# taz.de -- Sexualisierte Gewalt in der Fahrschule: In der Falle
       
       > Emma wurde von ihrem Fahrlehrer sexuell belästigt. Ein strukturelles
       > Problem: Der geschlossene Raum ohne etwaige Zeug:innen begünstigt
       > Übergriffe.
       
 (IMG) Bild: Was im Fahrschulauto passiert, sieht und hört in der Regel keine:r
       
       Emmas Fahrlehrer wurde ihr von Freunden empfohlen. Der sei super, ein
       netter Typ, hatten sie gesagt. Die Freunde, alle männlich, hatten kein
       Problem mit ihm. Ende Mai 2020 beginnt Emma mit dem Führerschein, im
       Dezember hält sie das Kärtchen endlich in den Händen. Die Zeit dazwischen
       bezeichnet sie heute als „schrecklich“.
       
       Emma, die in echt anders heißt, ist in diesem Jahr 18 geworden. Sie wohnt
       in einem kleinen Ort nahe Hannover und macht eine Ausbildung zur
       Ergotherapeutin. In den sozialen Medien reagierte sie auf eine Umfrage der
       taz, bei der nach Personen gesucht wurde, die Erfahrungen mit sexueller
       Belästigung in Fahrschulen gemacht haben. Dutzende meldeten sich, allesamt
       Frauen.
       
       Die Erfahrungen sind vielfältig: Sie sollten den Schalthebel wie einen
       erigierten Penis behandeln, sie wurden nach der Farbe ihrer Schamhaare
       gefragt, und immer wieder sei die Hand des Fahrlehrers auf ihr Knie
       gerutscht. Nicht alle ihre Geschichten finden hier Platz, doch die Anzahl
       der Nachrichten lässt vermuten, dass eine Aufarbeitung der strukturellen
       Probleme in der Fahrschulbranche überfällig ist.
       
       Als sie zum ersten Mal in das Auto des Fahrlehrers steigt, ist Emma 17
       Jahre alt. Sie schätzt ihn auf Mitte 30. Er wirkt nett, erzählt von seiner
       Frau und den Kindern. Er macht Emma Komplimente, wie empathisch sie sei,
       das merke er sofort. Anfänglich schmeicheln ihr die Worte, aber schnell
       beginnt der Fahrlehrer auch, ihr Aussehen zu kommentieren. „In jeder Stunde
       hat er mir mehrmals gesagt, wie hübsch ich sei. Mir war das sichtlich
       unangenehm“, erzählt sie der taz.
       
       Er habe ihr immer mehr Einzelheiten und private Details aus seiner Ehe
       erzählt. Beim Gangeinlegen habe seine Hand oft Emmas Oberschenkel berührt.
       Einmal habe er sie auf einen Waldparkplatz fahren lassen, mitten im
       Nirgendwo. „Das fand ich gruselig. Ich dachte: Hier hört mich keiner.“
       
       Mit ihm im Auto zu sein, habe sich angefühlt, wie in der Falle zu sitzen.
       „Das Schlimmste ist: Ich war ja auf ihn angewiesen. Ich habe mich unwohl
       gefühlt, aber ich konnte nicht einfach aussteigen auf der Autobahn“, sagt
       Emma. Darauf angesprochen hat sie ihn nie. Immer wieder zweifelt Emma,
       fragt sich: Bilde ich mir das alles nur ein?
       
       ## „Da wird eine Machtposition ausgenutzt“
       
       Erzählungen wie die von Emma kennt Ursula Georg nur zu gut. Die 60-Jährige
       betreibt eine Frauenfahrschule in Köln. Die hat sie 2005 gegründet, weil
       immer mehr Frauen ihr von Problemen mit Fahrlehrern berichteten. Sie seien
       belästigt, sexistisch angesprochen oder zu grob behandelt worden. Die
       Frauen hätten explizit nach einer Fahrlehrerin gesucht, denn die Lehrer
       seien häufig zu ungeduldig, zu laut, zu cholerisch und oftmals übergriffig.
       
       „Die Schülerinnen, die zu mir kommen, trauen sich nichts mehr zu. Sie haben
       zum Teil ein völlig zerstörtes Selbstbewusstsein“, sagt Georg. „Ich gebe
       ihnen Zeit und ein offenes Ohr.“ Auch einige männliche Fahranfänger, die
       unter der teils aggressiven Art der Lehrer leiden, wenden sich mittlerweile
       an Georg. Das Konzept Frauenfahrschule läuft gut. Sie könne sich kaum
       retten vor Anfragen, sagt sie.
       
       Über die Jahre hinweg habe Georg viele Geschichten wiederholt hören müssen
       und die Ausreden der Fahrlehrer erkannt: Liegt die Hand auf dem
       Oberschenkel der Schülerin, dann um den Druck auf das Gaspedal zu
       kontrollieren. Ist der Spiegel so eingestellt, dass der Fahrlehrer die
       Schülerin dauerhaft beobachten kann, wird behauptet, man müsse ja das
       Augenspiel der Schülerin im Blick haben, um ihre Aufmerksamkeit im Verkehr
       zu kontrollieren. „Das ist völliger Quatsch. Dafür braucht man den Spiegel
       als Lehrer nicht“, sagt Georg.
       
       Auch von Fällen, bei denen Unterricht mit Sex bezahlt wurde, wenn die
       Schülerin sich die teuren Stunden nicht leisten konnte, habe sie gehört.
       Georg empört sich über die Kollegen, die sich aus ihrem Beruf Vorteile
       verschaffen: „Da wird eine Machtposition ausgenutzt. Das geht so nicht.“
       
       Wenn Georg von Fällen sexueller Belästigung erfährt, meldet sie die
       Vorfälle der Straßenverkehrsbehörde, zuständig für Fahrlehrer- und
       Fahrschulangelegenheiten. Ohne eine Zeugenaussage kann die Behörde wenig
       ausrichten. Nur eine Schülerin von ihr habe sich bislang bereit erklärt,
       auszusagen. Und selbst dann bewegt sich nicht immer etwas. Das legt auch
       eine [1][umfassende Recherche der Vice ] zu sexueller Belästigung in
       Fahrschulen aus dem Jahr 2017 nahe.
       
       Dazu gehörte die Geschichte von Marie aus Braunschweig, die als junge Frau
       von ihrem Fahrlehrer belästigt wurde und dagegen vorging. Sie kontaktierte
       Anwält:innen, den niedersächsischen Fahrlehrerverband und die damalige
       niedersächsische Sozialministerin Carola Reimann. Zur Anzeige kam es nie,
       es gab nicht genügend Beweise.
       
       ## Es gibt wenige verurteilte Fahrlehrer
       
       Der geschlossene Raum ohne mögliche Zeug:innen, das Machtgefälle und der
       Altersunterschied zwischen Fahrlehrer:in und Schüler:in begünstigen
       Belästigung. Nur wenige Betroffene trauen sich, zur Polizei zu gehen oder
       sich an andere Hilfestellen zu wenden. Dementsprechend gibt es auch nur
       wenige Fälle, in denen Fahrlehrer verurteilt wurden oder ihre Fahrerlaubnis
       wegen eines Übergriffs verloren haben.
       
       Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes registrierte im Zeitraum zwischen
       dem 1. Januar 2020 und dem 1. Juli 2021 nur einen Fall von sexueller
       Belästigung einer Fahrschülerin. Man halte diese Zahl für nicht
       repräsentativ, so ein Sprecher. Studien dazu, wie groß sie tatsächlich ist,
       fehlen.
       
       Die Betroffenen können das Geschehene schwer einordnen, haben Angst,
       darüber zu sprechen, oder ihnen fehlen Beweise. Hinzu kommt: Ob der Vorwurf
       von sexueller Belästigung Schutzbefohlener bei Fahrlehrer:innen greift,
       was eine härtere Verurteilung bedeuten würde, ist Auslegungssache.
       
       Auch Emma hat überlegt, ihren Fahrlehrer anzuzeigen. Nach einer Fahrstunde
       machte sie sich zu Fuß auf den Weg zur Bushaltestelle. Der Fahrlehrer habe
       ihr deutlich hinterhergeschaut und auf den Hintern geguckt. Kurz darauf
       bekam sie eine WhatsApp-Nachricht, in der der Fahrlehrer schrieb, wie leid
       es ihm tue. Er sei ja eigentlich nicht so. „Da hatte ich es Schwarz auf
       Weiß, er hat es sogar zugegeben.“ Durch einen Handywechsel verlor sie den
       Chatverlauf und somit den Beweis.
       
       „Ich habe auch überlegt, die Fahrschule zu wechseln. Aber da war ich dann
       schon zwei Wochen vor der Prüfung und dachte: Ein Wechsel bedeutet noch
       mehr Fahrstunden und noch mehr Geld, das draufgeht. Die zwei Wochen halte
       ich noch aus, habe ich mir gesagt.“ Bis heute hat Emma mit niemandem
       darüber gesprochen, was ihr in der Fahrschule passiert ist. Ihren
       Freundinnen sagte sie, sie sollten diesen Fahrlehrer lieber meiden, aber
       erklärte nie, warum.
       
       Jürgen Kopp ist Vorsitzender des Bundesfahrlehrerverbands. Er weiß von dem
       Problem in der Branche, allzu oft seien ihm aber die Hände gebunden. „Bei
       uns rufen Betroffene an, die weinen. Sie sagen uns: ‚Ich will da nicht mehr
       hin, ich traue mich nicht mehr auf die Straße.‘ Das darf man nicht
       verharmlosen. Wir empfehlen dann sofort einen Fahrschulwechsel, aber
       weitere, eventuell rechtliche Schritte sind die Entscheidung der Opfer“,
       sagt er.
       
       ## Ansprechpartner:innen wären eine erste Hilfe
       
       Als Verband würden sie Kontakt zu Pädagog:innen und
       Verkehrspsycholog:innen herstellen. Handeln und einen Fahrlehrer
       ausschließen können sie aber erst dann, wenn eine Verurteilung vorliege.
       Bei der Aus- und Weiterbildung versuche man, das Thema sexuelle Belästigung
       anzusprechen und die Fahrlehrer:innen dafür zu sensibilisieren.
       
       Erst seit 2018 ist die Staatsanwaltschaft dazu verpflichtet, Straftaten
       gegen die sexuelle Selbstbestimmung an die zuständige
       Fahrschulerlaubnisbehörde weiterzuleiten. Die kann der verurteilten
       Person dann beispielsweise die Lehrzulassung entziehen. „Vorher wurde der
       Name der Täter nicht weitergegeben, das muss man sich mal vorstellen“, sagt
       Kopp.
       
       Fahrlehrer:innen müssen körperlich, geistig und charakterlich für den
       Beruf geeignet sein und ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen. Doch
       sie als Verband könnten einen Menschen nicht auf potenzielle Straftaten
       durchleuchten, so Kopp.
       
       Emma hätte sich mehr Aufklärung über das Thema sexuelle Belästigung
       gewünscht, als sie die Fahrschule besuchte. Sie wusste damals nicht, an wen
       sie sich wenden konnte, welches Verhalten in Ordnung ist und was zu weit
       geht. Dafür könnten schon Leitfäden für Betroffene und gut ausgebildete
       Ansprechpartner:innen an den Fahrschulen eine erste Hilfe sein.
       Mittlerweile fährt sie gern Auto. „Zu wissen, dass ich allein in diesem
       Auto bin, ohne dass er neben mir sitzt, ist ein befreiendes Gefühl.“
       
       14 Dec 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.vice.com/de/article/43nk8b/wie-junge-frauen-in-deutschen-fahrschulen-belastigt-werden
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Nele Sophie Karsten
       
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