutschlands (GAÄD) etwa schreibt
       auf ihrer Webseite, sie „begrüßt die Impfmöglichkeit gegen Covid-19“.
       
       Für die Internationale Vereinigung anthroposophischer Ärztegesellschaften
       und die Medizinische Sektion am Goetheanum, dem institutionellen Zentrum
       der Anthroposoph:innen, „ist eine Impfung gegen Sars-CoV-2 ein
       wichtiges Element zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie“.
       
       Dabei fällt zunächst auf, dass hier weder zum Impfen aufgerufen wird noch
       genau genommen eine Impfung empfohlen wird. Auch auf Nachfrage bei der
       GAÄD, ob sie sich den Corona-Impfempfehlungen der Ständigen Impfkommission
       anschließt, wird lediglich noch einmal darauf verwiesen, dass man die
       Impfung gegen das Coronavirus „begrüße“.
       
       Der Journalist Oliver Rautenberg, der sich seit vielen Jahren intensiv mit
       Anthroposophie auseinandersetzt und den für den Grimme-Preis nominierten
       [1][Anthroposophie-Blog] betreibt, hält solche Aussagen für
       Feigenblätter. Dem offiziellen „ja“ der anthroposophischen
       Mediziner:innen folge in der Regel ein „aber“.
       
       Um diese Nuancen in der Kommunikation zu erkennen, muss man etwas weiter
       ausholen. Georg Soldner, stellvertretender Leiter der medizinischen Sektion
       am Goetheanum, schreibt in einem Beitrag aus dem März 2021 Folgendes zur
       Corona-Impfung: „Entscheidend ist, dass schwere Krankheitsverläufe und
       Todesfälle sehr viel seltener werden. Diese Hoffnung ist für Geimpfte, vor
       allem ältere Erwachsene, zunächst begründet.“ Allerdings wisse man nicht,
       wie lange der Schutz anhält, so Soldner. Gegenüber mutierten Viren könne
       der Schutz schwächer sein. „Ökologisch gesehen übt die Impfung selbst
       Druck auf das Virus aus, zu mutieren.“
       
       ## Mögliche Nebenwirkungen?
       
       Dann kommt Soldner auf mögliche Nebenwirkungen zu sprechen: „Vektor- und
       mRNA-Impfstoffe erweisen sich als nicht so gut verträglich. Jüngere
       Menschen reagieren stärker auf die Impfung, mit Schmerzen,
       Abgeschlagenheit, Fieber“, schreibt er. Diese Impfreaktionen würden zwar im
       Allgemeinen nach einigen Tagen wieder verschwinden. „Wenn der Organismus
       allerdings schon geschwächt ist, können die Impfstoffe ihn auch nachhaltig
       erschüttern. Vor allem bei sehr alten, gebrechlichen Menschen raten
       Experten deshalb zur Vorsicht. Die Medizinische Sektion tritt dafür ein,
       dass man immer prüft, ob man für die Verarbeitung der Impfung ausreichend
       gesund ist.“
       
       Nichts von dem, was Soldner schreibt, ist falsch, aber während er auf den
       Nutzen der Impfung kurz und allgemein eingeht, wird er bei den Risiken
       wortreich und konkret. Ins Verhältnis werden Nutzen und Risiken überhaupt
       nicht gestellt. „Der Subtext ist immer ein zweifelnder“, sagt der
       Journalist Rautenberg. „Man wisse nicht genau, ob das was bringt, man wisse
       nicht genau, ob das sicher ist. Und dann wird auf die individuelle
       Entscheidung verwiesen. Die Klientel hört diesen Unterton.“
       
       Dennoch ist auch das Bild einer durch und durch impfskeptischen Szene, wie
       es in den vergangenen Wochen in einigen Medien verbreitet wurde, nicht ganz
       zutreffend. Es gibt anthroposophische Ärzt:innen, die es durchaus ernst
       meinen mit der Corona-Impfung und die dafür werben. Das anthroposophische
       Krankenhaus Havelhöhe hat es in der Region Berlin-Brandenburg in den
       vergangenen Wochen zu einiger Bekanntheit gebracht. Nicht nur weil hier
       jeden Tag gegen Corona geimpft wird, sondern auch weil die Organisation
       funktioniert. Anders als in den vom Land Berlin aufgebauten Impfzentren
       bekommt man in Havelhöhe auch kurzfristig einen Termin, etwa für eine
       Booster-Impfung.
       
       Der anthroposophische Arzt Christoph Holtermann hat früher im Krankenhaus
       Havelhöhe gearbeitet. Aktuell schreibt er an seiner Dissertation. Anfang
       Dezember empfängt Holtermann zu einem Gespräch im Haus der
       anthroposophischen Hochschulgruppe Berlin, ein Altbaugebäude im Bezirk
       Steglitz. Holtermann – dreifach geimpft und getestet, was man auch ruhig
       schreiben dürfe – fragt als Erstes, wie man das Gespräch führen wolle. Mit
       oder ohne Maske? Wir entscheiden uns für Abstand und gegen Maske.
       
       „Grundsätzlich würde ich jedem zur Corona-Impfung raten“, sagt Holtermann,
       der sehr bedacht und überlegt spricht. „Die Impfungen sind die zentralen
       Instrumente, die wir haben, um mit der Pandemie umzugehen. So schlicht ist
       es eigentlich.“ Man könne darüber diskutieren, welchen Impfstoff man nimmt,
       in welcher Reihenfolge, in welcher Kombination, sagt Holtermann. „Ganz
       allgemein gibt es jedoch nur sehr wenige Ausnahmen, eine Impfung
       abzulehnen.“ Selbst eine Impfpflicht will Holtermann heute nicht mehr
       ausschließen. „Wenn die Impfquoten nicht höher werden, würde ich mich auch
       dagegen nicht grundsätzlich wehren“, sagt er.
       
       Holtermann hat zu Beginn der Pandemie auf Facebook zahlreiche Artikel
       geteilt, die sich gegen die Verharmlosung des Coronavirus gewandt haben. In
       letzter Zeit wirbt er dort auch fürs Impfen. Warum macht er das? Hat er das
       Gefühl, sein Umfeld ist besonders anfällig für Coronaverharmlosung und
       Impfskepsis? „Ich habe das in verschiedensten Kontexten erlebt“, sagt
       Holtermann und macht eine Pause. „Ich habe es auch in anthroposophischen
       Kontexten erlebt“, sagt er dann.
       
       Ganz konkret hat Holtermann es in einer anthroposophischen Hausarztpraxis
       erlebt, in der er selbst bis zum Frühjahr 2021 gearbeitet hat. Auf der
       Webseite der Praxis steht auch heute noch zum Teil in Großbuchstaben und
       mit zwei Ausrufezeichen: „ZUR INFORMATION: WIR IMPFEN NICHT GEGEN COVID-19
       mit den vorhandenen Vektorimpfungen bzw. mit den neuen mRNA-Impfstoffen!!“
       Das habe zu Konflikten geführt, sagt Holtermann, mehr will er dazu nicht
       sagen.
       
       Auch wenn die Indizien stark sind: Zahlen, die eine niedrigere
       Corona-Impfquote unter Menschen, die sich selbst als
       Anthroposoph:innen verstehen, belegen, gibt es nicht. Auch Holtermann
       ist diese These zu steil. Auf die Frage, ob nicht aber gerade
       anthroposophische Ärzt:innen eine größere Verantwortung hätten, für das
       Impfen zu werben – eben weil es zumindest nicht ausgeschlossen werden kann,
       dass ihre Klientel impfskeptisch ist – sagt Holtermann: „Ich finde das eine
       gute Anregung, sich da noch deutlicher zu positionieren, und ich finde, das
       sollte auch getan werden.“
       
       21 Dec 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://anthroposophie.blog/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Daniel Böldt
       
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