# taz.de -- Sozialpolitik der FDP: Mitfühlender Liberalismus
       
       > Ria Schröder und Jens Teutrine stehen für eine FDP, die soziale Politik
       > ernst nimmt. Gelingt der Partei ein Imagewandel?
       
 (IMG) Bild: Verspricht, das Aufstiegsversprechen zu erneuern: FDP-Chef Christian Lindner
       
       BIELEFELD/BERLIN taz Am 6. Januar steht Christian Lindner auf der Bühne der
       Stuttgarter Oper und hält seine Rede beim traditionellen Dreikönigstreffen.
       Souverän arbeitet der FDP-Chef politische Themen ab: Corona, Impfpflicht,
       Migration. Seit er Finanzminister ist und Selfies mit den Grünen macht,
       haben seine Reden etwas an Unterhaltungswert verloren. Aber dann wird es
       doch spannend. „Ich glaube, die beste soziale Politik ist nicht die, die
       dann interveniert, wenn Menschen bedürftig geworden sind, sondern die beste
       soziale Politik ist jene, die in die Chancen und Köpfe der Menschen
       investiert“, sagt er.
       
       Seit geraumer Zeit versuchen die Liberalen, das Image der kaltherzigen
       Partei von sich zu streifen. Das entsprechende Branding lautet
       „mitfühlender Liberalismus“. Aber jetzt mit der ersten
       sozial-grün-liberalen Koalition im Bund wird das wichtiger: Die Ampel will
       nicht nur die Klimakrise managen, die Wirtschaft transformieren, die
       Gesellschaftspolitik entstauben, es soll auch eine Sozialreform her, der
       Abschied von Hartz IV. Es gibt schon Zweifel, ob das Sozialdemokraten und
       Grüne alleine gut hinkriegen würden. Schließlich haben sie gemeinsam unter
       Gerhard Schröder die Agenda 2010 eingeführt. Kann es jetzt also sozialer
       werden, wenn auch noch die FDP dabei ist?
       
       Man müsse „angemessen absichern im Falle der Bedürftigkeit“, sagt Lindner,
       aber es solle vor allem wertgeschätzt werden, „wenn Menschen sich aus der
       Situation der Bedürftigkeit aus eigener Anstrengung befreien wollen.“ Für
       die „Starken und Etablierten“ habe die FDP Anerkennung, sagt Lindner, aber
       das Herz der FDP sei bei denen, „die sich erst auf den Weg machen. Die
       Einsteiger, die Aufbrecher, die Außenseiter, die Newcomer, die Start-ups“.
       
       Verglichen mit dem Westerwelle-Sound – Stichwort spätrömische Dekadenz –
       klingt das sanft, nahezu gegensätzlich. Aber ist das so? Christian Lindner
       ist eher dafür bekannt, Immobilienunternehmer in schicken Edelrestaurants
       zu umarmen, als sich für die Belange der kleinen Leute zu interessieren.
       Das Image der FDP, sie mache Klientelpolitik für Reiche, ist nicht ganz
       unbegründet. [1][4,4 Millionen Euro Großspenden] hat sie im Jahr der
       Bundestagswahl 2021 bekommen – so viel wie keine andere Partei.
       
       ## Von der Bronx in den Bundestag
       
       Als Christian Lindner die Partei nach ihrem politischen Trauma 2013
       übernahm, verpasste er ihr neue Farben und ein neues Leitbild. Er versprach
       Digitalisierung, weltbeste Bildung und die Erneuerung des
       Aufstiegsversprechens. Dass in Deutschland „der Zufall der Geburt über den
       Platz entscheidet, den man im Leben einnimmt“, bezeichnet Lindner als
       Gerechtigkeitsskandal.
       
       Genau das beschäftigt auch Jens Teutrine. An einem Dienstagmorgen im
       Februar geht der FDP-Politiker durch Bielefeld-Baumheide und sagt: „Wir
       müssen mehr dafür tun, dass die Sozialleistungen, die wir haben, auch
       wirklich zielgenau ankommen.“ Teutrine ist neu im Bundestag, aber nicht neu
       in der Politik. Als JuLi-Vorsitzender fiel er bereits auf mit Sätzen wie:
       „Die FDP ist keine Bonzenpartei“. Er ist sich sicher, dass auch eine
       Putzfrau von der Politik seiner Partei profitieren würde. Mit aufgespanntem
       Schirm läuft er bei Nieselregen und Kälte durch das Viertel, das als
       sozialer Brennpunkt gilt, aber eigentlich ziemlich durchschnittlich
       aussieht: schön bemalte Häuser mit drei, vier, sechs Stockwerken,
       gelegentlich höher, dazwischen gepflegtes Grün, ein paar Straßen weiter
       Einfamilienhäuser. Viel ist nicht los. Als er an einer Tafel vorbeikommt,
       stehen ein paar Leute an.
       
       „Im Bielefelder Vergleich wachsen hier prozentual mehr Kinder in Armut
       auf“, erklärt Teutrine. „Aber wenn manche über dieses Viertel reden, dann
       klingt das wie die Bronx.“ Er klingt etwas amüsiert, wenn er das sagt. Die
       klassische FDP-Wählerschaft lebt jedenfalls nicht hier. Teutrines eigener
       Wahlkreis ist zwar Herford – Minden-Lübbecke II, er selbst lebt aber in der
       Bielefelder Innenstadt. Baumheide kennt er ganz gut, er hat hier eine Zeit
       lang im Baumarkt gearbeitet und Arbeitsplatten zurechtgesägt. Für ihn sind
       das hier „einfache Verhältnisse“. Teutrine zeigt auf ein mehrstöckiges
       Haus. Ähnlich sei er in seiner frühen Kindheit auch aufgewachsen, nicht
       hier, sondern im ostwestfälischen Rheda-Wiedenbrück, etwas grauer das
       Ganze. Der 28-Jährige weiß nur zu gut, dass vieles im Leben eine Frage der
       Perspektive ist. Und dass eine Projektion vor allem etwas über den
       Projizierenden erzählt.
       
       Er selbst ist das beste Beispiel: Wenn über Jens Teutrine geschrieben wird,
       dann steht meist dabei, wie er aufgewachsen ist: Die alleinerziehende
       Mutter geht putzen, er geht wegen einer Sprachstörung zunächst auf eine
       Förderschule. „Man hat einfach schlecht verstanden, was ich sagen wollte.“
       Er kämpft mit einer Lese- und Rechtschreibschwäche, das gibt sich aber
       wieder. Teutrine macht Abitur, engagiert sich bei den Jungen Liberalen,
       jobbt nebenher, in der Bäckerei, im Callcenter. Er studiert als erster in
       seiner Familie und arbeitet nebenbei als Nachtwache in der Demenzbetreuung,
       im Baumarkt, für einen Bundestagsabgeordneten. Irgendwann landet er selbst
       im Deutschen Bundestag.
       
       Es ist eine Geschichte, die alle gerne hören. Aus der Bronx in den
       Bundestag. Genau genommen von Rheda-Wiedenbrück in den Bundestag. Das
       klingt nicht ganz so gut, aber es ändert nichts am Narrativ. Kind schlägt
       sich unter widrigsten Bedingungen durch und wird erfolgreich, Happy End. Es
       ist der Stoff, aus dem Filme gemacht werden – und mit dem die FDP erzählen
       kann, dass sie es mit dem Aufstiegsversprechen auch ernst meint für die
       eigene Partei. Aber so leicht ist es in der Realität nicht. Der
       Bildungserfolg eines Kindes hängt maßgeblich vom sozialen Status der Eltern
       ab, vom Glück, vom Zufall, das belegen zahlreiche Studien. Kinder von
       Ärzten werden öfter selbst Ärzte, Kinder aus Hartz-IV-Familien eher selten.
       
       Wenn Politiker:innen aus armen Verhältnissen kommen, verspricht das
       nicht zwangsläufig eine bessere Politik für arme Menschen, Ex-Kanzler
       Gerhard Schröder ist das beste Beispiel dafür. Aber Teutrines Biografie
       verleiht ihm eine gewisse Glaubwürdigkeit. „Das Aufstiegsnarrativ
       transportiert schnell Bilder, von oben und unten, schlechter und besser“,
       sagt er. Aber die Realität sei komplizierter. „Wenn ich von
       Aufstiegsversprechen spreche, dann geht es mir nicht um: höher, schneller,
       besser. Nicht jeder muss das dickste Auto haben und eine 70-Stunden-Woche
       ballern.“ Es gehe „um ein Freiheitsversprechen, um mehr Selbstbestimmung.“
       
       Teutrine will für eine gerechtere Gesellschaft kämpfen, mit liberaler
       Politik. Aber liberal und sozial – geht das? Jens Teutrine findet schon,
       auch wenn er das Wort sozialliberal scheut. Es scheint für viele Liberale
       eines dieser Schmuddelwörter zu sein, in dessen Nähe man sich nicht gerückt
       sehen will. Bloß kein „Bindestrich-Liberalismus“, sagen FDP-Politiker:innen
       gerne. „Klingt schnell zu links“, erklärt Teutrine und lacht.
       
       ## Sozial war früher
       
       Nur einmal in der Geschichte der Bundesrepublik haben sich SPD und FDP auf
       Bundesebene in einer sozial-liberalen Koalition zusammengefunden, von 1969
       bis 1982. Die Freiburger Thesen, das Grundsatzprogramm der FDP von 1971,
       strebte einen sozialen Liberalismus an. Es gab ein eigenes Kapitel zur
       Umweltpolitik, sogar eine Reform des Kapitalismus wurde gefordert. Etwa die
       Aufhebung „der Ballung wirtschaftlicher Macht, die aus der Akkumulation
       von Geld und Besitz und der Konzentration des Eigentums an den
       Produktionsmitteln in wenigen Händen folgt.“ Die damalige FDP scheint eine
       andere Partei gewesen zu sein.
       
       Nach dem Bruch mit der SPD legte sich die Partei lange einseitig auf die
       Union fest und schlug einen neoliberalen Kurs ein. Die sozial-liberale Ära
       wirkte eher wie ein Ausrutscher in der Geschichte. Parteigrande Gerhart
       Baum, früher sozialliberaler Innenminister, wird zwar gern ins Fernsehen
       eingeladen, aber in der Partei rollen auch viele mit den Augen, wenn er
       sich kritisch gegenüber der eigenen Partei äußert. Aber kann die
       sozialliberale Linie der FDP in der Ampel wieder auftauen?
       
       Ria Schröder verzichtet lieber auf das Wort sozialliberal, auch wenn ihr
       soziale Themen am Herzen liegen. Liberal, das muss reichen. Genau wie Jens
       Teutrine war sie auch mal Vorsitzende der JuLis und sitzt jetzt im
       Bundestag. Sie ist bildungspolitische Sprecherin ihrer Fraktion. Um über
       soziale Politik zu sprechen, hat Schröder einen Berliner Bolzplatz als
       Treffpunkt vorgeschlagen. „In meiner Kindheit habe ich oft mit meinen drei
       Brüdern zusammen gespielt“, erzählt sie und wirft einen Fußball in die
       Luft. Sie hat gute Erinnerungen daran. Eigentlich wäre sie auch jetzt
       bereit zu kicken, nur ist gerade niemand da.
       
       Etwas verloren steht sie also im wohl bekanntesten Fußballkäfig der
       Hauptstadt. Hier im alten Arbeiterbezirk Berlin-Wedding haben die
       Boateng-Brüder gespielt, als sie noch nicht reich und berühmt waren.
       Schwierige Verhältnisse, zwei wurden Fußballstars, einer Rapper. Ein
       Graffiti ums Eck zeigt die drei riesengroß auf einer Brandmauer mit den
       Worten: Gewachsen auf Beton.
       
       „Beim Fußball ist es egal, mit wem man spielt und wo man herkommt, es kommt
       nicht darauf an, wie viel Geld man hat oder auf welche Schule man geht. Man
       ist einfach da“, sagt Ria Schröder. Ihr gefällt dieser Gedanke. An diesem
       Freitag wirkt der Bolzplatz märchenhaft versunken, der Boden ist noch
       matschig und nass vom Regen, während die Sonne ihn in ein helles Licht
       taucht. „Es ist ein Ort der Gleichheit. Hier zählt, wie gut du Fußball
       spielst, keine anderen Kriterien“, sagt Schröder. Vielleicht ist das eine
       etwas utopische Sicht, man müsste die Boateng-Brüder nur fragen, wie oft
       sie im Spiel rassistisch beleidigt wurden, aber sei es drum.
       
       Ria Schröder weiß, dass in diesem Land nicht alle mit den gleichen
       Möglichkeiten aufwachsen. Dass das Elternhaus, die Herkunft, der
       Kontostand, die Hautfarbe oder eine Behinderung meist mitentscheiden über
       Erfolg und Misserfolg. Eine gerechte Gesellschaft müsse aber „durchlässig“
       sein, jeder müsse „die Chance bekommen, sein Leben selbst in die Hand zu
       nehmen“. Sie möchte daran arbeiten, dass das geht.
       
       „Manche brauchen ein bisschen mehr Unterstützung, weil sie von weiter
       hinten starten. Aber am Ende kann es jeder schaffen, auf eigenen Beinen
       durchs Leben zu laufen.“ Die Bedingungen seien noch nicht da, aber sie will
       sie schaffen mit „chancenorientierter Bildungspolitik“. Die FDP wolle,
       anders als andere Parteien, Menschen nicht klein halten, sondern „ihnen das
       Handwerkszeug mitgeben und dann sagen: Lern fliegen“.
       
       ## Kicken wie die Boatengs
       
       Das Versprechen vom Aufstieg appelliert an die Leistung des Einzelnen, es
       stellt aber nicht das System infrage, es tut so, als könnten in einer
       Gesellschaft alle Gewinner sein. Und so wird Scheitern zum individuellen
       Problem.
       
       Ria Schröder hat aber einen optimistischeren Blick. „Manche haben Angst
       davor, Leute zu überfordern, aber ich sehe das Potenzial in jedem
       Menschen.“ Sie hat auch Ideen, was sich verbessern ließe. „Wir übersehen in
       Deutschland noch viel zu häufig die Talente in den Stadtteilen, die wir als
       benachteiligt bezeichnen, die eigentlich vor allem arm sind. Da müssen wir
       mehr investieren“, findet sie. Für sie ist deshalb klar: „Die besten
       Schulen müssen da sein, wo die Probleme am größten sind.“
       
       Das Startchancenprogramm ist deshalb auch ihre [2][Lieblingsstelle im
       Koalitionsvertrag]: 4.000 allgemein- und berufsbildende Schulen sollen
       besonders gefördert werden, in den Stadtteilen, wo sich die Probleme
       ballen. Im schwarz-gelb regierten NRW gibt es das Modellprojekt
       Talentschulen. Die 2019 beschlossene Bund-Länder-Initiative „Schule macht
       stark“ unter der Großen Koalition verfolgte diesen Ansatz auch schon, aber
       in kleinerem Umfang.
       
       Ria Schröder wuchs selbst in Rheinland-Pfalz auf, ihre Eltern sind keine
       Akademiker, aber sie beschreibt ihr Zuhause als „bildungsnah“. Eigentlich
       wollte Schröder nach der vierten Grundschulklasse auf die Realschule gehen,
       weil sie sich das Gymnasium nicht zutraute, aber ihre Eltern glaubten an
       sie. Die letzten drei Jahre ihrer Schulzeit ging sie auf eine Privatschule.
       Eine gut ausgestattete Schule, mit Roboterwerkstatt, Fotolabor und
       Selbstlernraum, erzählt sie. „So sollte jede Schule sein“, findet sie. Und
       öffentliche Schulen sollten die besten sein. Am Ende studierte sie Jura.
       
       „Wir brauchen mehr Lehrkräfte und Sozialpädagogen, mehr Räume, für
       Gruppenarbeiten, zum Kreativwerden, Entspannen oder damit man auch mal ein
       Kind, das einen schlechten Tag hat, aus der Gruppe rausnehmen und extra
       betreuen kann“, sagt sie.
       
       ## Elternunabhängiges Bafög
       
       Aber ihr liegt auch ein anderes Thema am Herzen: das elternunabhängige
       Bafög. Sie selbst stand beim Bafög-Antrag früher immer kurz vorm
       „Nervenzusammenbruch“. „Ich musste die Einkommen meiner vier Geschwister
       nachweisen, selbst wenn es nur um einen Ferienjob mit 100 Euro ging.“ Beim
       Bafög gingen heute die Freibeträge an der Realität vorbei. Zudem sei es
       [3][kompliziert und bürokratisch] – wenn Eltern getrennt leben oder ein
       Elternteil selbstständig ist.
       
       „Selbstständig sein heißt nicht immer, dass man viel Geld verdient. Hat man
       ein gutes Jahr gehabt, dann kann es sein, dass man aus der Förderung
       rutscht. Im nächsten Jahr kann das aber wieder ganz anders aussehen“, sagt
       sie. Also soll es ihrer Meinung nach Geld für alle geben. Dass dann auch
       die finanziell profitieren, die es gar nicht bräuchten, sieht sie nicht als
       Problem. „Ich stelle mir das wie einen umgekehrten Generationenvertrag vor.
       Bafög ist die Sicherheit, dass man durch die Ausbildung getragen wird,
       damit man danach auf eigenen Beinen stehen kann. Das ist kein
       Gießkannensystem, sondern eine Investition in die Zukunft.“
       
       Der sozialpolitische Ansatz der FDP legt den Fokus auf Arbeit und Aufstieg.
       Das zeigt sich in verschiedenen Vorhaben: Die Partei fordert bessere
       Hinzuverdienstgrenzen in der Grundsicherung und ein höheres Schonvermögen.
       Mini- und Midijobgrenzen sollen an den Mindestlohn gekoppelt werden, damit
       die Minijobber auch mehr Geld in der Tasche haben. Bei letzterem fürchten
       Kritiker:innen, dass das den Niedriglohnsektor zementiert.
       
       Diese Anliegen sollen jetzt in der Ampel umgesetzt werden. Es folgt dem
       Prinzip: Wer sich anstrengt, soll belohnt werden. Aber es ändert wenig am
       großen Ganzen: dass die Vermögen in Deutschland brutal ungleich verteilt
       sind. Aber linke Umverteilungsfantasien wie eine Vermögenssteuer sind der
       FDP ein Graus. Auch für Jens Teutrine.
       
       ## Konfliktthema Steuererhöhungen
       
       In der Bielefelder Innenstadt setzt er sich in ein Café und formt mit
       seinen beiden Händen ein V, indem er die Handballen zusammendrückt: Die
       Schere zwischen Arm und Reich. „Es gibt verschiedene Ansätze, diese Schere
       zu schließen“, sagt er und verringert den Abstand zwischen den Handflächen.
       „Ich kann in der Theorie der einen Seite etwas wegnehmen und es der anderen
       Seite geben. Man kann die Schere aber auch verringern, indem wir kleine
       Einkommen steuerlich entlasten und eine Vermögensbildung für mehr Menschen
       möglich machen.“ Das sei sein Ansatz und unterscheide ihn von „der
       politischen Linken.“ Teutrine redet dann über Neo Broker als
       Gerechtigkeitsprojekt.
       
       Dass „keine größere Reform der Einkommenssteuer“ geplant sei, bezeichnet er
       als „großes Manko der Ampel“. Eigentlich wollten alle drei Parteien
       kleinere und mittlere Einkommen entlasten, doch die FDP sperrt sich
       dagegen, im Gegenzug höhere Einkommen stärker zu besteuern. Teutrine sieht
       schon einen möglichen Kompromiss mit Grünen und SPD: „Der Spitzensteuersatz
       war auch mal höher bei den Einkommen. Ich glaube, das teilen nicht alle
       meiner Parteifreunde, aber da würde sich eine Diskussion in der FDP lohnen
       – ich kann mir vorstellen, dass der Spitzensteuersatz erst später greift,
       aber dann um ein paar Prozentpunkte erhöht wird, wenn im Gegenzug niedrige
       und mittlere Einkommen entlastet werden.“ Diese Diskussion könnte schwierig
       werden. Denn die rote Linie der FDP lautet: keine Steuererhöhungen.
       
       Aber Jens Teutrine, der in seiner Fraktion Sprecher für Bürgergeld ist,
       freut sich über die anstehende Sozialreform. Dass Bürgergeld nur ein neuer
       Name für Hartz IV sei, diese Kritik teilt er nicht. Ein Problem des
       jetzigen Sozialstaats sei, dass die bereitgestellten Gelder überhaupt nicht
       ankämen. Das Bildungs- und Teilhabepaket, mit dem etwa Nachhilfeunterricht
       finanziert werden könnte, sei eigentlich eine „richtig gute Idee“. „Es
       werden aber nicht einmal 30 Prozent der Mittel in Anspruch genommen“,
       kritisiert er. Alles sei viel zu kompliziert und unübersichtlich, dazu
       Bürokratensprache.
       
       Teutrine will, dass Sozialleistungen so einfach abrufbar sind „wie im
       Amazon-Warenkorb“. Die FDP habe das auch schon erarbeitet. „Das Konzept
       nennt sich Kinderchancenportal und ist im Koalitionsvertrag vereinbart,“
       sagt er. Außerdem änderten sich entscheidende Stellschrauben wie die
       Zuverdienstgrenzen.
       
       ## Fleiß soll belohnt werden
       
       Gerade Letzteres sei für Liberale wichtig, damit sich „persönliche
       Anstrengungen und Fleiß lohnen und man sich Stück für Stück rausarbeiten
       kann.“ Wenn mindestens 80 Prozent des Lohns angerechnet werden, sei das
       nicht nur „leistungsfeindlich, das ist gefährlich und setzt sich in den
       Köpfen fest“, kritisiert er. Dass die Anrechnung für Schüler und
       Jugendliche in Bedarfsgemeinschaften künftig ganz entfällt, ist für ihn
       deshalb längst überfällig. „Du willst in einer schwierigen Situation das
       beste draus machen und dann kommt der Staat und sagt: Nein, wenn du das
       machst, machen wir es dir noch mal besonders schwer?“ Teutrine kann darüber
       nur den Kopf schütteln.
       
       Sicher ist er sich aber darin: Die öffentliche Debatte um die Reform von
       Hartz IV wird hitzig, vor allem bei der Frage nach Sanktionsfreiheit und
       der Höhe der Sätze. Zu Letzterem kann er nichts sagen. Er persönlich sieht
       in Mitwirkungspflichten aber eine „Frage der Fairness gegenüber der
       Solidargemeinschaft und gegenüber denjenigen, die mit ihren Steuern das
       Bürgergeld finanzieren“. Das heißt nicht, dass man Menschen unnötig gängeln
       müsse. Auch über die Form der Sanktionen könne man noch diskutieren.
       
       Ob die FDP denn auch etwas für die übrig habe, die es einfach nicht
       schaffen? „Menschen in einer schwierigen Lebenssituation brauchen ein
       Auffangnetz und soziale Teilhabe“, sagt er. „Aber ein Sozialstaat sollte
       Menschen ermuntern, da wieder rauszukommen.“
       
       Eine Revolution im Sozialstaat ist mit der Ampel nicht zu erwarten. Viele
       Vorhaben klingen nach Verbesserung, die Kindergrundsicherung zum Beispiel
       auch. Nur leider ist eine wichtige Frage noch ungeklärt: Über die Höhe des
       künftigen Bürgergeldes ist nichts bekannt – dabei kritisieren
       Sozialverbände seit Jahren, dass die Sätze nicht das Existenzminimum
       abdecken. Wenn das Haushaltsbudget knapp ist – und das ist es – muss der
       Finanzminister irgendwo den Rotstift ansetzen. Dann kann er zeigen, wem das
       Herz der Liberalen gehört.
       
       21 Feb 2022
       
       ## LINKS
       
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