# taz.de -- Rechtswissenschaftler über Impfpflicht: „Mehr Moraldruck ist nicht besser“
       
       > Eine Impfpflicht kommt vielleicht schon im März. Rechtswissenschaftler
       > Hans Michael Heinig ist für eine pragmatische, gut argumentierte
       > Entscheidung.
       
 (IMG) Bild: Impfpflicht? Unmittelbarer Zwang ist keine Option, findet Rechtswissenaschaftler Hans Michael Heinig
       
       taz: Herr Heinig, Anfang 2022 soll der Bundestag über eine allgemeine
       [1][Impfpflicht] gegen Covid-19 abstimmen. Ist die Umsetzung schon Anfang
       März denkbar, so wie Bundeskanzler Olaf Scholz es sich vorstellt? 
       
       Hans Michael Heinig: Wir bräuchten ein klar definiertes Ziel, das wir nicht
       mit anderen Mitteln besser erreichen können. Dann wäre auch schon März
       denkbar. Bis dahin sollten aber noch alle Mobilisierungspotenziale für eine
       auf Freiwilligkeit setzende Impfkampagne genutzt werden. Warum war Bremen
       zum Beispiel [2][erfolgreicher als andere Bundesländer?] Direkte Ansprache,
       Terminvorschläge, mobile Impfteams, gezielt in die Milieus hineingehen, mit
       Leuten, die dort Einfluss haben.
       
       Sie selbst haben im November ein Ultimatum vorgeschlagen: Wenn bis zu einem
       festgelegten Zeitpunkt nicht genug Menschen geimpft wären, würde die
       Impfpflicht greifen. Warum darf sie nur das letzte Mittel sein? 
       
       Sie ist ein nicht unerheblicher Eingriff in die körperliche Unversehrtheit.
       Das Grundgesetz sieht hier hohe Hürden vor.
       
       Aber es gibt doch auch andere Fälle, in denen der Staat in unsere
       körperliche Unversehrtheit eingreift? 
       
       Ja, zum Beispiel bei Blutalkoholkontrollen. Aber niemand muss betrunken
       Auto fahren. Selbst die Masern-Impfpflicht ist einrichtungsbezogen. Wenn
       Eltern sie vermeiden wollen, können sie ihre Kinder nicht in die Kita
       schicken.
       
       Was meinen Sie, wenn Sie von einem klar definierten Ziel sprechen? 
       
       Bisher kamen wir mit der schwammigen Formulierung aus, die Gesundheit und
       den Gesundheitssektor zu schützen. Für eine Impfpflicht braucht es eine
       präzisere Strategie. Wollen wir Menschen vor sich selbst schützen? Das ist
       paternalistisch. Wie wir den eigenen Körper gefährden, ist eine persönliche
       Entscheidung, zum Beispiel bei Risikosport. Die Gefährdung Dritter ist
       dagegen ein legitimer Grund für staatliche Intervention, wie die
       AHA-Regeln. Aber der Schritt von da zur Impfpflicht ist groß. Dass Geimpfte
       immer noch eine Ansteckungsgefahr darstellen können, macht die
       Zweck-Mittel-Relation nicht einfacher.
       
       Was wäre denn ein legitimes Ziel für eine allgemeine Impfpflicht? 
       
       Die Überforderung des Gesundheitssystems, also die harte Triage, zu
       vermeiden. Vielleicht wäre dafür aber auch eine Impfpflicht für vulnerable
       Gruppen ausreichend. Oder für alle Berufsgruppen mit viel
       Publikumskontakten, zum Beispiel Lehrkräfte. Ansonsten schien es bei der
       Delta-Variante noch, als könnten wir uns aus der Pandemie herausimpfen,
       also den Übergang zu einem endemischen Verlauf beschleunigen. Gibt es diese
       Möglichkeit auch noch bei Omicron? Wenn ja, halte ich eine Impfpflicht mit
       diesem Ziel für gut machbar.
       
       Fragen über Omicron können Jurist:innen aber nicht allein beantworten. 
       
       Genau. Mit einer neuen Virusvariante ändern sich möglicherweise auch die
       rechtlichen Umstände. Belastbare epidemologische Prognosen sind auch eine
       Bedingung für eine allgemeine Impfpflicht. Wir sollten das nicht hektisch
       entscheiden. Ich würde mir wünschen, dass wir bis Ende Januar ein
       informiertes Entscheidungsszenario aufbauen. Darin ist eine allgemeine
       Impfpflicht eine von mehreren Optionen. An der Politik irritiert mich, dass
       einige ideologisch bedingt [3][für oder gegen eine Impfpflicht sind, bevor
       alle Fakten auf dem Tisch liegen.] Wir brauchen aber pragmatische
       Politiker:innen.
       
       Wie wäre eine Impfpflicht überhaupt umzusetzen? 
       
       Das ist die Schlüsselfrage. Von bestimmten Bereichen des öffentlichen
       Lebens sind Ungeimpfte ja bereits ausgeschlossen. Es wäre denkbar, das auf
       den Arbeitsplatz auszuweiten. Bußgelder könnten als Sanktion dienen. Oder
       [4][Kostenbeteiligung]. Ungeimpfte, bei denen keine medizinischen Gründe
       gegen eine Impfung sprechen, könnten im Krankheitsfall angemessen an den
       Kosten ihrer Behandlung beteiligt werden.
       
       Bußgelder treffen nicht alle gleich. Reiche könnten sich von der
       Impfpflicht freikaufen. 
       
       So ist das eben in einer Gesellschaft, die mit einer gewissen sozialen
       Ungleichheit zu leben gelernt hat. Zu sagen, wir dürfen etwas deshalb nicht
       sanktionieren, weil der vermögende Regelbrecher besser dasteht, finde ich
       eine eigenartige Vorstellung von Rechtsstaatlichkeit.
       
       Was ist denn mit nicht-finanziellen Sanktionen? 
       
       Welche sollen das sein? Ein unmittelbarer Impfzwang, also die polizeilich
       durchgesetzte Impfung, ist keine politisch gewollte Option. Wobei ich das
       nicht pauschal für verfassungsrechtlich ausgeschlossen halte.
       
       Wird eine Impfpflicht zu noch härteren Protesten führen? 
       
       Empörung ist oft ein Vorfeldphänomen. Wenn die Entscheidung getroffen
       wurde, beruhigen sich die Gemüter manchmal wieder. Ob das hier passiert,
       ist ungewiss. Ich denke aber, dass eine Impfpflicht die Debatte moralisch
       entlasten könnte. Den Ungeimpften wurde oft ein persönlicher Vorwurf wegen
       des Anstiegs der Fallzahlen gemacht. Da ist ja auch etwas dran. Aber man
       muss auf der Hut sein vor hysterischem Eifertum. Die so Angegriffenen
       fragen sich, warum ihnen ein Vorwurf gemacht wird, wenn sie sich im Rahmen
       der Gesetze verhalten.
       
       Aber das Gesetz liegt ja nicht immer moralisch richtig. 
       
       Es hat gute Gründe, dass wir unsere soziale Koordination nicht nur über
       Moral laufen lassen. Sie kann dysfunktional sein. Mehr Moraldruck ist in
       der freiheitlichen Gesellschaftsordnung nicht besser, er verschärft auch
       Konflikte. Der Gesetzgeber agiert aufgrund demokratischer Legitimation.
       Nicht, weil er belegen muss, dass das etwa von Gott gewollt ist, oder einer
       höheren Moral entspricht
       
       Werden sich die harten Impfgegner:innen einer Impfpflicht beugen? 
       
       In diesem Milieu werden ja auch andere Rechtspflichten wie die AHA-Regeln
       ignoriert. Sogar der pandemische Zustand selbst wird geleugnet. Ein Teil
       dieser Menschen ist kaum erreichbar. Vielleicht noch mit der Autorität des
       Rechts. Deshalb ja die Impflichtdebatte. Aber ein gewisses Maß an deviantem
       Verhalten müssen wir auch bei einer Rechtspflicht ertragen, weil wir nicht
       zum Polizeistaat werden wollen.
       
       Gerade aus diesem Milieu klingt es oft, als lebten wir bereits in einem
       Polizeistaat. 
       
       Wenn man sich mit der Geschichte von Staatsgewalt beschäftigt, liegt in
       einer Pandemie schon eine Freiheitsgefahr begründet. Da gibt es eine
       autoritäre Versuchung. Aber der sind wir nicht erlegen. Dass man bei
       Maßnahmen wie einer Impfpflicht sorgsam argumentieren muss, ist aber
       richtig. Dass die Bio-Macht des Staates gesteigert ist, um mal auf Foucault
       zu verweisen, und man deshalb bei Maßnahmen wie einer Impfpflicht sorgsam
       argumentieren muss, ist aber richtig.
       
       29 Dec 2021
       
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