# taz.de -- Nachklang zur Berlinale: Trauriges Steinobst
       
       > Die Berlinale gönnt sich am Wochenende noch Publikumstage. Währenddessen
       > bleibt die Frage, ob der beste Film gewonnen hat.
       
 (IMG) Bild: Szene aus dem Film „Alcarràs“, Gewinner des Goldenen Bären der Berlinale 2022
       
       Erst ist der alte Citroën 2CV weg. Eben noch hatten die Kinder vom
       Bauernhof darin gespielt, wenig später kommt ein Bagger und schafft ihn
       fort. Der Bagger soll aber nicht allein tote Gegenstände wie Autos
       beseitigen. Er ist gekommen, um die Obstbäume der Familie von Quimet
       (baumartig standhaft: Jordi Pujol Dolcet) auszureißen. Das Grundstück, auf
       dem sie stehen, gehört anderen, ein Generationswechsel bei den Eigentümern
       hat neue Begehrlichkeiten geweckt. Jetzt sollen Solarpaneele dorthin, wo
       seit Jahrzehnten Pfirsiche, Nektarinen, Weintrauben und Feigen wachsen. Bis
       zum Herbst, wenn die Ernte eingebracht ist, bleibt Zeit, dann muss die
       Familie weichen.
       
       [1][Der Film „Alcarràs“, mit dem die Regisseurin Carla Simón auf der 72.
       Berlinale den Goldenen Bären gewonnen hat], ist in seiner Geschichte ganz
       gegenwärtig. Menschen mit Grund und Geld ändern die Regeln für die Menschen
       um sie herum, in diesem Fall die kleinen Bauern in Katalonien, die zum Teil
       biologischen Landbau betreiben. Simón konzentriert sich dabei auf die
       einigermaßen unübersichtliche Verwandtschaft Quimets, zu dessen Frau und
       drei Kindern noch Onkel und Tanten und eine Reihe weiterer Kinder kommen.
       
       Die Figuren sind bei ihr ständig in Bewegung, beim Pflücken des Steinobsts
       sind selbst die Jüngsten im Einsatz, die Kamera bleibt dicht bei den
       Gesichtern, bei den Körpern, bei den Früchten, die vom Baum in Eimer und
       dann in Kisten wandern, die mit dem Traktor anschließend zum Großmarkt
       gefahren werden. Kaum kommt mal jemand zum Verschnaufen; wenn nicht
       gearbeitet wird, streitet man beim Essen über die Frage, ob man bleiben und
       Solarpaneele warten soll.
       
       Nur nachts, wenn die Männer zufällig nicht mit dem Jeep unterwegs sind, um
       Karnickel zu schießen, kehren kurze Momente der Ruhe ein, auch für den
       Film. Dessen Mechanik läuft ein bisschen ab wie ein Uhrwerk; ist der
       Startschuss für die Familie einmal gefallen, ist für diese klar, was zu tun
       ist und wie lange.
       
       Das Ensemble, das Simón dirigiert, agiert so geschmeidig wie eine
       Tanzgruppe. Bloß dass es völlig ungekünstelt wirkt, wie eine echte Familie
       eben. Man schaut ihnen gern zu. Die einzelnen Figuren sind nicht unbedingt
       stark gezeichnet, sie spielen ihre Rollen jedoch deutlich genug, dass man
       zumindest den Überblick behält. Simón hat ein klares Vorhaben für ihren
       Film, ein Einzelschicksal stellvertretend für eine größere Entwicklung rund
       um die Welt zu schildern. Der Film folgt dem Plan stringent und ohne
       erzählerischen Zierrat.
       
       Ein bisschen bleibt aber, auch nach der Verleihung der Preise, während die
       Berlinale sich bis Sonntag noch ihre ausgedehnten Publikumstage gönnt, die
       Frage, ob mit „Alcarràs“ der stärkste Film gewonnen hat. Das mag zum einen
       am Fehlen klarer Favoriten im Wettbewerb gelegen haben. Doch gab es
       durchaus Filme, die interessanter, vielschichtiger, raffinierter waren.
       
       ## Das Trauma von Bataclan
       
       „The Novelist’s Film“ [2][des Koreaners Hong Sang-soo] gelang mit nicht
       minder einfachen Mitteln eine komplexere und dichtere Erzählung. Und der
       spanische Filmemacher Isaki Lacuesta ging in „Un año, una noche“ mutig der
       Frage nach, wie jemand den Anschlag auf den Pariser Club Bataclan erlebt
       und das Trauma hinterher verarbeitet. Die Erinnerung des Paars im Zentrum
       seiner Geschichte inszeniert er als so fragil und rissig, dass es bei der
       Kritik zu unterschiedlichen Deutungen über das genaue Schicksal der
       Protagonisten kam. Was ein gutes Zeichen dafür sein könnte, dass der Film
       eine seinem Thema adäquat verwirrende Form gefunden hat.
       
       Vielleicht hat die Entscheidung für „Alcarràs“ auch mit der prononcierten
       politischen Botschaft von Simóns Film zu tun. Zugleich war dies eine
       Entscheidung für die jüngste eingeladene Filmemacherin, wogegen erst recht
       nichts einzuwenden ist.
       
       Dies wohlgemerkt mit knappem Vorsprung vor der indonesischen Regisseurin
       Kamila Andini, die ihren Beitrag „Nana“ im Wettbewerb präsentierte, einen
       Historienfilm über eine Überlebende des Indonesischen
       Unabhängigkeitskriegs, die Mitte der sechziger Jahre, an der Schwelle zur
       Diktatur Suhartos, scheinbar unbeschwert in Jakarta lebt. Ein Film, dessen
       Bilder etwas viel erwartbare Patina haben, dafür mit eigenem Rhythmus und
       dem genau richtigen Maß an Gamelanmusik.
       
       19 Feb 2022
       
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