# taz.de -- Portugal nach der Wahl: Grüße von links unten
       
       > In Portugal haben die Sozialisten die absolute Mehrheit erlangt. Vom
       > linkesten Land Europas müsse dennoch niemand schwärmen.
       
 (IMG) Bild: Lissabon ist Sehnsuchtsort vieler Leute. Auch in der Pandemie
       
       PORTO taz | Vor ein paar Tagen hat eine Redakteurin der taz mich
       kontaktiert und mir gesagt, dass sie mich beneide. Wir kennen uns über
       Facebook, ich fragte sie: „Warum?“ Sie begann zu schwärmen: Portugal sei
       ihr Lieblingsland, nicht nur, weil dort fast immer die Sonne scheine,
       sondern auch, weil „die Leute“ ihr immer so gelassen vorkämen. „Man hört
       nichts von rassistischer Gewalt bei euch, ihr streitet nicht über Corona
       und nun habt ihr auch noch eine topmoderne sozialistische Regierung. Ihr
       lebt im linkesten Land Europas – ein Traum!“, sagte sie und bat mich,
       einmal aufzuschreiben, was das „portugiesische Geheimnis“ sei.
       
       Ich weiß nicht, ob es solch ein Geheimnis gibt. Ich weiß nur, dass ich aus
       den gleichen Widersprüchen bestehe wie mein Land – und dass ich dieses Land
       trotzdem oder gerade deshalb mag. Es ist wie mit einem Kunstwerk: Man kann
       es nur schwer erklären, besser man genießt es einfach.
       
       „Portugals Sozialisten erringen die absolute Mehrheit“, meldeten Anfang
       dieser Woche internationale Medien, [1][auch die taz]. Tatsächlich hat
       unser Premierminister António Costa mit seiner PS, der Partido Socialista,
       nun alle anderen Parteien aus dem Feld geschlagen. Doch ich habe keineswegs
       das Gefühl, in einem „sozialistischen“ Land zu leben. Denn bei der PS
       handelt es sich bloß um eine Variante dessen, was man in Deutschland
       „Sozialdemokratie“ nennt. Während unsere „Sozialdemokraten“ von der Partido
       Social Democrata (PSD) dem konservativ-liberalen Lager zuzurechnen sind.
       
       Die wirklich „linken“ Linken, der Linksblock (BE) und die Kommunisten
       (PCP), haben im Herbst [2][gegen Costas Haushaltspläne gestimmt], sie
       stritten etwa für höhere Löhne und Renten. Jetzt haben jene Kräfte an
       Einfluss verloren, und nicht nur ich bin besorgt, dass unsere sogenannten
       Sozialisten weiter gen Mitte-rechts driften, als sie ihrem Namen nach
       sollten.
       
       Ich komme aus einer Arbeiterfamilie und wuchs mit meiner alleinerziehenden
       Mutter in einer Kleinstadt im Norden des Landes auf. Die portugiesischen
       Verhältnisse sahen exakt einen Weg für mich vor: Ich würde eine öffentliche
       Schule am Stadtrand besuchen, bis zum allgemeinen Abitur, und danach gleich
       arbeiten gehen. So geschah es dann auch. Irgendwie gelang es mir, mit
       verschiedenen Jobs über sechs Jahre so viel zu sparen, dass ich mich doch
       noch an einer Hochschule einschreiben konnte, an unserer ältesten
       Universität in Coimbra.
       
       Dort habe ich Journalismus studiert – etwas, das es in Portugal heute
       eigentlich gar nicht mehr gibt. Es existieren noch Zeitungen, Magazine und
       Sender. Aber wenn ich die mit internationalen Medien vergleiche, stelle ich
       fest, dass der Beruf, von dem ich immer geträumt habe, in meinem Land noch
       schneller gestorben ist als anderswo in Europa. Die Gehälter sind so
       dürftig, dass man kaum davon leben kann. Ich kenne eine Menge gut
       ausgebildeter Leute wie mich, auch viele Lehrer, und die meisten von uns
       rutschen früher oder später in eine moderne Art von Elend: ständige
       Existenzsorgen, dauernde Unsicherheit, trotz aller Anstrengungen.
       
       Die Besten der Besten schaffen es, in anderen Branchen unterzukommen, von
       denen sie etwas angenehmer leben können. Vielleicht gehen sie dafür sogar
       in ein anderes Land. Die Mittelmäßigen und weniger Mutigen bleiben in den
       Redaktionen und Schulen hocken und krebsen dort frustriert herum. Es ist
       klar, wer dabei verliert: die portugiesische Gesellschaft, vor allem die
       nachwachsenden Generationen.
       
       Ich arbeite inzwischen in der Presseabteilung eines Möbelherstellers. Ja,
       ich habe in meinem Büro buchstäblich eine ganze Fabrik unter meinen Füßen.
       Physisch betrachtet stehe ich also eine Stufe über den Arbeitern, aber
       moralisch und sozial bin ich auf demselben Level wie sie. Ich esse mit
       ihnen an denselben Tischen in der Kantine und treffe mich mit ihnen in den
       Pausen, verstehe mich als einer der ihren und habe großen Respekt vor
       ihnen. Mit ihren Händen erschaffen sie Sideboards und Schreibtische, die
       für 5.000 Euro verkauft werden. Keiner von uns könnte sich solch ein Stück
       leisten. Am Ende des Monats habe ich netto knapp tausend Euro in der
       Tasche. Ich möchte nicht, dass mein Gehalt steigt, ohne dass auch die
       niedrigsten Löhne steigen. Aber ich weiß, dass die Mehrheit nicht unbedingt
       so denkt.
       
       ## Die Lebensplanung liegt auf Eis
       
       Ich weiß ganz genau, wo ich herkomme – aber nicht so genau, wo ich hingehe.
       Mit Anfang vierzig sollte ich nun langsam mal anfangen, über Kinder
       nachzudenken. Aber was bedeutet es, Kinder zu haben, wenn man weiß, dass
       die Erziehung und Fürsorge, die man ihnen geben könnte, letztlich weniger
       zählen als der Stallgeruch, den sie brauchen, damit sich ihre beruflichen
       und persönlichen Wünsche erfüllen?
       
       Viele aus meiner und der jüngeren Generation haben ihr Leben bis auf
       Weiteres auf Eis gelegt – wegen der Ungewissheit, was an Risiken und
       Belastungen noch so alles auf sie zukommen mag, vor allem auch wegen der
       massiv steigenden Wohnungspreise, insbesondere in den Städten. Manche
       suchen im Ausland nach besseren Lebensbedingungen. Mitteleuropa und
       Großbritannien sind heute die Hauptziele für IT-Leute, Ingenieure,
       Architekten, Krankenschwestern, Ärztinnen und Ärzte.
       
       Der portugiesische Gesundheitsdienst hat einen guten Ruf, wir können uns
       auf ihn verlassen, weil die dort Beschäftigten auch unter schwersten
       Bedingungen, wie jetzt in der Pandemie, hervorragende Arbeit leisten.
       Manche sagen, die Privatisierung würde die Dinge verbessern, „der Markt“
       werde dann alles regeln, aber ich glaube nicht, dass diejenigen, die in
       Kliniken arbeiten, sich das wünschen.
       
       Im Allgemeinen haben die Portugiesinnen und Portugiesen nämlich eine sehr
       starke Vorstellung vom Gemeinwohl. Sie schaffen es immer wieder, sich für
       kollektive Themen zu interessieren und, wenn es darauf ankommt, als
       Gemeinschaft zusammenzuhalten. Die Impfungen gegen Covid-19 sind ein sehr
       gutes Beispiel dafür: Obwohl es auch bei uns Skeptiker gibt, wurde ihre
       Zahl nie so groß, nie so laut oder gar gewalttätig wie in anderen
       europäischen Ländern. [3][Die große Mehrheit hat die Wichtigkeit der
       Pandemiespielregeln schnell verstanden und akzeptiert.] Das ist ein gutes
       Gefühl.
       
       ## In Portugal ist die Idee vom Gemeinsinn groß
       
       Ein Talent zum kollektiven Gehorsam zeichnet uns Portugiesen aus. Obwohl
       das hart klingt und auch für mich nur schwer zuzugeben ist. Als
       Gesellschaft tun wir letztlich, was uns gesagt wird – jedenfalls wenn es
       nützlich und vernünftig erscheint, um unser Gemeinwohl zu schützen. Das hat
       sehr gute Seiten, siehe die Impfungen. Ähnlich lief es allerdings auch 2011
       in der Eurokrise, als die Finanztroika Portugal eines der schärfsten
       Austeritätsprogramme aufzwang: Wenn es notwendig ist, um uns vor Drohungen
       aus dem Ausland zu schützen, fügen wir uns erst mal und akzeptieren auch
       knallharte Maßnahmen – so wie es unsere damalige konservativ-liberale
       PSD-Regierung wollte. Aber wir akzeptieren solche Regeln nicht für immer.
       Nur solange sie unbedingt nötig sind.
       
       [4][Einige der Sparmaßnahmen sind bis heute zu spüren, es besteht eine
       unterschwellige Angst, dass die Austerität zurückkehrt.] Viele, die zuvor
       radikal linke Parteien gewählt haben, stimmten jetzt für António Costas
       gemäßigte PS, um einen Sieg der Konservativen, Liberalen und noch weiter
       Rechten zu verhindern. Wir nennen das eine „nützliche Abstimmung“, eine
       Vernunftwahl. Andererseits ist unser Regierungschef tatsächlich ziemlich
       beliebt. Seine Regierung hat die [5][Pandemiekrise gut gemeistert,] auch
       mit sozialen Hilfsprogrammen, die auf Ideen von weiter links beruhen.
       
       Vor allem haben viele nun Angst vor den zwölf Abgeordneten, die für die
       Chega ins Parlament eingezogen sind. „Chega“ bedeutet so viel wie: „Jetzt
       sind wir dran!“ Vom Ausland betrachtet, mögen die wie gut organisierte
       Rechtsextreme wirken. Ich halte sie eher für eine Ansammlung von
       Dummköpfen: Sie schwelgen in Nostalgie für eine Zeit, über die sie oft nur
       wenig wissen, unsere Nelkenrevolution gegen das Salazar-Regime liegt ein
       halbes Jahrhundert zurück. Sie sind frustriert von ihren Lebensbedingungen,
       ohne nach den wirklichen Ursachen zu fragen, und äußern sich rassistisch,
       ohne genau zu wissen, welche Gene in ihnen selbst stecken. Die
       portugiesische Gesellschaft ist ja, auch wegen ihrer kolonialen
       Vergangenheit, eine vielfarbige, wenn man das so sagen kann.
       
       Diejenigen, die jetzt plötzlich auf die Chega-Rechte anspringen, sind im
       Wesentlichen neidisch, auf alles und jeden, vor allem auf diejenigen, die
       ein bisschen mehr wissen, die in unseren Schulen etwas besser aufgepasst
       haben. Jetzt, wo sie eine Partei haben, die ihnen mit ihren dumpfen
       Gefühlen eine Stimme zu geben scheint, machen sie eben dort ihr Kreuzchen.
       Auch das ist Demokratie. Aber es ist nicht Portugal.
       
       ## Neo-Snobs halten nicht so viel von sozialer Gerechtigkeit
       
       Viel gefährlicher ist eine ganz andere Kluft: Auch bei uns existiert eine
       Klasse, die meint, dass wir es mit der sozialen Gerechtigkeit nicht
       übertreiben sollten. Sie sind zuletzt wieder lauter geworden. Die
       gefährlichsten Extremisten tragen heute Sneakers und Designersakkos und
       sind meist in Lissabon oder Porto anzutreffen. Portugiesen mit niedrigeren
       Gehältern werden nun machtvoll aus den Städten vertrieben, sie können die
       exorbitanten Mieten nicht mehr bezahlen und bekommen wegen ihrer instabilen
       Einkommen auch kaum noch an Baukredite, auch nicht [6][auf dem Land].
       
       So schön es ist, wenn Leute aus der Ferne von Portugal schwärmen: Viele
       kommen mit falschen romantischen Fantasien vom „einfachen Leben“ hier her,
       als Touristen, oder sie kaufen gleich Immobilien. Ich kenne einige
       Deutsche, die dauerhaft hier bleiben wollen und für die es anfangs
       ernüchternd war. Vor allem mit dem hiesigen Mangel an [7][kulturellem
       Leben] tun sie sich schwer. Es fällt ihnen nicht leicht, die portugiesische
       Lebensweise zu verstehen, die geringe Produktivität, die niedrigen Löhne
       und den bescheidenen Lebensstandard.
       
       Dennoch bleiben sie oder kommen immer wieder. Etwas scheint sie hier doch
       zu faszinieren – so wie es mich fasziniert. Wahrscheinlich dauert es
       mindestens 40 Jahre, um halbwegs zu kapieren, wie dieses Land am linken
       unteren Rand von Europa funktioniert, 40 Jahre, um zu lernen, wie man
       weniger produktiv wird und öfter die Sonne genießt. Und um zu verstehen,
       dass „Sozialismus in Portugal“ nicht unbedingt „Sozialismus“ bedeutet.
       
       Übersetzung Katja Kullmann
       
       5 Feb 2022
       
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