# taz.de -- Historische Zeitungen online: Digitalisiert unsere Vergangenheit
       
       > Im Internet gibt es 24 Millionen historische Zeitungsseiten aus
       > Österreich kostenlos zu lesen. Doch in Deutschland sperrt man sich gegen
       > Transparenz.
       
 (IMG) Bild: Online nicht zu lesen: die Ausgaben des deutschen NSDAP-Parteiorgans „Völkischer Beobachter“
       
       Eine österreichische Zeitung berichtete 1946 über das Gerichtsverfahren
       gegen den Bahnbeamten Adolf Bier: „Bier war ein gehässiger Scharfmacher,
       der Andersgesinnte schlecht behandelte und sekkierte. Als eifriger
       Schürzenjäger verfolgte er die Frauen der Schaffnerinnenschule, die er zu
       überwachen hatte, mit unsittlichen Anträgen.“
       
       Der Blutordensträger Bier war ein österreichischer Nationalsozialist der
       ersten Stunde, dessen sexuelle Eskapaden sogar seinen NS-Vorgesetzen
       zeitweise zu viel wurden. Er war ein kleiner Fisch und niemand würde heute
       noch seinen Fall recherchieren können, wenn es nicht ANNO gäbe.
       
       ANNO (AustriaN Newspapers Online) ist ein digitales Wunderwerk, das es
       möglich macht, kostenlos im Internet 24 Millionen historische
       Zeitungsseiten aus Österreich einzusehen. ANNO ist ein Geschenk für jeden
       geschichtlich Interessierten. Und das Projekt hat Nachahmer. Neben den
       Österreichern machen es uns auch die Briten, Franzosen und Amerikaner
       möglich, ihre alten Zeitungen digital einzusehen.
       
       Nur Deutschland sperrt sich gegen diese Transparenz. Wenn man zum Beispiel
       den Völkischen Beobachter (eine für Historiker doch recht wichtige Zeitung)
       lesen will, muss man sich einen coronakonformen Platz in der Bibliothek
       erkämpfen und dann auf uralte Mikrofilme starren, die selbst 20-jährigen
       Studenten die Augen ruinieren.
       
       ## Bis heute nicht digitalisiert
       
       Nicht nur Nazizeitungen, auch teilweise nazikritische Zeitungen wie die
       Münchner Neuesten Nachrichten sind bis heute nicht digitalisiert. Dabei
       kann man aus den Münchner Neuesten Nachrichten viel über die schmutzigen
       Interna der bayerischen Nationalsozialisten erfahren. Warum also werden
       deutsche Zeitungen der NS-Zeit nicht digitalisiert? [1][Wer soll hier –
       nach 80 Jahren – noch geschützt werden?]
       
       Wenn man sich den Anzeigenteil des Völkischen Beobachters ansieht, kommt
       ein vager Verdacht auf. Hier inserierten lokale Firmen und Gaststätten, die
       bis heute gut florieren. Sie unterstützten die NSDAP schon lange vor der
       Machtergreifung. Man erfährt zum Beispiel, dass die Münchner Modefirma
       Lodenfrey 1930 den nationalsozialistischen Lesern einen Ausverkauf bot und
       dass die Münchner Gast- und Vergnügungsstätte „Platzl“ gegenüber dem
       Hofbräuhaus auf nette NS-Gäste hoffte.
       
       Ein mögliches Argument gegen die Digitalisierung deutscher Zeitungen könnte
       lauten, dass rechtsradikale Kreise davon profitieren würden. Dieses
       Argument wurde schon [2][2016 in einem anderen Fall benutzt. Damals gab das
       Institut für Zeitgeschichte eine kritische Edition von Hitlers „Mein Kampf“
       heraus]. Skeptiker befürchteten, Alt- und Neunazis könnte diese Edition
       ideologische Nahrung geben.
       
       Am Ende war das Gegenteil der Fall. Selbst den überzeugtesten
       Hitlerverehrer werden Zweifel beschleichen, wenn er die Prosa seines Idols
       lesen muss. Auch die wirren Ideen des Völkischen Beobachters zu studieren,
       ist kein Vergnügen. Darüber hinaus gibt es die Ausgaben von 1938 bis 1945
       sowieso schon digital.
       
       ## Wiener Variante des Völkischen Beobachters
       
       Als Hitler 1938 seine Heimat „anschloss“, wurde eine Wiener Variante des
       Völkischen Beobachters publiziert und die wiederum macht uns ANNO zugängig.
       In der ersten Ausgabe am 16. März 1938 wird Wien zur „glücklichsten Stadt
       der Welt“ erklärt, und man erfährt auch gleich, welche Wiener Firmen jetzt
       sofort im Völkischen Beobachter ihre Dienste annoncieren.
       
       Das erklärte Ziel von ANNO ist es, zur „Idee einer Informationsgesellschaft
       für alle und zur Demokratisierung des Wissens“ beizutragen. Vielleicht kann
       man davon auch in Deutschland lernen?
       
       Adolf Bier bestritt übrigens bei seinem Prozess im Januar 1946 alle
       Vorwürfe gegen ihn. Er bekam drei Jahre.
       
       2 Feb 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Karina Urbach
       
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